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Eine neue Verkehrspolitik ist nötigHamburg braucht Tempo 30

Friederike Gräff
Kommentar von Friederike Gräff

In Hamburg erstickt die Debatte um Tempo 30 im alten Mantra von Hafen und Infrastruktur. Es ist höchste Zeit, die Stadt daraus zu befreien.

Könnte man ja wenigstens mal ausprobieren: Tempo 30 auch auf Hamburgs Straßen Foto: Markus Klümper/dpa

K ürzlich war ich in Lychen, Brandenburg, und erkannte, dass Reisen tatsächlich bildet. Man sieht Unvertrautes und betrachtet das Eigene mit neuen Augen. Ich sah, dass es auf Erden möglich ist, in einer deutschen Kommune Tempo 30 nahezu flächendeckend einzurichten; ich betrachte das nahezu flächendeckende Tempo 50 in Hamburg mit neuem Befremden.

Das Befremden muss man sich warm halten, denn dieser Zustand wird inzwischen als gottgegeben hingenommen. Selbst der Allgemeine deutsche Fahrradclub (ADFC) in Hamburg hat resigniert. Die Debatte um ein flächendeckendes Tempo 30 sei tot, sagt Dirk Lau, der ADFC-Sprecher, und klingt dabei so, als sei seine Wut darüber auch schon fast tot.

Tatsächlich muss man nicht mal bis Lychen reisen, um zu erleben, wie es ist, wenn der Autoverkehr langsamer rollt, man kann es auch in Buxtehude oder Lauenburg erfahren. Für alle, die es noch nicht kennen: Die Fuß­gän­ge­r:in­nen und Rad­fah­re­r:in­nen machen sich nicht länger passend für den Autoverkehr, sie sind nicht länger Dauer-Flüchtende und Dauer-Ausweichende; der Autoverkehr macht eine kleine Konzession an die übrige Verkehrswelt.

Es wirkt unglaublich naheliegend. Es ist unglaublich fernliegend in einer Stadt wie Hamburg, die ihre Mantren gleichförmig wiederholt, „der Hafen, die Infrastruktur“ lauten sie und bedeuten, keine Handbreit zurückzuweichen für etwas, das kein Auto oder LKW ist, es sei denn an Orten, die man für bedeutungslos hält.

Der Hamburger ADFC hatte vor ein paar Jahren eine Kampagne für Tempo 30 gestartet und außer Verbitterung wenig gewonnen. Da ist einerseits die Straßenverkehrsordnung, hinter der man sich verstecken kann, wenn man denn will. Darin heißt es, dass Tempo 50 Regel ist und Tempo 30 die Ausnahme, die begründet werden muss.

Die Debatte ist nicht rational

Natürlich könnte Hamburgs grüner Verkehrswendesenator eine Bundesrats­initiative starten mit dem Ziel, genau diese Logik umzudrehen in Richtung: Tempo 30 ist die Regel, Tempo 50 die Ausnahme. Natürlich könnte er sich dem Städtebündnis anschließen, das genau das fordert. Aber, auch das ist inzwischen ein Mantra in der Debatte, was will man tun in einer Koalition, in der man der SPD selbst das Rückfahren von Tempo 60 auf 50 abringen muss? Man sucht sich Schlachten, die man vielleicht gewinnt.

Aber was ist mit denen, die weiter auf dem Schlachtfeld leben müssen, die ausbaden müssen, dass nicht einmal die wenigen Chancen genutzt werden. Schon jetzt gilt: Dort, wo soziale Einrichtungen sind, also etwa Schulen, Altenheime, Kitas, soll im unmittelbaren Bereich regulär Tempo 30 gelten. Soll. Denn in Hamburg, so sagt Dirk Lau vom ADFC, werde das immer wieder ausgehebelt. Mag ja sein, so heißt es dann aus der Behörde, dass dort alte Menschen oder kleine Kinder die Straße überqueren müssen, aber wenn sie mehrspurig ist, könnte ihre Leistungsfähigkeit durch Tempo 30 eingeschränkt werden.

Die Abwägung ist klar und das Ergebnis bitter: Vorrang hat nicht der Schutz der Menschen, Vorrang hat das Tempo. Dass es längst Studien gibt, die belegen, dass der Verkehrsfluss durch Tempo 30 verbessert wird – geschenkt.

