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Medizinerin über Folgen des RS-Virus„Es fehlt an allem“

Kinderarztpraxen werden von einer Infektwelle überrollt. Das System ist kaputtgespart worden, sagt Charlotte Schulz vom Hamburger Kinderärzteverband.

Ungewöhnlich frühe Infektsaison: Kinderarztpraxen können den Ansturm derzeit kaum bewältigen Foto: Sebastian Gollnow/dpa
Kaija Kutter
Interview von Kaija Kutter

taz: Frau Schulz, Sie sind Kinderärztin. Ist viel zu tun?

Charlotte Schulz: Das kann man sagen. Wir haben aktuell eine extrem volle Infektsprechstunde – wie alle anderen kinderärztlichen KollegInnen auch.

Wie kommt das?

Wir haben eine ungewöhnlich frühe Infektsaison. Sonst gibt es meistens erst im Januar, Februar einen großen Ansturm von Kindern und Jugendlichen mit Atemwegserkrankungen in den Praxen. Aber das ist in diesem Jahr anders. Und es sind unglaublich viele Kinder. Man nimmt an, dass vor allem die ganz kleinen Kinder aufgrund der Coronamaßnahmen mit Masken im öffentlichen Raum und häufig geschlossenen Kitas in den letzten beiden Wintern deutlich weniger Infekte hatten. Das holen sie jetzt doppelt und dreifach nach. Dazu kommt eine sehr starke Influenzawelle, die gerade über uns hinwegrollt.

Es gibt eine Unwucht?

Ja. Und unser System kann mit so einer Infektwelle nicht mehr umgehen, weil es an allem fehlt. Es wurden sehenden Auges durch gestrichene finanzielle Mittel die ambulanten und stationären Versorgungsstrukturen kleingespart. Es gibt vor allem im ländlichen Raum deutlich weniger Kinderarztpraxen, aber auch in einer Stadt wie Hamburg wird es immer schwieriger, unter diesen Arbeitsbedingungen Nachfolger für die Praxen zu finden. Dazu kommen die drastisch gekürzte Bettenzahl und der Fachkräftemangel in den Kinderkliniken

Ihr Verband warnte in einem Brandbrief, die Lage sei „wirklich krass“. Was bedeutet das konkret?

Wir haben viel mehr zu tun als vor einigen Jahren. Es gibt mehr Vorsorgen, mehr Impfungen. Es gibt mehr chronisch kranke Kinder zu betreuen, weil die Ambulanzen der Kliniken immer kleiner werden. Dazu kommen geflüchtete Kinder, die wir mitversorgen. Und wir spüren die Pandemie. Es gibt mehr sozialmedizinische Fälle. Viele Jugendliche haben in dieser Zeit Depressionen, Angst- und Essstörungen entwickelt.

Privat
Im Interview: Charlotte Schulz

51, ist Kinderärztin und Sprecherin des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte in Hamburg.

Die gehen zum Kinderarzt?

Wir sind in der Regel die erste Anlaufstelle. Aber da wir auch viel zu wenig Kinderpsychologen und Kinderpsychiater haben, müssen wir das häufig erst einmal kompensieren, bis die Kinder und Jugendlichen einen Therapieplatz gefunden haben.

Wäre es sinnvoll, Kitas und Schulen schon vor den Weihnachtsferien zu schließen?

Nein. Wir sind zwar mitten in einer heftigen Infektwelle und schauen mit Sorge auf die nächsten Monate, aber auf gar keinen Fall dürfen Kitas und Schulen schließen. Es hat sich ja in den Lockdown-Phasen gezeigt, wie groß die Belastungen und Schäden für die Kinder und Jugendlichen sind, die aus den geschlossenen Schulen, Kitas und Freizeitangeboten entstanden.

Und Masken in der Schule?

Sind auch nicht sinnvoll. Sie verschieben den Zeitpunkt der Infekte nur, sie können die Infektionen, wie man aktuell sieht, nicht verhindern. Außerdem erzeugen Masken eine soziale Hemmung. Dabei ist es so wichtig, dass die Kinder und Jugendlichen ganz normale soziale Kontakte haben. Besonders Grundschüler, die zum Teil ja erst mal die deutsche Sprache lernen müssen, lesen und lautgetreu schreiben lernen sollen, können mit Masken gar nicht sehen, wie sich die Lippen beim Sprechen bewegen.

Es heißt auch, die Gesundheitskompetenz der Familien hat abgenommen?

Das ist ein Punkt. Wir brauchen mehr Aufklärung für Eltern zum Umgang mit gewöhnlichen Erkältungs- oder Magen-Darm-Infekten, die ohne zwingenden Arztbesuch zu Hause bewältigt werden können.

