piwik no script img

Tritt nicht gerne zur Seite: Roland Stimpel, Vorsitzender von FUSS e.V. in Berlin Foto: Kathrin Harms

Lobbyarbeit für den FußverkehrEin Mann für die Straße

Roland Stimpel kämpft mit seinem Verein FUSS e. V. für die Rechte von Fußgänger*innen. Ein Spaziergang mit Hindernissen in Berlin-Mitte.

Steve Przybilla
Von Steve Przybilla aus Berlin

N ein, nein, ein „Wutgänger“ sei er nicht, das ist Roland Stimpel wichtig. Aber als ein Vater mit Kinderwagen wegen eines quer parkenden Fahrrads auf die Straße ausweichen muss, bricht es dann doch aus ihm heraus: „Berlin-Mitte ist ein failed state! Die Behörden haben hier vollständig kapituliert.“ Fast nirgendwo in Deutschland könne man auf dem Bürgersteig sicher von A nach B kommen, schimpft Stimpel. Schon gar nicht in Berlin.

Die harschen Worte kommen von einem Mann, der sich vorgenommen hat, auf Deutschlands am meisten vernachlässigtes Verkehrsmittel hinzuweisen: das Zu-Fuß-Gehen. Roland Stimpel, 65 Jahre alt, ist Vorstandsmitglied im Verein FUSS e. V. Während die meisten Deutschen den Autoklub ADAC und viele Großstädter den Fahrradverband ADFC kennen, fristet die offizielle Fußgängerlobby hierzulande eher ein Schattendasein.

Doch es gibt sie. Stimpel, ein bedachter Mann mit grauem Lockenkopf und langem Wollmantel, repräsentiert den rund 1.000 Mitglieder starken Verein. Dessen Ziel ist eine Politik, die nicht bei Schnellradwegen und Busspuren endet, sondern das alltäglichste aller Verkehrsmittel in den Blick nimmt: die menschlichen Füße.

„Das Problem fängt direkt vor der Haustür an“, sagt Stimpel, während er die Planckstraße, eine kurze Parallele zur ungleich bekannteren Friedrichstraße, in Berlin-Mitte entlangschlendert. Die Luft ist kalt an diesem Morgen, von der Spree weht eine feuchte Brise herüber. Während eines kleinen Spaziergangs – etwas mehr als einen Kilometer lang – möchte der Fußlobbyist demonstrieren, was auf bundesdeutschen Bürgersteigen im Argen liegt. Aus seiner Sicht, so viel sei schon mal gesagt: fast alles.

Wenige Meter weit erst ist Stimpel gekommen, da wölbt sich auch schon das Kopfsteinpflaster. Ein Rohr ragt aus dem Boden, daneben ein Wald aus provisorischen Verkehrsschildern und ein Zebrastreifen, der vor einem Baucontainer endet. „Die Fahrbahn ist immer heilig“, sagt Stimpel, „aber der Gehweg verkommt zur Resterampe.“ Er spricht in einem ruhigen Ton, aber anhand seiner Wortwahl merkt man, wie es in ihm brodelt. Der Zebrastreifen, der im Nirgendwo endet? „Wenn hier eine alte Person stürzt und sich die Hüfte bricht, liegt ihre Lebenserwartung bei einem Jahr“, behauptet er. Dass das mehr markiger Spruch als medizinischer Fakt ist, weiß er vermutlich, aber es klingt eben gut.

Bevor er in Rente ging, war Stimpel Journalist. Sein Handwerk hat er an der renommierten Henri-Nannen-Journalistenschule gelernt, für seine Texte bekam er mehrere Journalistenpreise. Seine Auftraggeber waren die Süddeutsche Zeitung, Geo, FAZ, Wirtschaftswoche, Stern. Noch heute schreibt er regelmäßig Gastbeiträge. „Eigentlich bin ich aber im Vollzeitehrenamt“, sagt Stimpel und meint sein Engagement für FUSS e. V. – eine frühe Verrentung machte es möglich.

