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Prigoschins mutmaßlicher AbsturzKreml-Astrologie hat Hochkonjunktur

Kommentar von Barbara Oertel

Nichts ist klar, alle stochern im Nebel. Dennoch lässt sich eins mit Bestimmtheit sagen: Auf Moskau kann man sich schon lange nicht mehr verlassen.

Gedenkort für Wagner-Chef Prigoschin in St. Petersburg am 25. August Foto: Anton Vaganov/reuters

K reml-Astrolog*innen haben wieder Hochkonjunktur. Im Kalten Krieg waren sie die Spezies Mensch, die die politischen Motive der sowjetischen Machthaber zu ergründen versuchte, um daraus Rückschlüsse auf deren künftige Schachzüge zu ziehen. Das war schon damals keine vergnügungssteuerpflichtige Tätigkeit, heutzutage ist sie das erst recht nicht.

Jüngstes Beispiel, das seit Mitte dieser Woche die Nachrichten beherrscht: der Absturz eines Flugzeugs in der russischen Region Twer, in dem auch der Chef der Söldner-Truppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, gesessen haben soll. Die Bandbreite der Analysen und Bewertungsversuche zeigt: Alle stochern im Nebel. Sie wissen, dass sie fast nichts wissen. Was ist die Ursache für den abrupten Sinkflug, der für alle zehn In­sas­s*in­nen mit einer tödlichen Bruchlandung endete? War Prigoschin tatsächlich an Bord? Dafür sprechen nicht zuletzt die floskelartigen Beileidsbekundungen von Russlands Präsidenten Wladimir Putin, der mit dem Schlächter Prigoschin spätestens seit dessen Meuterei im Juni mindestens eine Rechnung offen hatte. Dass diese jetzt auf Befehl von ganz oben beglichen worden sein könnte – dafür spricht einiges. Die Botschaft lautet: Der Arm des Kreml beziehungsweise der „Organe“ reicht auch noch bis in den Himmel und nicht nur in die Teetasse oder – wie im Fall des vergifteten Alexei Nawalny – gar die Unterhose unliebsamer Kritiker*innen.

Dennoch bleiben viele Fragen offen: Wer profitiert vom Tod Prigoschins? Sind Putin und sein Regime gestärkt? Oder ist die absichtlich herbeigeführte Flugzeugkatastrophe ein weiteres Anzeichen für die fortschreitende Erosion eines Staates, in dem der Verteilungskampf um das Fell des Bären schon längst entbrannt ist?

Last but not least: Was bedeutet Prigoschins Ableben für Wagner? Die Vorstellung, dass Schwerstkriminelle, bewaffnet mit Maschinengewehren und Vorschlaghämmern, unkontrolliert durch Städte und Dörfer marodieren, ist keine erbauliche.

Die Details des „Vorfalls“

Die Chancen, dass viele Details dieses „Vorfalls“ nie ans Tageslicht kommen werden, sind groß. Dieses Vorgehen hat in Putins Russland Methode. Dort sind die Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge fließend, ja ganz aufgehoben. Ziel ist es, nicht nur in der eigenen Bevölkerung Angst und Unsicherheit zu verbreiten, verbunden mit der klaren Ansage: Niemand kann sich seines Lebens sicher sein – nirgends.

Das ist zwar keine neue Erkenntnis, sie scheint aber hin und wieder in Vergessenheit zu geraten. Im Fall der Ukraine hätte das existenzielle Folgen. Denn für Friedensverhandlungen braucht es ein gewisses Maß an Vertrauen, zumindest jedoch Berechenbarkeit. Für beides steht Russland schon lange nicht mehr.

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Ressortleiterin Ausland
Geboren 1964, ist seit 1995 Osteuropa-Redakteurin der taz und seit 2011 eine der beiden Chefs der Auslandsredaktion. Sie hat Slawistik und Politikwissenschaft in Hamburg, Paris und St. Petersburg sowie Medien und interkulturelle Kommunikation in Frankfurt/Oder und Sofia studiert. Sie schreibt hin und wieder für das Journal von amnesty international. Bislang meidet sie Facebook und Twitter und weiß auch warum.
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11 Kommentare

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  • 9G
    94799 (Profil gelöscht)

    Das Fazit des Artikels kann nur einen Schluß zulassen - kämpfen bis zur Niederlage Russlands, alles andere wäre nicht zu verantworten.



    Oder kommt irgendwann eine russische Exilregierung ins Spiel, die dann sofort von EU/USA als einzigste Regierung anerkannt wird, ähnlich wie man es zuletzt in Venezuele versucht hat? Wer durchtrennt den Gordischen Knoten?

  • Also, wenn man so die dokumentierte Menschheitsgeschichte Revue passieren lässt, weiß man oder sollte wissen, dass man sich auf Autokraten, Diktatoren und ähnlich gestrickte Typen ganz ganz sicher nicht verlassen kann.



    Man kann in solchen Fällen nur mit wirklichem Druck was erreichen, dieser muss glaubhaft aufrecht erhalten werden, sonst kapieren die das nicht.



    Wenn ich jetzt die letzten Berichte gesehen habe, z.B. über die Umladung von russischem Öl vor Griechenland und in der Ostsee. Warum zeigt man da nicht Flagge und blockiert und kontrolliert die auf irgendwelche Billigländer ausgeflaggten Seelenverkäufer. Hat man Angst vor Sanktionen durch Regierungen dubioser Kleinstaaten oder meint man die Sanktionen doch nicht so ernst? Kann sein, dass man dubiosen Firmen wie Trafigura (Niederlande, Singapur) die die Deals aus der Schweiz einfädeln, nicht auf den Schlips treten möchte.



