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Protestwahl in den NiederlandenViel mehr als nur Stickstoff

Die BauerBürgerBewegung könnte am Mittwoch aus dem Stand die niederländischen Provinzwahlen gewinnen und damit auch stärkste Kraft im Senat werden.

Umgedrehte Flaggen: oben Blau, unten Rot. Demonstranten am vergangenen Wochenende in Den Haag mit dem Protestsymbol der Bauern Foto: anp/imago

Den Haag/Nieuw-Balinge taz | Ein halbes Jahr nach den wochenlangen Agrar-Protesten dominiert die Stickstoffkrise weiterhin die niederländische Politik. Im Vorlauf zu den ­Provinzwahlen an diesem Mittwoch bestimmte der Konflikt zwischen Bäue­r*in­nen und Umweltauflagen die Debatte. Kein Wunder, dass eine Partei sich große Hoffnungen auf den Wahlsieg macht, die bis vor gar nicht so langer Zeit noch als peripherer Sonderling belächelt wurde: die BauerBürgerBewegung (BBB, BoerBurgerBeweging).

In 5 der 12 Provinzen dürfte die erst 2019 gegründete Partei Umfragen zu Folge die stärkste Kraft werden. Alle liegen im ländlich geprägten Osten und Nordosten, wo sich die Bevölkerung seit Jahren von Den Haag beziehungsweise dem „Westen“ mit seinem urbanen Ballungsgebiet benachteiligt fühlt. Die BBB, angeführt von ihrer charismatischen Mitbegründerin Caroline van der Plas, nimmt dieses Gefühl auf: „Die Stimme der und für die Provinz“, lautet ihre Selbstbezeichnung.

Wie gut diese Marke zieht, zeigen Umfragen vom Wochenende, nach der sie mit 14 Prozent der Stimmen vor der rechtsliberalen VVD von Premier Mark Rutte liegt. Im zersplitterten Parteienspektrum des Landes kann das zum Wahlsieg reichen. Damit wäre sie womöglich auch die größte Fraktion im neuen Senat, dessen Mitglieder von den Provinzabgeordneten Ende Mai gewählt werden. Weil die Regierung dort keine Mehrheit hat und oppositionelle Unterstützung braucht, ist die Erste Parlamentskammer ein wichtiger Machtfaktor.

Authentisch, bodenständig und ehrlich

Die Bauern repräsentieren den Unmut der Gesellschaft

Caroline van der Plas (BBB)

Bislang hat die BBB eine einzige Abgeordnete: ihre Galionsfigur Caroline van der Plas (55), eine ehemalige Christdemokratin, die von der schnell wachsenden Schar ihrer An­hän­ge­r*in­nen als authentisch, bodenständig und ehrlich gerühmt wird. Damit erfüllt sie ein Grundbedürfnis, das im Elektorat weit länger zurückreicht als die Stickstoffkrise, der die BBB ihre Popularität verdankt.

Die Mitte-rechts-Koalition in Den Haag will die Stickstoff­emissionen, in den Niederlanden relativ die höchsten Europas, bis 2030 halbieren, um Umweltauflagen zu erfüllen und Naturgebiete zu schützen. Pläne, den Viehbestand zu halbieren, gibt es seit Jahren – Proteste Betroffener, die Enteignungen fürchten, auch. Die Regierung hat sie als letztes Mittel angekündigt und die BBB lehnt solche ebenso strikt ab wie das als zu kurzfristig empfundene Zieljahr 2030. Stattdessen setzt sie auf innovative Techniken, um den Stickstoffausstoß zu reduzieren.

Als sich im vergangenen Sommer weite Teile der Bevölkerung mit den protestierenden Bäue­r*in­nen solidarisierten, stieg die BBB rasch auf. „Bauern sind harte Arbeiter, die fest anpacken. Das gilt für viele Niederländer auch“, erläutert van der Plas bei einem Wahlkampftermin im Dorf Nieuw-Balinge in der Provinz Drenthe Anfang März. „Menschen, die ganz normal mit dem Wohnwagen in Urlaub wollen und das Gefühl haben, dass aus dem Elfenbeinturm über sie regiert wird. Lange hat man das aus den Augen verloren. Die Bauern repräsentieren diesen Unmut.“

Falsche Flaggen: oben Blau, unten Rot

Bei einer Großdemonstration am vergangenen Wochenende in Den Haag wurde einmal mehr deutlich, wie verschiedene Proteste in diesem Kontext gegen die Rutte-Regierung verschmelzen. Unter den vom letzten Sommer bekannten umgedrehten Landesfahnen versammelten sich Bäuer*innen, Geg­ne­r*in­nen der Coronapolitik, und die An­hän­ge­r*in­nen verschiedener Rechtsparteien wie PVV (Forum voor Democratie oder Belang van Nederland). Auffällig war der soziale Bezug in so gut wie allen Redebeiträgen. Die Krise des weit fortgeschrittenen niederländischen Neoliberalismus ist ein fester Bezugspunkt dieser Bewegung. Die Antwort darauf: ein teils rabiat vorgebrachter Antistaat- und Antieliten-Reflex.

Die BBB teilt viel dieses Unmuts, fährt aber einen moderateren Kurs, was sich bei den Wählern auszuzahlen scheint. Zweifellos ist sie eine Protestpartei mit eher konservativem Anhang, der zuvor oft die Christdemokraten oder die rechtsliberale VVD wählte. „Wenn wir abstimmen, liegen wir ein bisschen rechts von der Mitte. Im sozialen Bereich eher links“, so van der Plas unlängst im Telegraaf-Interview.