Wir brauchen hier einen Mentalitätswechsel: weg vom Recht des Stärkeren, hin zu gegenseitigem Verständnis und Rücksichtnahme

Almut Neumann (Grüne), Bezirksstadträtin in Berlin-Mitte

Die nächste Kreuzung auf dem kleinen Spaziergang naht: Friedrichstraße Ecke Am Weidendamm. Hier hat man einen tollen Blick am Spreeufer entlang in Richtung Regierungsviertel. In der Ferne saust eine S-Bahn über die Spree, die Morgensonne taucht die Uferpromenade in ein orangefarbenes Licht. Nur: Wie überquert man diese viel befahrenen Straßen denn jetzt? Eine Fußgängerampel gibt es erst einige Meter weiter: Wer am Ufer auf dem Spazierweg weiterwill, muss also einen ordentlichen Umweg laufen.

„Und da liegt auch schon der erste E-Scooter im Weg“, bemerkt Stimpel, nun ganz in seinem Element. Durchschnittlich alle 77 Meter taucht ein solches Hindernis auf einem Bürgersteig auf, wie sein Verband im Rahmen einer Studie in drei Stadtteilen nachgewiesen hat.

Berlin-Mitte, ein failed state? Diesen Ausdruck hört Almut Neumann, die zuständige Bezirksstadträtin in Mitte, nicht gerne. Aber sie räumt ein: „An vielen Stellen ist die Situation nicht so, wie man sie sich wünschen würde.“ Die Grünen-Politikerin kennt Roland Stimpel, hat schon mehrfach die Situation der Fußwege mit ihm diskutiert – ein konstruktiver Austausch, wie sie betont. Schließlich sagt sie: „Wir haben ein Riesenproblem.“

Sicherere Fußwege, weniger Falschparker, bessere Regelungen für E-Scooter – all das hat sie sich nach eigenen Angaben vorgenommen. „Ich wünschte, wir wären in der Vergangenheit schneller gewesen“, sagt Neumann, „aber wir arbeiten mit Hochdruck daran.“

Wir gehen weiter, die Spree entlang gen Pergamonmuseum, zunächst ohne weitere Vorkommnisse. Doch dann ist plötzlich Schluss: Das Geländer einer Brücke ragt komplett in den Bürgersteig hinein. Um geradeaus weiterzukommen, muss man entweder übers Geländer klettern oder auf die Fahrbahn treten – keine gute Idee angesichts der Tatsache, dass hier gerne Lastwagen und Blaulichtfahrzeuge vorbeibrettern.

Die Analyse des Fußwegexperten: „Das ist eine der verrücktesten Stellen der Stadt.“ Stimpel fasst sich ein Herz und das Geländerrohr, um das glitschige Hindernis zu überklettern. Wenigstens haben seine Schuhe genügend Profil. „Für uns ist das nur ärgerlich“, sagt Stimpel, „aber stellen Sie sich mal vor, Sie haben eine Behinderung. Barrierefreiheit? Davon kannste hier träumen.“

Wie eine fußgängerfreundliche Straße auszusehen hat, hat FUSS e. V. genau definiert: Der Gehweg soll mindestens 2,50 Meter breit sein und möglichst nur von „Menschen auf zwei Beinen“ genutzt werden – eine Formulierung, die sich vor allem gegen Radlerinnen und E-Scooter-Fahrer richtet. So steht es im Forderungskatalog des Fachverbands. Eine weitere Idee: Wer andere behindert oder gefährdet, soll 60 Euro Bußgeld bezahlen, genau wie beim Schwarzfahren.

Dringen die Aktivistinnen und Aktivisten mit solchen Forderungen durch? „Nun“, sagt Stimpel, „immerhin kommt das Wort Fußverkehr im Koalitionsvertrag zum ersten Mal vor.“ Auf Seite 53, im Kapitel „Radverkehr“, steht der ersehnte Satz: „Den Fußverkehr werden wir strukturell unterstützen und mit einer nationalen Strategie unterlegen.“ Was das nun genau bedeutet – zumal ja nun auch bald eine neue Regierung am Ruder sein wird, der die Grünen nicht mehr angehören werden?Unklar. Doch Stimpel ist zuversichtlich: „So fing es mit dem Radverkehr schließlich auch an.“ Aus einem Satz im Koalitionsvertrag würde ein Kapitel, vielleicht Realpolitik.