Ging das früher besser?

Ich denke schon. In den Großstädten gibt es kaum noch Großfamilien. Da fehlt oft die Erfahrung und Unterstützung durch Großeltern. Junge Eltern sind oft unsicher und kommen auch mit einem Schnupfen zu uns.

Wurde früher auch mehr mit Hausmitteln kuriert?

Ja, mit Wadenwickeln oder Tees. Bei einer fieberhaften Erkältung können Eltern heute zusätzlich Fiebermedikamente oder Nasentropfen geben, ohne dass es vorher jedes Mal den ärztlichen Rat bedarf. Aber wenn Kinder jünger als ein Jahr alt sind und hoch fiebern oder auch ältere Kinder über mehrere Tage hohes Fieber haben, sollten sie von einem Arzt gesehen werden. Vor allem, wenn sie nicht mehr ausreichend trinken, apathisch wirken oder Atemnot haben.

Haben Eltern weniger Zeit, ein krankes Kind zu pflegen?

Ja. Gerade jetzt bringen die häufigen Infekte viele berufstätige Eltern in Not, die immer wieder beim Arbeitgeber ihre Kind-krank-Tage einreichen müssen.

Und fehlt wirklich Fiebersaft?

Das ist ein ganz, ganz großes Problem! Für Säuglinge und Kleinkinder bis sechs Jahre gibt es zurzeit keine Fiebersäfte oder Fieberzäpfchen in den Apotheken, die diese aktuell auch nicht nachbestellen können. Das gilt sogar für einige Basis-Antibiotika.

Wie kann das sein?

Da gibt es mehrere Erklärungsansätze. Es wird von Lieferketten-Problemen durch den Ukrainekrieg berichtet. Es fehlen offenbar auch die Wirkstoffe. Eine weitere Erklärung macht die deutsche Preispolitik verantwortlich, sodass ausländische Firmen die Medikamente lieber in andere Länder liefern. Aber da legt sich niemand fest. Es gibt meines Wissens auch keine Bestrebungen von Politik oder Kassen, diese Zustände zu verbessern. Dabei ist dies eine Notlage, in der wir uns mit vereinten Kräften um eine Lösung bemühen müssten.

Die Politik tut nichts?

Gesundheitsminister Karl Lauterbach machte zuletzt einen Vorschlag: Zur Entschärfung der schlechten Versorgungssituation sollen Pflegekräfte aus dem Erwachsenenbereich in die Kinderkliniken wechseln, Vorsorgen und Impftermine sollen in die Praxen verschoben werden. Aber Kinder sind keine kleinen Erwachsenen und brauchen eine kompetente, kinderspezifische Pflege von ausgebildeten Kinderpflegekräften. Und Vorsorgen und Impfungen verschieben ist auch eine völlig realitätsferne Idee. Wir wüssten gar nicht, wann wir diese Termine nachholen sollten. Hinzu sind gerade die Vorsorgen und Impfungen in der Kinderheilkunde wichtig, um Erkrankungen früh zu erkennen oder zu verhindern.

Ihr Brief richtete sich doch auch an die Hamburger Politik?

Ja. Er ging an die Kassenärztliche Vereinigung Hamburg, die das Budget verwaltet, und an die Gesundheitsbehörde. Von der Behörde gab es bisher leider keine Reaktion.

Was könnte die tun?

Es braucht einfach mehr Geld im System. Wir brauchen mehr Ärzte, Pflegende und medizinische Fachangestellte im ambulanten Bereich und in den Kliniken, um die Kinder vernünftig zu versorgen. Unsere Arbeit in den Kinderarztpraxen muss endlich zu 100 Prozent honoriert werden.

Das passiert nicht?

Nein. Bei 100 Prozent Leistungserbringung werden in Hamburg nur etwa 80 Prozent der Leistungen bezahlt. Wenn das Budget zum Ende des Quartals aufgebraucht ist, arbeiten wir den Rest quasi umsonst. Außerdem brauchen wir für die Praxen eine Gegenfinanzierung der gestiegenen Lohn- und Energiekosten sowie der Inflation. Dazu wünschen wir uns gemeinsame Anstrengungen von Gesundheitsbehörde und Kassenärztlicher Vereinigung.

Es heißt, Hamburg sei statistisch überversorgt.

Diese Bedarfsplanung ist nicht mehr korrekt. Wir brauchen dringend mehr niedergelassene Kinderärzte. Wir erwarten, dass in den kommenden fünf Jahren ein Drittel der KollegInnen in Rente geht. Das wird die Situation verschärfen.