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5 Kommentare

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  • Ich bin zu dick und muss dringend abnehmen sonst riskiere ich gesundheitliche Schäden. Das gesteckte Ziel vom Arzt bis 2030 ist viel zu kurzfristig, obwohl ich schon seit Jahren zu dick bin. Anstatt weniger zu essen setze ich auf innovative Techniken die "andere" mir zu liefern haben.

  • Die Bauern produzieren nicht nur zu viel Fleisch und Milch (grösster Milchexporteur nach China; übrigens auch Zwiebeln und andere Sachen, die in Ostasien nicht wachsen - jemand noch ein bisschen CO2?), sondern auch zuviel Stickstoff.



    Der Kampf der BBB ist einer für weitere Emissionen und gleicht dem des Volker Wissing auf anderer Ebene: ewig gestrig und rückwärtsgewandt. Setzt sich die BBB durch, wird das nicht nur mehr Umweltschäden und kranke Mitbürger geben, es wird auch der holländischen Wirtschaft massiv schaden, denn schon jetzt werden andere stickstoffemittierende Vorhaben, gegen die weniger radikal protestiert wird, gestoppt. Zum Beispiel der Neubau von Woihnungen in einem Land, indem jetzt schon akuter Wohnungsmangel herrscht. Aber wer am lautesten schreit, gewinnt halt, altes Menschheitsgesetz.



    Erst wenn der Bauer sein letztes Steak verkompostiert hat, weil keiner es mehr kaufen will, werdet ihr sehen, dass man Stickstoff nicht essen kann. Und als Zahlungsmittel taugt es auch nicht.



    Egoismus und Populismus triumphieren und ziehen den Rest der Gesellschaft mit in den Abgrund.



    Herzlichen Dank, ihr Charismatiker.

  • Tja, noch eine Strophe für Knorkators "Sieg der Vernunft".

  • Ich befürchte ja, dass es einen lang anhaltenden Trend in Europas Demokratien geben wird, der sich gegen alle Verschärfungen im Umweltrecht stemmt. Die Politik ist durch EU Beschlüsse (die ja auch ein wissenschaftliche Grundlage haben!) gefordert Massnahmen zu ergreifen und wir, das Volk, machen da nicht mit. Zum Einen weil es, zumindest gefühlt, mit Wohlstandsverlust zu tun hat aber auch weil die Regierungen es nicht schaffen, die soziale Frage in diese Entscheidungen mit einzuflechten. Es kann ja nicht sein, dass sich die Vermögenden mit der Verdreckung der Umwelt die Taschen gefüllt haben und nun plötzlich, beim Auslöffeln der Suppe, alle in einem Boot sitzen.







    Es droht also überall ökologisch/sozialer Stillstand. Blockade als Politik. Und das in einer Zeit in der rasch gehandelt werden müsste.

    Gutes Beispiel ist für mich auch die Heizungsdiskussion bei uns. Habeck schlägt vor ab 25 (?) neue Heizungen zu verbieten, die fossil befeuert werden. Bei einer Lebensdauer von etwa 20 Jahren hiesse das wird könnten auch in dem Bereich 2045 die geforderte "Klimaneutralität" erreichen. So stelle ich mir politisches Handeln zum Erreichen gesetzter Ziele vor.

    Wissing dagegen ist anders und schaut sich die Erfolge dieser kleinen Protestparteien an, lernt von ihnen und nennt es dann Freiheit. Ökobilanzen sind seine Welt nicht. Aber wie wir überall sehen, steht dass einem Erfolg bei der Wahl nicht im Wege.

    • @Heiner Petersen:

      "Es kann ja nicht sein, dass sich die Vermögenden mit der Verdreckung der Umwelt die Taschen gefüllt haben und nun plötzlich, beim Auslöffeln der Suppe, alle in einem Boot sitzen."

      Das Problem ist, dass viele Bauern nicht zu diesen Vermögenden zählen, aber sehr wohl jetzt die Suppe auslöffeln müssen.



      Es reicht halt nicht strenge Umweltvorgaben zu erlassen, diese müssen Teil eines Konzepts sein, das die Menschen mitdenkt, die Teil des Problems sind.

      Andersrum gesagt: primäre Fragestellung müsste sein, welche Form der Agrarwirtschaft gewünscht ist. Anschließend Konzeptentwicklung, wie ich dahin komme. Auch wenn das planwirtschaftlich klingt...

      Die neoliberale Realität sieht aber so aus, dass Vorgaben erlassen werden, die die Auswirkungen nicht mitdenken. Die Einzigen, die mitdenken und lenken(!), sind die Lobbyisten der großen Agrarriesen, also o.g. Vermögenden.



      Das Ergebnis ist eine Zerstörung der Lebensgrundlage eines großen Teils der Landbevölkerung, profitieren tun die großen Player. Umweltzerstörung wird exportiert, indem die landwirtschaftlichen Produkte einfach von außerhalb der EU eingeführt werden.

      Erinnert irgendwie ans Gesundheitswesen - zu viele Partikularinteressen, zu wenige ganzheitlich durchblickende Politiker.. im Ergebnis stehen schlechte Kompromisse