Überhaupt, die Radler. Zu ihnen hat Stimpel eine geteilte Meinung. Klar seien Zweiräder umweltfreundlicher als Autos. „Aber ich erlebe sie oft als aggressive, verdrängende Verkehrsteilnehmer“, sagt Stimpel. Im VCD, dem ökologisch orientierten Verkehrsklub, ist er ebenfalls Mitglied, wenngleich dieser für seinen Geschmack zu wenig an Menschen auf zwei Beinen denkt. Er seufzt. „Das Fahrrad und ich, das ist wie eine enttäuschte Liebe.“

Der VCD selbst gibt sich milder: Auf Nachfrage erklärt eine Sprecherin, dass man gut mit FUSS e. V. zusammenarbeite. Das Anliegen des Fußgängervereins stelle „einen sehr wichtigen Aspekt für die Verkehrswende dar“. Zudem gebe es viele Menschen, die in beiden Vereinen Mitglied seien.

Manchmal ist es gar nicht so leicht, sich einen Weg als Fuß­gän­ge­r*in durch Berlin zu bahnen Foto: Kathrin Harms

Auf der anderen Seite der Spree verengt sich der Bürgersteig erneut. Links ein Stromkasten, rechts ein Restaurant, das draußen Tische und Stühle aufgestellt hat. „Wenn jetzt noch ein Lieferwagen auf dem Gehweg parkt, ist alles verstopft“, schimpft Stimpel, der nicht nur asphalterprobte Füße, sondern offenbar auch hellseherische Fähigkeiten besitzt: Einige Meter weiter, auf der Tucholskystraße, steht tatsächlich ein Kastenwagen vor einer Hauseinfahrt. Jetzt platzt Stimpel der Kragen: „Hier kommt niemand mehr durch“, herrscht er den Fahrer an. „Fahren Sie mal einen Meter zurück!“ Der verdutzte Fahrer tut, wie ihm geheißen, Punktsieg für den Fußverkehr.

Bezirksstadträtin Neumann kann den Frust nachvollziehen. Sie klingt sogar selbst ein wenig frustriert, wenngleich deutlich dosierter als Stimpel: „Viele Auto-, aber auch Radfahrer nehmen die Straßenverkehrsordnung nur als Empfehlung wahr“, glaubt sie. „Wenn man eine Person, die im Rollstuhl sitzt, zwingt, auf die Fahrbahn auszuweichen, ist das nicht nur ärgerlich, sondern eine Gefahr.“

Umso wichtiger ist ihr die Botschaft, dass etwas dagegen getan wird. „Die Bußgelder sind oft zu niedrig, um abzuschrecken. Deshalb setzen wir in Berlin-Mitte verstärkt aufs Abschleppen.“ Und tatsächlich: Laut amtlicher Statistik wurden 2021 rund 4.000 Autos abgeschleppt. Ein Jahr später kam der Bezirk bereits auf knapp 6.000 „Umsetzungen“, wie das Abschleppen im Amtsdeutsch heißt.

Doch wieso sind solche Maßnahmen überhaupt nötig? Woher kommt es, das Rowdytum im Straßenverkehr? So ganz scheint sich die Bezirksstadträtin da auch nicht sicher zu sein. „Ich nehme wahr, dass das Verkehrsverhalten vieler leider von Rücksichtslosigkeit gegenüber den schwächeren Verkehrsteilnehmenden geprägt ist“, sagt sie. „Wir brauchen hier einen Mentalitätswechsel: weg vom Recht des Stärkeren hin zu gegenseitigem Verständnis und Rücksichtnahme.“

Auch Roland Stimpel hat kein Problem damit, auf Konfrontationskurs zu gehen. Wenn im Bundestag eine Anhörung zum Straßenverkehrsgesetz ansteht, trägt er sachlich seine Argumente vor. Viele Statistiken hat er im Kopf, von den jährlich getöteten Fußgängern im Bundesgebiet (es sind über 400) bis hin zum Anteil der Senioren daran (etwa die Hälfte). Aber er ist auch ein Mann der Straße. Ob Mahnwachen für getötete Fußgänger, Demonstrationen oder Diskussionen mit Verkehrssündern – alles schon gehabt. Ein Auto besitzt er nicht, dafür zwei Fahrräder. Auf seinem Handy hat er drei Carsharing-Apps installiert.

Geboren wurde Stimpel in Göttingen, fürs Studium der Stadtplanung kam er nach Berlin. Seine „Karriere“ als Aktivist begann, als er sich in den 1980er Jahren gegen die geplante Westtangente engagierte. „Wenn wir keinen Erfolg gehabt hätten, gäbe es heute eine sechsspurige Autobahn am Reichstag“, sagt Stimpel. „Wir warten heute noch auf das Dankesschreiben, weil wir das tolle Bauland freigehalten haben.“ Es ist einer der wenigen Augenblicke, in denen er nicht komplett ernst schaut.

