piwik no script img

Raubtier-Attacken auf MenschenWer hat Angst vorm Karnivoren?

Jährlich kommt es zu immer mehr Raubtier-Attacken gegen Menschen. Ein Drittel verläuft tödlich. Eine Studie wertet die Fälle der letzten 70 Jahre aus.

Der Hauptaggressor unter den Säugetieren: der Lippenbär Foto: mikroman6/Moment RF/Getty Images

Wer hat Angst vorm bösen Wolf? – Jeder! Furcht und Faszination gegenüber „Raubtieren“ oder „wilden Tieren“ sind tief verwurzelt, wovon nicht nur Kinderabzählreime zeugen, sondern auch das weltweite Repertoire von traditionellen Mythen bis zu aktuellen Horrorschockern. Seien wir ehrlich: Der Löwe wäre kaum zum König der Tiere ausgerufen worden, wenn er Blätter kaute statt Knochen, egal wie imposant seine Mähne wallte.

Diese besondere Form der Popularität ist in der Biodiversitätskrise nicht gerade hilfreich. Große Prädatoren gehören zu den besonders stark gefährdeten Spezies, wozu ihr Bedarf an Platz und Beutetieren beiträgt, aber auch die direkte Bejagung aufgrund ihrer Gefährlichkeit. Wohlgesinnte und die stets langweiligen Rationalisten betonen, dass die tatsächliche Gefahr, zum Opfer eines Fleischfressers zu werden, sehr gering sei.

Also: Der tut nichts, der will nur spielen? Ganz so ist es auch nicht, der will schon auch fressen. Mitunter sogar Menschen. Denn der Tiger sieht wenig Anlass, den seltsamen Zweibeinern irgendwelche Sonderrechte einzuräumen, und nimmt keine Rücksicht auf die Gefühle romantisierender Katzenfans.

Um die Debatte auf eine wissenschaftliche Basis zu stellen, hat ein internationales Team aus Forschenden nun im Fachmagazin PLOS Biology eine Metastudie veröffentlicht, die alle in den letzten 70 Jahren bekannt gewordenen Attacken auf Menschen der großen Säugetierprädatoren auswertet. Rund 5.500 konnten dokumentiert werden, ein Drittel verlief tödlich.

Geografische Unterschiede

Den Hauptaggressor dürfte kaum jemand auf dem Schirm haben. Probier’s mal mit Gemütlichkeit? Von wegen! Balu war’s, also der aus dem „Dschungelbuch“ bekannte Lippenbär – rund tausend Mal ist er auf Menschen losgegangen, meist zur Revierverteidigung oder zum Schutz der Jungen. Insgesamt waren fast ausschließlich zwölf Arten für tödliche Unfälle verantwortlich, und zwar aus den Familien der Katzen (Löwe, Tiger, Leopard, Jaguar, Puma), der Hunde (Wolf, Kojote) und der Bären (Braun-, Schwarz-, Eis-, ­Kragen- und eben Lippenbär).

Während die Katzen und Hunde den Menschen tatsächlich überwiegend angreifen, um ihn zu fressen, wollen Bären eigentlich gar nichts von ihm und reagieren nur übellaunig, wenn man sie stört oder ihnen sonst auf die Nerven geht. Durchaus passend also, dass Berlin sich den Bären zum Wappentier auserkoren hat.

Bemerkenswert sind einige geografische Unterschiede. Während Wölfe im Norden praktisch keine Gefahr darstellen und Zusammenstöße entweder Unfälle oder durch menschliches Fehlverhalten provoziert sind, fallen sie in Südasien mit gezielten Attacken auf. Löwen sind im Südosten Afrikas gefährliche Beutegreifer, in Westafrika lehnen sie Menschen kulinarisch offenbar vollständig ab. Tiger wiederum sind vor allem in den Mangrovenwäldern Südasiens eine reale Gefahr.

Der wohl wichtigste Gefährdungsfaktor abgesehen vom Vorkommen der Beutegreifer ist die sozioökonomische Lage der Menschen. In Ländern mit hohem Einkommen sind Angriffe grundsätzlich selten, in armen Ländern häufiger. Auch Raubtierattacken sind also eine soziale Frage.

Zahl der Angriffe steigt

Wo Mensch und Tier direkt aufeinandertreffen, weil sich ihre Lebensräume überlappen und die Menschen eher im Freien arbeiten oder für ihren Lebensunterhalt durch Holzsammeln, Angeln und die Jagd sorgen, kommt es erheblich häufiger zu Angriffen. Im reichen Norden beschränken sich Zwischenfälle weitgehend auf Freizeitverhalten, oder die Tiere werden durch Müll und Essensreste in Siedlungen gelockt. Auch gezieltes Füttern oder Provokationen führen dazu, dass der Bär mal zulangt.

In Europa, wo jeder versehentlich in menschliche Nähe trottende Braunbär oder Wolf gleich zu Massenpanik und „CSI“-artigen Tatortuntersuchungen führt, passiert Menschen praktisch überhaupt nichts.

In den letzten 70 Jahren sind für ganz Europa und Nordamerika exakt 25 Wolfsangriffe verbürgt. Trotzdem wird in Deutschland permanent ihr Abschuss gefordert – während wir gleichzeitig wollen, dass die Menschen in Afrika oder Südasien bitte schön ihre Tiger und Löwen schützen, wofür wir fleißig Spenden sammeln. Dabei wäre dort eine gewisse Reserviertheit den Katzen gegenüber angesichts von immerhin 165 tödlichen Löwen- und 856 Tigerangriffen durchaus nachvollziehbar.