    ... da gabs ja schon mal so eine Idee mit der Kavallerie.



    Müssen wir uns Sanktionsverstöße von einem Kleinstaat mitten in Europa einfach so gefallen lassen?

  • "Was ist die Ursache für den abrupten Sinkflug, der für alle zehn In­sas­s*in­nen mit einer tödlichen Bruchlandung endete?"

    Könnte etwas mit der mehrere Kilometer vom Hauptabsturzort entfernt niedergegangenen Tragfläche zu tun haben.

    Auf den Videos sind keine Spuren von Raketen zu sehen, aber ein oder zwei Rauchwolken von Explosionen. Ob es vor dem Absturz ein oder zweimal geknallt hat, dazu gibt es unterschiedliche Berichte von Augenzeug*innen.

    Die (linke) Tragfläche ist am Ansatz ziemlich glatt abgetrennt, aber auf der Unterseite ist die Verkleidung bis auf Höhe des Fahrwerks abgerissen. Das, und das ziemlich senkrechte Flachtrudeln (mit geringer Horizontalgeschwindigkeit) der abstürzenden Maschine deutet auf eine kleine Sprengladung im Bereich zwischen Mitte der linken Tragfläche und Vorderkante des linken Motor hin, die nicht nur die Tragfläche abtrennte, sondern auch die Treibstoffleitungen zerstörte oder sonstwie zum Ausfall mindestens eines Motors führte: weder stürzte die Maschine von Anfang an mit nach unten geneigter Nase, noch bewegte sie sich signifikant horizontal (wie bei en.wikipedia.org/w...rlines_Flight_191), noch brach sie in der Luft weiter auseinander.

    Alternativ könnten auch beide Motoren gleichzeitig ausgefallen und die Tragfläche beim Versuch einen Strömungsabriss zu verhindern abgetrennt worden sein. Ist aber eher unwahrscheinlich: Die Embraer ERJ-Typen sind ausgesprochen robust; in fast 30 Jahren Einsatzgeschichte ist das hier der erste Totalverlust mit Toten (siehe auch en.wikipedia.org/w...A9reos_Flight_1907 - Embraer Legacy 600 gegen Boeing 737)

  • Noch schwach kann ich mich erinnern dass in der Ukraine der Verteidugungsminister oder ein General (kann mich nicht mehr genau erinnern) mit dem Hubschrauber abgestürzt ist.



    Wurde da die Ursache aufgeklärt?

    • @AndreasHofer:

      Es handelte sich um den Innenminister und mehrere seiner Mitarbeiter auf einem Dienstflug. Der Pilot flog in starkem Nebel zu tief und geriet in eine Oberleitung.

  • "... Vertrauen, zumindest jedoch Berechenbarkeit. Für beides steht Russland schon lange nicht mehr." Gab es das in den letzten 23 Jahren jemals und zwar begründet und nicht nur erwartet, erhofft, wird schon werden? Wladimir Wladimirowitsch Putin ist nun mal der KGB.

  • Ich finde das ausgesprochen berechenbar. "Verräter" werden umgebracht. Ende. In der Hinsicht sind alle vor dem richtenden Auge Putins gleich.



    Was das mit Friedensverhandlungen zu tun haben könnte, habe ich nicht verstanden. Misstrauen ist der zweite Name der Diplomatie. Darum gibt es alle möglichen Absicherungs- und Kontrollvereinbarungen, ggf. UN-Truppen bei Verhandlungen. Auf ein Wort hat man sich noch nie und nirgends verlassen. Also sowohl im Westen wie auch im Osten nichts Neues.



    Die Friedensverhandlungen (sprich: herunterstufen des Konflikts auf einen Stand unterhalb der militärischen Ebene) können beginnen. Zum Beispiel Rückzug der russischen Truppen aus der Ukraine, Einsatz von internationalen UN-Truppen mit einem robusten Mandat im Kriegsgebiet. Rückzug der urainischen Truppen aus den betroffenen umkämpften Gebieten. Sicherheitsgarantien für die russischen Minderheiten in der Ukraine. Übergabe der Verwaltung an die UN in den besetzten Gebieten. Abrüstungsverhandlungen mit der Nato. Bis auf weiteres Neutralität der Ukraine.



    Rückführung von Gefangenen und Verschleppten. Rechtliche Aufarbeitung. Das ganze könnte viele Jahre dauern. Der Krieg auch.

  • Das ist dennoch auch hier wieder Astrologie - denn es muss ja nicht mal Putin gewesen sein.



    Aber klar - zu trauen ist dem natürlich gar nicht.

  • Deutschland sollte seine Russlandpolitik an den baltischen Staaten ausrichten, die haben Russland von Anfang an richtig eingeschätzt. In der Verteidigungspolitik sollte man sich an Polen orientieren.

  • Zur Einordnung des Regimes von Putin bedarf es keiner Erklärung für den Flugzeugabsturz. Es ist so oder so kriminell und mafiös.

  • Aus Russland kommen seit 23 Jahren nur Lügen. P war Vielflieger. Jahrelang passierte nichts. Auf einmal stürzt er ab, mit der gesamten Führung von Wagner. Nachdem er im Kreml in Ungnade fiel. Zufall? Sicher nicht.