Koalition für den Fußverkehr gesucht

Die Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP widmet dem Fußverkehr in ihrem Koalitionsvertrag „Mehr Fortschritt wagen“ für die Jahre 2021–25 exakt einen Satz, es ist der letzte im Kapitel „Radverkehr“: „Den Fußverkehr werden wir strukturell unterstützen und mit einer nationalen Strategie unterlegen“, schreiben die Koalitionäre. Konkreter wurde es noch nicht. Eine „nationale Strategie“ ist bislang nicht bekannt.

Die rot-schwarze Koalition, die sich in Berlin gerade zusammenfindet und am Montag einen ersten Entwurf des Koalitionsvertrags präsentieren will, bleibt bei den verkehrspolitischen Zielen laut Medienberichten bisher eher vage. „Wir sagen Ja zu sicheren Fahrradwegen, wir sagen Ja zu sicheren Fahrradabstellplätzen, aber wir sagen auch ein deutliches Ja zum Individualverkehr“, wird der designierte Regierungschef Kai Wegner (CDU) zitiert. (taz)

Hat sich die Lage der Fußgängerinnen und Fußgänger verbessert, seit die Grünen in der Regierung sind? Oder setzt FDP-Verkehrsminister Volker Wissing immer noch hauptsächlich aufs Auto? Noch sei das schwer zu sagen, meint Stimpel. Die positivsten Entwicklungen spüre man vor allem auf lokaler Ebene. Zum Beispiel in Leipzig. „Dort gibt es mit Friedemann Goerl einen Fußverkehrsbeauftragten, der zufällig auch Mitglied bei uns ist.“ Wieder dieses verschmitzte Lachen. Natürlich hat ihn Stimpel auch schon interviewt; das Gespräch kann man auf der Vereinswebsite nachlesen.

Bedauerlich findet Stimpel es trotzdem, dass er überhaupt laut werden muss. Mehr Zebrastreifen, sichere Übergänge, konsequentere Sanktionen für Falschparker – selbst solche Basics sind im Autoland Deutschland vielerorts nicht zu machen. Wieder kommt er auf Leipzig als Vorbild zu sprechen: „Der dortige Oberbürgermeister ist der einzige in Deutschland, der jedes Jahr eine Begehung durch die Stadt mitmacht.“ Laut FUSS e. V. ist die Lage im europäischen Ausland oft deutlich besser, vor allem in Paris. Das sei die „Hauptstadt des Gehens“, schwärmt Stimpel. „Alles ist sehr kleinteilig und nah beieinander, die Ampelphasen sind kurz, und man kommt zu Fuß gut zurecht.“

Auf unserem Spaziergang durch Berlin hingegen endet die Freude am Zu-Fuß-Gehen an der nächsten Straßenecke; ein Falschparker steht mitten im Weg. Stimpel ärgert sich, dass er seine Aufkleber mit dem Slogan „Scheiße geparkt“ nicht dabeihat. „Wir kleben uns nicht auf der Straße fest“, sagt er, „aber wir kleben unsere Botschaften.“ Ist das nicht illegal? „Sachbeschädigung liegt nur dann vor, wenn sich der Kleber nicht ablösen lässt“, erklärt Stimpel. Der Bürgeraktivist klingt nun wie ein Beamter.

Doch er will nicht alles schlechtreden. Zwischen all den E-Scootern, Mamataxis und quer stehenden Verkehrszeichen identifiziert der Oberfußgänger durchaus Fortschritte: An der Ecke Tucholskystraße/Auguststraße wurden Autoparkplätze zu Fahrradstellflächen umgewandelt. Dahinter hat ein Restaurant seine Außengastronomie vom Gehweg auf die Fahrbahn verlagert. „Kleine ermutigende Anfänge“, nennt es Stimpel gnädig.

