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Proteste in Lützerath und anderswoDer Ritterschlag kommt später

Der Kampf um die Deutungshoheit über politische Proteste ist kein Nebenschauplatz der Geschichte. Er ist der Kern der Sache selbst.

Viel Rauch: Proteste gegen die Räumung des Dorfes Lützerath für den Braunkohletagbau Foto: Oliver Berg/dpa

W ird es am Ende ziviler Ungehorsam gewesen sein? Sorry, Futur Zwei klingt immer etwas gespreizt. Aber die Frage muss so gestellt werden. Denn noch ist nicht abschließend geklärt, wofür Lützerath steht. Ob der Widerstand gegen die Räumung und Ausbeutung der Braunkohlevorkommen von Lützerath, ob die Straßenblockaden der Letzten Generation oder ihre Schein-Anschläge auf Gemälde als ziviler Ungehorsam legitimiert werden oder als blöde bis gefährlich-kriminelle Störaktionen abgewertet, entscheidet sich erst im Laufe eines Deutungs- und Aushandlungsprozesses.

Der nimmt gerade erst Fahrt auf. Gerichte werden zu ihm zwar beitragen, können ihn aber ebenso wenig beenden wie die Bür­ge­r*in­nen von Keyenberg, denen die zugereisten Ak­ti­vis­t*in­nen mittlerweile lästig scheinen: Wo die Grenzen der Zivilität verlaufen, das ist keine juristische Frage, sondern eben eine an die gesamte Gesellschaft: Die befindet sich in einer Art hermeneutischem Bürgerkrieg, einem mit Worten ausgetragenen Kampf um die Deutung des Protests, seiner Taten und seiner Aktionsformen: Wie angemessen sind sie? Wie viel Gewalt wird sich ihnen rückblickend zuschreiben lassen?

Dieser Kampf um die Interpretation wird mit schmutzigen Tricks geführt, Pseudoargumenten und Infamie. Er ist dabei aber kein verzichtbares Anhängsel oder Begleitphänomen. Er ist die Sache selbst: Das geballte, polyvalente Zeichen des Protests, das Kommunikation sein soll, übersetzt sich so erst in Rede und Gegenrede, kurz: das, was eigentlich Politik ausmacht.

Zu diesem Kampf gehört, dass die Gegner des Protests und seiner Anliegen ihn bagatellisieren – Lützerath sei das falsche Symbol, hat der Vater des Vaterlandes Robert Habeck (Grüne) die jungen Leute belehrt; ein Gratissatz, der immer stimmt, solange ein Symbol nicht mit dem zusammenfällt, das es symbolisiert – so wie es bei Rosa Parks’ Weigerung der Fall war, den Platz im Bus für einen Weißen freizumachen, und die so durch das direkte Übertreten der Rassentrennung gegen die Rassentrennung protestierte.

Auch gehört zum Kampf, die Protestierenden zu entzweien, gerne entlang überkommener Gegensätze, wie dem Unterschied von Stadt und Land: Sehr wirksam hat die Erzählung vom akademischen Krawalltourismus die Tatsache überschrieben, dass die Antiatomproteste von Wyhl bis Brokdorf ebenso wie jetzt die Lützerath-Blockaden Akte gelebter Solidarität zwischen linken Bürgerkindern und bäuerlicher Landbevölkerung gewesen sind, deren Einsprüche mangels Masse so übersehbar und überhörbar geblieben waren.

Ungutes Gefühl des Verrats

Manchen, und das ist völlig legitim, reicht dann eine Abfindung oder ein Kompromiss, der die eigenen Belange wahrt, und schon beginnt der Widerstand zu nerven; die Präsenz der Besetzer zur Last zu werden; sie fangen an, voll scheiße zu sein. Vielleicht auch, weil da so etwas lauert oder lastet wie ein ungutes Gefühl des Verrats.

