Politische Bilanz der WM: Australien ist doch nicht Katar
Auf eine kritische Betrachtung der Gastgeberstaaten wurde bei der WM völlig verzichtet. Wer zum Westen gehört, wird nicht mit Fragen behelligt.
Es hat den deutschen Sportjournalist:innen wohl sehr gut gefallen. Über den WM-Gastgeberstaat Australien (Neuseeland vergaßen beim Turnier ja alle recht schnell) fanden sie nur warme Worte. Die freundliche Stimmung, das Flair der Städte, das Streicheln der Koalas. Nach der Männer-WM in Katar atmete man bei Australien auf: Hier gehe es um „Equal Pay statt Menschenrechte“, untertitelte etwa nd beglückt. In puncto Menschenrechte gab es bei Australien keinerlei Bedenken. „Fragwürdige Austragungsorte“ mit „zweifelhafter Menschenrechtsbilanz“ sind immer nur Staaten außerhalb der sogenannten westlichen Welt.
Diese Blindheit hat, kurz gesagt, zwei Gründe. In politisch als nah empfundenen Staaten schaut man nicht so genau hin. Und: Die Faktoren, die wir betonen, sind vorwiegend die, bei denen reiche „westliche“ Staaten gut abschneiden. Mehrparteiendemokratie, Pressefreiheit, Arbeitsschutz, LGBT-Rechte oder Frauenrechte.
Kriterien, bei denen prekäre Staaten auch deswegen schlecht abschneiden, weil aufgrund von Ausbeutung durch reiche Länder und lokale Eliten die stabile Mittelschicht fehlt, um solche zivilen Rechte zu erkämpfen. Verbrechen dagegen, denen sich vor allem reiche Staaten schuldig machen – Ausbeutung fremder Bodenschätze und Menschen in den Lieferketten, Einwanderungsverbote und Misshandlung Schutzsuchender, gezielte Destabilisierung von Staaten und Militäreingriffe, massiver Reichtum und Ungleichheit, Klimaerhitzung, Massentierhaltung, Zerstörung der Biodiversität – finden um eine WM kaum statt.
Dabei gab es auch vor der WM 2023 viele Chancen, den Austragungsstaat kritisch zu reflektieren, zu hinterfragen, unter Druck zu setzen. Worüber wir hätten reden müssen: Im Juni 2023 wurde der vorerst letzte Geflüchtete aus Nauru evakuiert.
Kritischen Journalist:innen wird die Einreise verweigert
Der Inselstaat Nauru ist eine Art australischer Klientelstaat, wo zuletzt von 2012 bis 2023 übers Meer geflüchtete Menschen gegen UN-Recht ohne zeitliche Begrenzung unter menschenfeindlichen Bedingungen inhaftiert waren. Laut Guardian starben in dieser Zeit mindestens 14 Menschen, ermordet durch Wachpersonal, gestorben durch medizinische Vernachlässigung oder Suizid; im Rahmen der 2016 geleakten Nauru-Files kamen massive Gewalt und sexualisierte Gewalt ans Licht.
Kritischen Journalist:innen werde, so der Guardian, die Einreise verweigert. Australien hat eine der brutalsten Anti-Migrations-Politiken der Welt inklusive Haft für all jene, die verdächtigt werden, „illegal“ gekommen zu sein. Trotz Protesten von Menschenrechtsorganisationen will der Staat weiter das sogenannte „offshore processing“ betreiben. In Papua-Neuguinea werden weiter Geflüchtete auf unbestimmte Zeit festgehalten.
Ebenfalls 2023 protestierten NGOs massiv gegen das australische Gefängnissystem: Ein 13-jähriger indigener Junge soll wegen eines eher geringen Vergehens 45 Tage in Einzelhaft gehalten worden sein. Solche Misshandlungen sind kein Einzelfall. Schon 10-jährige Kinder sind in Australien strafmündig.
Laut Amnesty International waren unter den Kindern unter 14 Jahren, die zwischen 2017 und 2021 inhaftiert waren, 65 Prozent indigene Kinder – obwohl Indigene nur vier Prozent der australischen Bevölkerung stellen. UN-Vertreter:innen wurde im Vorjahr der Zugang zu einigen Haftanstalten verweigert. Etwa 13 Prozent aller Australier:innen leben unter der Armutsgrenze, bei Indigenen sind es rund 31 Prozent.
Australien gehört zu den zehn reichsten Ländern der Welt. Von einem reichen Staat ohne Fußballtradition, der sich ein Turnier holt, war aber nicht die Rede, anders als bei Katar. Der Reichtum ist innerhalb Australiens dramatisch ungleich verteilt: Das Land hat die fünfthöchste Zahl von Ultrareichen weltweit, also Menschen, die über 500 Millionen US-Dollar besitzen.
Anforderungen an Journalismus
Australien verursacht hinter einigen arabischen Ölstaaten die höchsten Pro-Kopf-CO2-Emissionen der Welt. Das liegt unter anderem an der dreckigen Kohleindustrie – Australien ist weltweiter Kohleexporteur Nummer eins. Die wird extrem protegiert, auch durch Klimalügen. Laut Human Rights Watch werden friedliche Klimablockaden seit 2022 mit drakonischen Strafen von bis zu 2 Jahren Gefängnis und fünfstelligen Geldstrafen bedroht.
Die Chance, diese Themen zu setzen, wurde vergeben. Es geht dabei nicht um einen schiefen Vergleich von Austragungsstaaten. Aber wer Weltturniere kritisch begleiten will, muss objektiver, tiefgründiger, weniger naiv sowohl über die Situation vor Ort als auch über die Wirkung eines Staates in der Welt sprechen. Und sich von der alten imperialistischen Diktion lösen, die zwischen freien Staaten und Schurkenstaaten unterscheidet.
Wir müssen vor jedem Turnier den Ausgebeuteten und der Zerstörung Sichtbarkeit geben, und das ohne zugleich Nordkorea und Kanada achselzuckend für gleich mies zu erklären. Es ist dabei wichtig, wegzukommen vom ständigen Fokus auf den Nationalstaat. Und hin zu mehr Fokus auf das Ausbeutungssystem, das uns alle verbindet und nach dessen Regeln Nationalstaaten agieren. Wenn echter Druck entstehen soll, brauchen Proteste Vorlauf – und einen konzentrierten Fokus auf ein oder zwei wichtige Themen. Es ließe sich schon mal anfangen. In Deutschland soll ja demnächst eine EM anstehen.
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