Nach den ermutigenden Anfängen gefragt, verweist Bezirksstadträtin Neumann auf die Fortschritte, die ihre Behörde bereits habe erzielen können: regelmäßige Patrouillen des Ordnungsamts, Verbotszonen sowie klar geregelte Abstellflächen für E-Scooter. 2022 wurden an 50 Kreuzungen Parkplätze gestrichen und in Fahrradstellplätze umgewandelt; dieses Jahr sollen 100 weitere folgen. Im Dezember 2022 überreichte ihr Roland Stimpel, verkleidet als Weihnachtsmann, ein Dankeschön für das Kreuzungsprojekt. Almut Neumann hat die Szene bei Instagram hochgeladen; Stimpel trägt ein Gedicht vor: Für deine schicken Fahrradbügel / Gibt’s das Gegenteil von Prügel / Alle Kinder haben’s gern / Wenn Zweiräder vom Gehweg fern“.

Aber nun, nur hundert Meter weiter, entdeckt der Aktivist erneut etwas an diesem Morgen, das sein Blut in Wallung versetzt: ein Werbeschild, platziert mitten auf dem Gehweg. Stimpel fackelt nicht lange und stellt das Schild vor den Eingang des dazugehörigen Geschäfts. Als ein verwunderter Mitarbeiter hervoreilt, herrscht Stimpel ihn an: „Haben Sie eine Sondernutzungsgenehmigung? Wenn nicht, haben Sie gleich ’ne Anzeige am Hals!“

Der belesene Fußgängeraktivist wirkt nun seltsam verbissen, wie eine Ein-Mann-Armee, bewaffnet mit Gesetzestexten und bösen Sprüchen. Auch die Website des Vereins hat diesen Duktus inne. Da ist vom Wert des Flanierens die Rede, vom Gehen als Selbstzweck, von Entschleunigung und Gesundheit. Aber wehe, wenn ein Flaneur diesem Ideal nicht entspricht. „Fußgänger mit Smartphone sind oft lächerlich, manchmal lästig, aber auf dem Gehweg kaum je gefährlich“, heißt es in einem Kapitel. Dem Satz folgt die Forderung, dass solche Delikte nur bei Fahrern verfolgt werden sollten – ein nachvollziehbarer Gedanke, aber warum muss er so selbstgefällig und durchaus beleidigend daherkommen?

Die Frage, ob es sich bei Stimpels Verein vielleicht doch um eine Truppe von Wutgängern handelt, verneint er, nun wieder ganz ruhig. Man dürfe nicht nur das Negative sehen. „Sonst hat man keine Freude mehr am Spazierengehen.“ Er erzählt von Hardcoreaktivisten, die sich bei FUSS e. V. einbringen wollten. „Die waren ganz schnell wieder weg, weil wir ihnen nicht radikal genug sind. Die hätten am liebsten eine Sitzblockade auf dem Radweg veranstaltet.

Solche Extreme sind nichts für ihn. Er diskutiert, er demonstriert, aber er weiß auch, wann Schluss ist. Lieber schreibt er etwaigen Frust nieder. In seinem 2021 erschienenen Buch „Wer langsam macht, kommt eher an“ teilt er mehrfach gegen seine enttäuschte Liebe, das Fahrrad, aus. „Die Heilserwartung, die selbst ernannte Avantgardisten vor Jahrzehnten mit dem Auto verbanden, ist inzwischen aufs Fahrrad übergegangen“, schreibt er da.

Doch auch in vermeintlichen Radlerparadiesen sei nicht alles perfekt. „Amsterdam wie Kopenhagen sind kleiner und kompakter als Berlin, also eigentlich gehfreundlicher“, heißt es in dem Buch. Aber in beiden Städten werde weniger gelaufen. „Und das, obwohl Berlin seine Bürgersteige seit Jahrzehnten verschlampen lässt, während Amsterdam und Kopenhagen den Radverkehr päppeln.“

Nur das Auto bekommt noch mehr sein Fett weg. Wobei Stimpel nicht bloß herumpöbelt, sondern genau analysiert, immer untermauert von Zahlen und Fakten, da ist er Journalist geblieben. Besonders spannend liest sich das Kapitel über das, was er den „deutschen Tempo-Kult“ nennt. Liegt es nur an der starken Autoindustrie, oder geht das rastlose Rasen bereits auf das Dritte Reich zurück? „Wie das Waffenbesitzen in den USA hat sich das Schnellfahren auf der Autobahn längst von seinem historischen Sinn gelöst und spukt nur noch als diffuser Freiheitsmythos herum“, schreibt Stimpel.

