Erforschung von Höhlen: Zwei Wochen unter der Erde
Enge Räume, Dunkelheit und Spinnen machen Špela Borko nichts aus. Die 32-jährige Biologin klettert in Höhlen hinab, um die dortige Fauna zu entdecken.
Das Schwarz einer Höhle ist anders als das Schwarz eines Computerbildschirms. Es ist kein Schwarz, das signalisiert, dass hier nichts ist, sondern ein tiefes Schwarz, in dem ein bisschen Unendlichkeit steckt.
Mit Schwarz verbindet Špela Borko Freiheit. Die 32-jährige Slowenin hat braun-rötliches Haar und die sehnig-muskulöse Statur einer Sportlerin. Sie erforscht Höhlen, etwa sechzig Mal pro Jahr steigt sie dafür in die Tiefe. Meist nur wenige Stunden und zu Forschungszwecken, doch wenn sie ganze Höhlensysteme erkundet, also einen weißen schwarzen Fleck auf der Landkarte kartiert, dann bleibt sie tagelang im Unterirdischen. In Mexiko steckte die Höhlenbiologin einmal für zwei Wochen am Stück unter der Erde, so tief, dass sie und ihr Team mehrere Tage zurück an die Oberfläche kletterten.
Die wissenschaftliche Erforschung von Höhlen nennt sich Speläologie. Speläolog*innen untersuchen weit mehr als nur herabhängende und emporwachsende Tropfsteine, die über viele Tausende von Jahren wachsen. In Höhlen befinden sich geologische, archäologische und biologische Informationen, die an der Oberfläche längst verloren gegangen sind.
Anhand dieses Archivs lässt sich rekonstruieren, wie sich Landschaften und Klimazonen im Laufe der Jahrtausende verändert haben. Dafür erschließen Speläolog*innen bis dato unbekannte Lebensräume. Sie entdecken neue Flüsse und Wasserbecken, die oberirdisch kilometerweit entfernt plötzlich wieder auftauchen.
An einem Tag im Juni bereitet Borko eine Gruppe Biolog*innen, die sonst nur oberirdisch forschen, auf eine Expedition vor. Sie stehen in dem haushohen Eingang der Vranjača-Höhle im Süden von Bosnien. Mit über 818 Metern Länge und 34 Metern Tiefe ist die Höhle kartiert, trotzdem gibt es noch viele Fragezeichen – unangetastete Nebenarme oder Passagen, die noch kein Mensch betreten hat. Die Höhle ist Teil einer Karstlandschaft, in der Wasser überwiegend unterirdisch fließt.
Plötzlich sitzt die Gruppe in absoluter Dunkelheit
Die Biolog*innen setzen sich Schutzhelme mit Stirnlampen auf und überprüfen, ob die Lampe einen Lichtkegel an die gegenüberliegende Höhlenwand wirft. Dann ziehen sie sich Arbeitshandschuhe über die Hände. Einige Expediteur:innen haben keine wetterfeste Kleidung mitgebracht. Sie schlüpfen in einen roten Jumpsuit und sehen nun aus wie Borko.
Nur ihre Bewegungen unterscheiden sie noch von der Höhlenbiologin: Borko bewegt sich selbstsicher, schaut die Gruppe beim Reden an, die anderen schauen beim Laufen auf ihre Füße. Sie sagt: „Wenn sich jemand unwohl oder unsicher fühlt, sagen Sie es mir bitte. Aber ich denke, Sie sind alle gute Feldforscher*innen.“
Nach einer Viertelstunde kraxeln über Geröll und Gestein setzt sich die Gruppe im Kreis auf den Höhlenboden. „Jetzt schalten wir das Licht für eine halbe Minute aus“, sagt Borko. Nervöses Gemurmel, dann kehrt Ruhe ein. Alle drehen das Rad ihrer Stirnlampe nach unten. Das Licht erlischt und die Gruppe sitzt in absoluter Dunkelheit. Es riecht muffig, nach Wäsche, die zu lange in der Waschmaschine gesteckt hat. Borko sagt: „Spürt, wie es ist, ein unterirdisches Tier in kompletter Dunkelheit zu sein.“
Sich vorzustellen, ein unterirdisches Tier zu sein, bedarf viel Fantasie. Die millimetergroßen, wirbellosen Kleinstlebewesen sehen uns Menschen nicht ähnlich. Borko fällt das vielleicht leichter, sie erforscht die Tiere seit vielen Jahren, schrieb ihre Doktorarbeit über Niphargus, Höhlenflohkrebse der Gattung Amphipoda. Diese haben etwas Urzeitliches an sich, würden Höhlenflohkrebse nicht krabbeln, hielte man sie für Fossilien. Sie haben keine Augen und sind fast so transparent wie Quallen. „Wenn es kein Licht gibt, braucht es auch keine Augen“, sagt Borko.
Fasziniert ist die Forscherin vor allem von der Langlebigkeit der Höhlenbewohner. „Manche Tiergruppen leben unter der Erde Dutzende von Jahren, während Artverwandte an der Oberfläche nur ein oder zwei Jahre überleben“, sagt sie ins Dunkel hinein. Manche Arten von Niphargus überleben bis zu 200 Tage ohne Nahrung.