Vor allem aber geht es in diesem Kampf darum, ob sich dieser Protest diskreditieren lässt. Wenn er zwar das Richtige, aber an der völlig falschen Stelle fordert, dann erschüttert das seine moralische Legitimation, wenn der Zusammenschluss mit den Betroffenen bröckelt, die moralische Integrität – und beides zusammen verschiebt die Schwelle, ab wann die Aktion als Gewalt gelten wird, sprich: ob sie unberechtigt war oder als ziviler Ungehorsam geadelt wird.

taz Salon zu Zivilem Ungehorsam

Was macht Zivilen Ungehorsam aus? Wie weit dürfen Protestierende gehen? Darüber wird in einem Hamburger taz Salon diskutiert.

Auf dem Podium sitzen Jana Mestmäcker, Vertreterin der Letzten Generation, Dennis Thering, CDU-Fraktionschef in der Hamburgischen Bürgerschaft, und Christian Volk, Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität. Es moderiert Gernot Knödler, taz nord.

Termin: Dienstag, 28.2.2023, 19.30 Uhr, Haus 73, Schulterblatt 73, Hamburg. Anmeldung erforderlich, einen Livestream gibt es hier.

Denn ziviler Ungehorsam wird in der Regel – am häufigsten mit Jürgen Habermas’ Fortschreibung der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls – als notwendig gewaltfrei definiert: Klingt theoretisch prima, erweist sich aber als ausgesprochen schwammiges Kriterium angesichts der Ahnengalerie des Protests. Denn die Entscheidung darüber, ob es gewaltsam war, ist eine, die dem Ereignis nachträglich zuwächst. Bis heute am schönsten hat die Formbarkeit dieses Grenzverlaufs Anfang der 1980er Jahre Friedrich Zimmermann (CSU) zum Ausdruck gebracht, ein Innenminister der BRD. Sein Spruch „gewaltfreier Widerstand ist Gewalt“ lässt sich als ein meisterhaftes Concetto beschreiben, paradoxal wie aus der Blütezeit des spanischen Barock.

Das Gegenstück war der nonverbale Protest, den ein paar Jahre vorher Beate Klarsfeld ins Gesicht des Bundeskanzlers Kurt Georg Kiesinger ­(NSDAP und CDU) formulierte: Ist jede Ohrfeige ein Gewaltakt? Wie sind die autoaggressiven Formen des zivilen Widerstands zu rubrizieren, Gandhis Hungerstreik, die Selbstverbrennung des Mönchs Thich Quang Duc vor 60 Jahren in Saigon oder der Dichterin Semra Ertan 1982 in Hamburg, ein Fanal gegen grassierenden Rassismus?

Natürlich gibt es Gewalt, physische Gewalt. Und natürlich ist sie unerträglich. Aber ob sie stattgefunden hat, erweist sich eben nicht als entscheidend für die Bewertung des Protests als zivil. Es ist eher eine Frage des Erfolgs, also ob seine Ziele verwirklicht und mehrheitlich als gerecht anerkannt worden sind. So fokussiert zumal in Deutschland die Diskussion um Malcolm X allein auf dessen vermeintlichen Aufruf zu Gewalt – der genau genommen nur das Recht auf Notwehr gegen brutale Übergriffe einer rassistischen und vom Ku-Klux-Klan unterwanderten Polizei vertritt. Seine eher wandel- als greifbare politische Doktrin wird darunter verborgen und völlig vergessen, dass ihm keine Akte politischer Gewalt zuzuordnen sind.

Phosphorbomben per Post

Umgekehrt wird als Beispiel des zivilen Ungehorsams oft und gern die britische Suffragetten-Bewegung erwähnt. Die war aber ab 1905 nicht weniger militant als die frühe Baader-Meinhof-Bande in Deutschland – und ab spätestens 1912 deutlich produktiver, was Gewalt angeht: Dass bei ihren rund 100 Sprengstoffanschlägen in dieser Zeit niemand gestorben ist, grenzt an ein Wunder. Der Tod von Hunderten war bei einzelnen durchaus eingeplant. Nur wird das ebenso selten miterzählt wie die schweren Verbrennungen, die diverse Postboten durch Phosphorbriefbomben erlitten haben.