Am Ende des Berliner Spaziergangs setzt er sich auf eine Bank und lässt den Ausflug Revue passieren. Nur etwas mehr als einen Kilometer sind zurückgelegt, per pedes, wie sich das für pas­sio­nierte Flaneure gehört. Trotz aller Widrigkeiten ist das Ziel unbeschadet erreicht. „Aber wir haben auch keine Behinderung“, betont Stimpel und zieht einen Vergleich: „Wenn es auf der Fahrbahn so viele Blockaden gäbe wie auf dem Gehweg, würden sich die Autofahrer sofort beschweren. Als Fußgänger wurschtelt man sich aber einfach durch und nimmt die Probleme hin.“ Klar, dass Roland Stimpel, der Oberfußgänger, da nicht mitgehen kann.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

4 Kommentare

 / 
  • Tja, der Mann hat absolut recht. Das Problem ist, dass (nicht nur in Berlin) Fußwege noch rechtsfreiererer Raum sind als z.B. Radwege. Es kümmert sich einfach keiner drum. Ansätze wären erstens, dass auch die Polizei wieder regelmäßig zu Fuß auftritt und gerade das beliebte Gehsteigparken auch wirklich ahndet.



    Zweitens dass endlich alle Führerscheininhaber (nicht nur die Alten, wirklich jeder) regelmäßig alle fünf Jahre zur Nachschulung antreten dürfen um erste Hilfe und grundlegende Verkehrsregekn aufzufrischen.



    Und drittens, tatsächlich, mehr Gehwegbeauftragte, die das Thema bei Politikern und Planern immer wieder aufs Tapet bringen. Der Amtsschimmel ist eine lahme Mähre, da braucht es einfach jemanden, der regelmäßig nervt...

  • Vielen Dank!



    Endlich kommen die Belange der zu Fuß gehenden und die Öffentlichen nutzenden Menschen in den Blick! Der Fokus auf das Rad versus Auto ist sehr verengt. So sehr, dass die Gefahren, die von rasenden Radler:innen ausgehen, übersehen werden - die schwächsten Verkehrsteilnehmer sind die, die zu Fuß unterwegs sind - an vielen Schnittstellen, auch beispielsweise an Bushaltestellen, gibt es enorme Gefahren für Einsteigende, wenn der Radweg zwischen Fuß- und Straße verläuft. Nur ein Punkt unter sehr vielen. Empfehle den Redaktionen, mal mehr selbst zu recherchieren, Feldforschung in den "Revieren der Schwächeren" zu betreiben. Erweitert den Blick!

  • Danke für Ihr Engagement, Herr Stimpel!

    Es ist wirklich manchmal unfassbar, wie fußgängerfeindlich in einigen Bezirken Berlins gedacht wird. Manchmal fasst man sich an den Kopf, und fragt sich, wer sich das ausgedacht hat. Einiges wirkt geradezu so, als wolle man Fußgänger aktiv schädigen.

    An der John-Foster-Dulles-Allee z.B. führt der Fußweg ZWISCHEN Straße und Radweg lang. Der Fußweg ist mit holprigem Kleinpflaster gepflastert, der Radweg asphaltiert. Im Sommer liegt der Radweg meist im Schatten, der Fußweg in der prallen Sonne.

    Man muss als Fußgänger also zwischen Autos und oft sehr schnellen Fahrrädern entlangspazieren. Jede Bewegung in Richtung des Radweges muss man mit einem Schulterblick einleiten, weil man ja oft auch nicht hört, ob sich von hinten ein Rad nähert. Es ist so absurd, dass man es schon fast zum Lachen findet.

    Und schon die Idee, Fahrradschnellwege durch Parks zu verlegen, sollte man den Initiatoren um die Ohren hauen. Parks sind einfach nicht für Fahrräder da, und es muss einfach Räume geben, in denen man als Fußgänger nicht ständig aufpassen muss. Sage ich als jemand, der noch nicht allzu alt ist, gut zu Fuß und auch nicht schwerhörig.

  • „Berlin-Mitte ist ein failed state! Die Behörden haben hier vollständig kapituliert.“

    Womit eigentlich schon alles sehr treffend gesagt wäre. Mit der einen Ausnahme, dass man dies für viele weitere Bereiche (Verkehr, Drogen, Kriminalität, Mietpreise,...) genau so sagen kann.