Bemerkenswert ist, dass die Zahl der Angriffe im Lauf der Jahrzehnte weltweit angestiegen ist, vor allem in armen Ländern. Der Mensch rückt den Tieren durch eine stetig wachsende Bevölkerung und das Erschließen von Naturgebieten immer näher auf den Pelz. Umso wichtiger wäre es, die Zahl der Angriffe durch Aufklärungsarbeit und Verbesserung der Lebensbedingungen vor Ort zu senken. Für die betreffenden Menschen sowieso.

Aber auch für die Tiere, denn die beißen sich bei einem Angriff letztlich ins eigene Fleisch. Nach einer Attacke folgt regelmäßig die Jagd auf die Tatverdächtigen, also die „Problembären“ oder „Menschenfressertiger“, wodurch die angeschlagenen Populationen wichtige Individuen verlieren. Ganz abgesehen von der schlechten Presse, die wenig dazu beiträgt, Schutzbemühungen zu fördern. Wer will schon potenzielle Killer im Vorgarten hätscheln?

Weitaus mehr Mückentote

Wichtiger ist also der Blick auf die tatsächliche Gefahr. Knapp 2.000 tödliche Angriffe in 70 Jahren – das sind weniger als 30 im Jahr. Weltweit. Da steht die Angst in keinem Verhältnis zum Risiko. Diesbezüglich können Löwe, Tiger und Bär den Haien die Tatze reichen. Bei jährlich etwa fünf tödlichen Haiangriffen sind die spektakulärsten Raubtiere eher die „zahnlosen“.

Zumal im Vergleich mit etwa vier tödlichen Hundeattacken pro Jahr in Deutschland und weltweit etwa 140.000 Todesopfern durch Giftschlangen, 830.000 durch Mücken und 600.000 durch Mord und Kriege. Der Mensch ist dem Menschen eben leider kein Wolf, sondern schlimmer: ein Mitmensch. Der gefährlichste Prädator aber ist das Auto. Etwa 1,3 Millionen Menschen sterben nach Schätzung der WHO jährlich im Straßenverkehr. Höchste Zeit, den Wolf zu entlasten und die richtigen Fragen zu stellen: Großmutter, warum hast du so große Räder?

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

7 Kommentare

 / 
  • Sehr schön: Großmutter, warum hast du so grosse Räder? Jetzt auch zunehmend bei SUV-E Bikes..

  • Sag’s ja - der steinalte Steigerungssatz:



    “Glaube Lüge Statistik!“ But - 🐅 🦈 🐄 -

    Der Typ - der auf einer schmalen Landzunge in Südafrika 🎣 angelte & von dem mann nur noch seine Rolex fand! War jedenfalls nicht 🐊-Dundee!

    Na Mahlzeit

  • 1,3 Millionen Tote durch Autos. Die ca. 200 Millionen Verletzten bleiben gerne unerwähnt.



    Die zigtausenden durch Autoabgase und hunderttausenden durch Bewegungsmangel verursachten vorzeitigen Todesfälle - allein in Deutschland - lassen wir hier mal außer vor.

  • 6G
    658526 (Profil gelöscht)

    wieviele karnivoren sind durch menschen gestorben?

    weitaus mehr als diese angegebenen ein drittel

    wir menschen sind in der natur das problem nicht die anderen.....

  • "Trotzdem wird in Deutschland permanent ihr Abschuss gefordert – während wir gleichzeitig wollen, dass die Menschen in Afrika oder Südasien bitte schön ihre Tiger und Löwen schützen, wofür wir fleißig Spenden sammeln."

    Jein, hier gibt es signifikante Unterschiede:



    Die Forderung nach einer Bejagung des Wolfes erwächst in den allermeisten Fällen nicht aus einer persönlichen Angst vor dem Wolf. Argumente für individuelle Entnahmen sind atypisches Verhalten, das eine Übergriffsgefahr nahelegt (Scheu vor dem Menschen verloren,...) - hier würde ich auch bei einem Tiger oder Löwen nicht anders urteilen.

    Das zweite Argument ist die gesamtheitliche Wirkung der Art. Sei es als Bedrohung für die Freilandhaltung (dürfte mit einer zu hohen Wolfspopulation zuende gehen) oder für die Wildtierpopulation in der Kulturlandschaft Deutschland, bei der schwer abzusehen ist wie gut und in welcher Menge sich der Wolf reintegrieren kann ohne dabei einen Kahlschlag zu veranstalten.

    Beiden Punkten geht die Annahme voraus dass die Wolfspopulation nicht in einem bedrohten Zustand ist. Eine erneute Ausrottung des Wolfes ist selbst in Kreisen die seine Bejagung fordern eine absolute Außenseitermeinung. Und auch das ist ein relevanter Unterschied: Die Population des Wolfes ist nicht bedroht, sondern wachsend - das ist eine Grundvoraussetzung für eine (stärkere) Regulierung (Wie die taz selbst sie im Falle des Rehwilds gefordert hat btw). Hätten Tiger und Löwen eine hohe Population und würden weiter wachsen, dann würde hier sicherlich kaum jemand für den Erhalt dieser Arten spenden - Das Spendenaufkommen für den Waschbären ist doch sehr überschaubar

  • Was soll die reisserische Überschrift? Die Zahlen sind absolut lächerlich. Zu Pandemiehochzeiten sind täglich weit mehr Menschen gestorben aber das interessiert natürlich niemand. Dazu kommt dass der Großteil der Raubtierunfälle darauf zurückzuführen ist dass der Mensch die Habitate und Rückzugsräume dieser Tiere immer mehr ausplündert und zerstört.

    • @schnarchnase:

      Der Autor zitiert hier ein Idiom: "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" Also durchaus ironisch zu verstehen. Bestätigt der Text auch mehrfach.