Das gerechte Ziel, der Erfolg heiligt nicht die Mittel. Aber der Triumph des Protests überzieht ihn mit dem Glanz der fortschreitenden Zivilität. So gesehen muss man dringend hoffen, dass die Klimaproteste ziviler Ungehorsam sind und waren. Denn sonst sieht’s düster aus.

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Reporter und Redakteur
Jahrgang 1972. Seit 2002 bei taz.nord in Bremen als Fachkraft für Agrar, Oper und Abseitiges tätig. Alexander-Rhomberg-Preis 2002.
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6 Kommentare

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  • 0G
    04405 (Profil gelöscht)

    Der Beitrag ist in sich schlüssig, verweist aber auf die klaffende Leerstelle:

    "Die Deutungshoheit [...] ist der Kern der Sache selbst."

    Aber welcher Sache? Geht es wirklich "nur" um die Bewältigung der Klimakrise? Zur Erinnerung: Im Vorfeld einer FFF Kundgebung musste ausdiskutiert werden, ob eine Sängerin mit Dreadlocks auf die Bühne darf. Sie sollte am Ende nicht.

    Die Tatsache, dass hier ein ganzes, hermetisches Weltbild mit den Protesten transportiert wird, verursacht gerade erst die Probleme in der Diskussion um die Deutungshoheit. Die Frage die sich oben anknüpft wäre, ob der "Kapitalismus samt Postkolonialer Ordnung" erst im Orkus der Geschichte versenkt werden muss, um die Klimakrise abzuwenden - oder nicht. Was uns direkt zur nächsten Leerstelle in der Diskussion führt, denn FFF scheint diese Frage für sich schon mit "ja" beantwortet zu haben, ohne dass die dazugehörige Analyse transparent gemacht wird.

    Das Essay tanzt um diese Leerstelle herum, ohne die dazugehörigen Probleme auf der Sachebene überhaupt nur zu benennen.

  • Die mediale Präsenz von Lützenrath in der taz erscheint vollkommen überbewertet. Lützenrath wird höchst voraussichtlich auch nie den historischen Stellenwert der vom Autor angeführten Beispiele erreichen. Ja, es wird noch ein paar Gerichtsverfahren geben, nur taugen diese allenfalls als Randnotitz. Einen Ritterschlag wird es jedenfalls wohl kaum geben.

  • Aber... aber... ein Auto am Weiterfahren zu hindern... das ist... das ist doch Gewalt?

    Zumindest in DE-Land.

    • 0G
      04405 (Profil gelöscht)
      @tomás zerolo:

      ziviler Ungehorsam ist ein probates Mittel für den guten Zweck. Aber der Zweck wird gar nicht klar enannt. Wie soll ich da beurteilen, ob es ziviler Ungehorsam ist?

      Es wäre schon nett, wenn kurzfristige oder mittelfristige Ziele genannt würden, damit ich mich den Protesten anschließen kann. Oder eben nicht.

  • Leider ist es wohl so: Die Gewalt siegt am Ende. Hat aber nichts davon, weil alles kaputt ist. Gewalt mit Gewalt verhindern klappt auch nicht. Also wird es so weiter gehen, mit Gewalt und Gegengewalt, bis die Erde für Menschen unbewohnbar ist und die Evolution geht ohne den Homo Sapiens weiter.

  • 》Denn noch ist nicht abschließend geklärt, wofür Lützerath steht. Ob der Widerstand gegen die Räumung und Ausbeutung der Braunkohlevorkommen von Lützerath, ob die Straßenblockaden der Letzten Generation oder ihre Schein-Anschläge auf Gemälde alsziviler Ungehorsam legitimiertwerden oder alsblöde bis gefährlich-kriminelle Störaktionen abgewertet, entscheidet sich erst im Laufe eines Deutungs- und Aushandlungsprozesses《

    Nö. Eindeutig und ohne jeden Zweifel ziviler Ungehorsam.