Eine Expedition erfordert sorgfältige Vorbereitung
Nach dem Gedankenspiel klettert die Gruppe weiter, immer tiefer in die Höhle hinein. Die Stirnlampen beleuchten sandige Steinwände, Spinnen huschen davon, wenn der Lichtkegel auf sie fällt. Der Boden ist feucht und matschig wie ein zerquetschtes Snickers. An einer besonders schmalen Stelle müssen die Forscher*innen auf dem Bauch einen Kieshügel hinaufrobben. Darüber die Decke mit nur knapp 30 Zentimetern Abstand, Stück für Stück zwängen sich die behelmten Köpfe durch. „Wenn man kriecht, kann man an sehr engen Stellen den eigenen Herzschlag hören“, sagt Borko.
Eine*r nach der*m anderen wagt sich durch den Engpass. Zwischen zwei Kletternden wird geduldig gewartet, damit die Kieselsteine der nächsten Person nicht ins Gesicht purzeln. Auf der anderen Seite angekommen, atmet jede*r hörbar aus. Ein unterirdischer Raum breitet sich aus, ungefähr so groß wie ein Einfamilienhaus. Wie viel Zeit am Engpass vergeht, bis alle ihre Klaustrophobie überwunden haben, kann niemand sagen.
Zeit, das sei so eine Sache in Höhlen, sagt Borko. „Es gibt keinen Biorhythmus unter der Erde.“ Bei mehrtägigen Expeditionen stellen sich die Forscher*innen deshalb einen Wecker. Der strukturiert und biorhythmisiert ihre Zeit in 12 Stunden Arbeit, 12 Stunden Schlaf, erzählt sie. Ohne Wecker würden sie 15 bis 20 Stunden durcharbeiten.
So eine Expedition erfordert eine sorgfältige Vorbereitung. Genügend Essen für eine Woche, aber auch nicht zu viel, denn alles muss getragen werden. Dazu kommt das Gewicht von Bohrern, Vermessungsgeräten, Batterien, Kletterausrüstung und warmen Schlafsäcken. Manchmal muss immerhin das Wasser nicht getragen werden, wenn es eine Quelle gibt. Borkos Team spart außerdem Gewicht ein, indem alle nur die Klamotten mitbringen, die sie am Leib tragen. „Das Einzige, was ich nach ein paar Tagen rieche, sind meine Kolleg*innen“, sagt sie mit einem Lächeln.
Wenn Borko an ihre erste Expedition in eine vertikale Höhle zurückdenkt, erinnert sie sich an die Angst am Seil: „Ich hing in der Luft, 30 Meter über dem Boden, mitten in der großen Kammer, ohne Wände drumherum, völlig hysterisch, und die Ausbilder dachten, sie müssten mich vom Seil befreien“, sagt sie. „Als ich es schließlich schaffte, mich zusammenzureißen und hochzuklettern, dachten sie, ich würde nie wieder in den Kurs zurückkehren.“ Damals stellte sie sich ihrer Angst und kehrte zurück. Heute rät sie anderen dasselbe.
Astronaut*innen trainieren in Höhlen
Als gefährlich empfindet die Höhlenbiologin ihren Beruf nicht. Nur einmal geriet sie mit ihrem Team in eine brenzlige Situation. Die letzten zwei der Gruppe kletterten gerade eine vertikale Wand hoch, als es immer lauter rauschte. Innerhalb von einer Minute wurde das Rauschen zum Tosen, dann verstand Borko ihr eigenes Wort nicht mehr. Plötzlich schoss ein Wasserfall die Wand hinunter. Der unterste, ein erfahrener Kollege, kletterte in Windeseile die letzten Meter zum zweiten Kollegen hinauf und brachte beide in Sicherheit.
Nach dem Engpass bestaunt die Gruppe den Raum tief unter der Erde. Ein Fotograf spielt erfolglos mit der Belichtung, die Biolog*innen suchen nach Tausendfüßlern und Höhlenflohkrebsen. Borko steht ein wenig abseits und sagt: „Es ist wie auf dem Mond. Tatsächlich trainieren Astronaut*innen in Höhlen.“
Hier, etwa 30 Meter unter der Erde, spricht Borko nun über den Aufstieg. Sie spricht von ober- und unterirdisch wie von zwei Gegenteilen: Unten sei Stille, Frieden, Fokus – Simplizität. Oben warteten Ablenkung, Lautstärke, Aufgaben – Komplexität.
Oben und unten stehen auch in Beziehung zueinander. Durch die unterirdischen Erkenntnisse – neuentdeckte Flüsse, Arten, Mineralablagerungen – können Speläolog*innen die oberirdischen Landschaften verstehen, sowohl die gegenwärtigen als auch die vergangenen.
Beim Aufstieg ist Borko euphorisch: „Das Erste, was ich bemerke, ist der Geruch, nicht das Licht. Ich gehe nach draußen und rieche Gras, Schmutz, Wasser, Ozon. Es ist, als würden meine Sinne sich wieder füllen.“
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