Die Debatte ist nicht rational. Sie muss es auch nicht sein, solange die alten Glaubenssätze ziehen. „Die Wirtschaft, systemrelevant, Arbeitsplätze“, es klingeln einem die Ohren, sodass man gar nicht mehr nachfragt, ob in einem Verkehrsversuch herausgefunden werden könnte, ob der Hafen unter Tempo 30 zusammenbricht. Stattdessen wird eine Stadt in Geiselhaft für eine unbelegte Behauptung genommen.

Dass man die Schwächeren dazu zwingt, sich für das System der anderen passend zu machen, ist gute alte Sitte, die Liste der Beispiele lang: Tiere sind Dinge, Ar­beit­neh­me­r:in­nen passen sich den Interessen der Ar­beit­ge­be­r:in­nen an. Aber die gute alte Sitte hat an manchen Stellen Risse bekommen. Die Debatte um Tempo 30 ist tot. Lang lebe Tempo 30!

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Friederike Gräff
Redakteurin taz nord
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7 Kommentare

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  • @DEEP SOUTH

    Mag mensch ja so sehen [1]. Nur, dass die Starrsinnigkeit der Auto-Lobby auch noch mörderisch ist.

    Übersieht mensch möglicherweise.

    [1] muss aber nicht.

  • Weiß nicht wie das in Hamburg ist aber anderenorts will man mit Tempo 30 den Busverkehr gegenüber dem Auto attraktiver machen.



    Aber der Busverkehr ist abgesehen von Fahrten ins Zentrum so oberaffengrottenschlect dass selbst mit Tempo 10 das Auto attraktiver ist.

    Und das ist das e'liche Problem

  • "Die Debatte ist nicht rational"

    Ja. Ganz genau. Weil jeder in der Debatte nur die Argumente gelten lässt, die dem eigenen Standpunkt dienen.

    "Es wirkt unglaublich naheliegend."

    Eben nicht. Lychen hat ganze 3600 Einwohner. Hamburg ist eine Millionenstadt. Der Vergleich ist daher einfach nnur konstruiert.

    Dass es mehr Tempo 30 Bereiche, verkehrsberuhhigte oder gar autofreie Zonen geben sollte, vor allem in Wohngebieten und zentralen Innstadtbereichen ist ja absolut richtig. Aber "flächendeckendes Tempo 30" ist genauso wenig rational, wie die Starrsinnigkeit der Auto-Lobby.

    • @Deep South:

      Eben doch. ;-) Es ist womöglich eine Frage der Perspektive. Aus Nicht/Selten-Autonutzer*innensicht macht das wohl Sinn - verkehrsberuhigte Orte als Inspiration ...



      "Hamburg ist eine Millionenstadt." - Von hohen Geschwindigkeiten und ihren negativen Folgen sind also viel mehr Menschen als in Lychen betroffen. Die Einwohner*innendichte ist hoch. Anhand ÖPNV und Fahrrad/Handbike/E-Rolli könnten die meisten Mobilitätsbedarfe abgedeckt werden. Mit diesen käme mensch schnell in andere Stadtteile. Übrigens - das Wort "nahezu" dem "flächendeckende Tempo 30" vorangestellt haben Sie auch gelesen?

      • @Uranus:

        Gut, okay, die hohe Einwohnerdichte von Lychen ist natürlich ein schlagendes Argument. Google sacht dazu: Lychen: 28 Einwohner je km2; Hamburg: 2.455 Einwohner je km².

        Und dann nehmen wir auch mal die Nahverkehrstaktung von Lychen und projezieren sie auf Hamburg. Wer muss schon nach 20.00 Uhr noch Busfahren? Oder die Pendlerzahlen. Oder den Lieferverkehr. Alles auf einem Level. Nahezu....

  • Guter und wichtiger Artikel. Der ADFC sollte wie die Letzte Generation mit Straßenklebeaktionen für ein Tempolimit (30) kämpfen. Mit fröhlichen Fahrraddemos lässt sich die CSU des Nordens , die SPD, nicht umstimmen.



    Tempo 30 tut der gesamten Volkswirtschaft und allen Bewohnern der Stadt gut. Dem Klimaschutz auch.

  • 30km/h auf der Elbchaussee?! Dann klingeln die Radsportler genervt hinter den Cabriolets. Oh jeh, was Schmach. Und dann zieht auch noch die Fähre nach Finkenwerder an den Prachtmobilen vorbei. Aber wozu hat man sie dann? Schon träumt der Visionär von Ringstraßen und Stadtautobahnen. Warum ist Hamburg kein L.A. oder Melbourne? So vieles ist falsch mit dieser Welt...