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4 Kommentare

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  • Wie wäre es damit, nicht jeden Kleinkram von einem Arzt tun zu lassen. Gefühlt 70% der Krankmeldungen sind kein Grund zum Arzt zu gehen, sondern man braucht eben die AU-Bescheinigung bei Grippe und Erkältung. Das könnenauch eine Praxishilfe oder examierte Schwester/Bruder tun. Das würde zumindest schon mal die Ärzte von lästigem Kleinkram befreien.

    Natürlich reicht das nicht, man muss das profiorientierte kapitalistische System endlich abschaffen, bei dem es um Share Holder Value und Dividenden geht statt um die heilung von Menschen. Grundrechte wie Gesundheit, Bildung, Wohnen (!) etc. gehören nicht in die gierigen Hände von Spekulanten. Die Pharmaindustrie gleich mit, das senkt die Preise enorm. Ich habe zufällig mal einen Einblick bekommen, was da in Sachen Bestechung und Gier so läuft.

  • 6G
    650228 (Profil gelöscht)

    "Bei 100 Prozent Leistungserbringung werden in Hamburg nur etwa 80 Prozent der Leistungen bezahlt. Wenn das Budget zum Ende des Quartals aufgebraucht ist, arbeiten wir den Rest quasi umsonst."

    Dann raus aus der GKV und nach Stundensatz abrechnen. Dann ist auch mehr Zeit für den einzelnen Patienten möglich.

  • Dazu würde jetzt mal ein gut recherchierter Kommentar passen, in dem die Schuldigen an der Misere benannt werden.



    Also jene Ideengeber, auf deren Vorschlägen und Ideen die seinerzeitigen Gesetzesänderungen fussen.



    Dazu würde natürlich auch gehören mal, zu beleuchten wie denn welche Abgeordneten seinerzeit dazu gestanden haben.

    Garnieren könnte man das dann noch mit Interviews der Hauptakteure. Sofern diese überhaupt Manns (oder Frau) genug sind zu ihrem Handeln zu stehen.

    Nicht, dass man irrtümlich bei den nächten Wahlen das Kreuz an der falschen Stelle macht.

    • @Bolzkopf:

      Da wir in einer Demokratie leben und Politiker lediglich die Vertreter der Gesellschaft sind, kann sich niemand über 30 von Schuld frei sprechen. Es tun ja alle so, als ob das jetzt ganz unerwartet gekommen wäre aber es gibt seit Jahren immer wieder Leute die genau vor der jetzigen Situation gewarnt haben und bisher war es allen reichlich egal.



      Als Pfleger in einer Kindernotaufnahme gehen mir die Bürger*innen die sich jetzt über das Versagen der Politik beschweren genauso auf den Zeiger wie die, durch alle Parteien hinweg, unfähigen Gesundheitspolitiker. Nach Fukushima seid ihr doch auch alle auf die Straße gegangen und habt zu zehntausenden gegen Atomkraft demonstriert. Warum denn jetzt nicht? Offenbar sind euch eure Kinder so wichtig dann auch nicht. Es sei denn natürlich, ihr seid dann tatsächlich unmittelbar betroffen und wartet mit euren Kindern 12 Stunden in einer Notaufnahme bis ein Arzt Zeit findet sich um die Schnupfnase eures Spross zu kümmern, dann lässt man die eigene Frustration am Pflegepersonal aus und beschimpft es und unterstellt Faulheit oder Inkompetenz.



      Na klar, man fühlt sich total solidarisch wenn man in einem Kommentar unter einem Artikel gegen "die Politiker" wettert aber seht verdammt nochmal ein, dass jeder einzelne von euch verantwortlich ist. Weder wir Pflegenden noch die Kranken Kinder haben etwas von eurem Gemecker in online Foren und Kommentarspalten, euren Applaus brauche ich auch nicht. Geht auf die Straße und macht Druck. Klar, vielleicht seid ihr dann nicht Zuhause wenn der Amazonbote das dritte Mal an diesem Tag klingelt aber vielleicht passiert endlich Mal was wenn 200.000 Bürger*innen Tag für Tag vor dem Gesundheitsministerium aufmarschieren.



      Ich habe dafür leider keine Zeit, ich muss mich um eure Kinder kümmern. Wenn ihr dazu nicht bereit seid, ist das auch OK aber dann behaltet euren Applaus und eure Empörung für euch.

      @bolzkopf: nicht persönlich gegen Sie. Ich weiß noch nicht man ob Sie zur kritisierten Personengruppe gehöre