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Queerer Krimi aus Tel AvivGenderclash in Israel

Yonatan Sagivs „Der letzte Schrei“ ist der erste Fall von Detektiv Oded Chefer in deutscher Übersetzung. Es ist ein kritisches Gesellschafts­porträt.

Skyline der Stadt Tel Aviv mit Strand Foto: Panthermedia/imago

Tel Aviv. Hier lebt Oded Chefer, 36 Jahre alt und Privatermittler, der – oder die – es gewöhnt ist, zwischen allen Stühlen zu sitzen. Oded ist schwul, pflegt von sich selbst häufig in der weiblichen Form zu sprechen und ist immer noch ein wenig verliebt in einen gutaussehenden Polizeiinspektor, mit dem er einst eine innige Affäre gehabt haben muss. Israelische LeserInnen von Yonatan Sagiv werden darüber mehr wissen, denn dies ist nicht Odeds Chefers erster Fall – wohl aber der erste, der in deutscher Übersetzung erscheint.

Yonatan Sagiv ist, wie sein Landsmann und Krimikollege Dror Mishani, von Hause aus Literaturwissenschaftler. Ein gewisses literarisches Niveau ist also garantiert, und der Autor liefert hohen thematischen Mehrwert dazu.

Als Detektivfigur und literarische Persönlichkeit ist sein Protagonist Oded Chefer originell – nicht nur seiner sexuellen beziehungsweise Gender-Orientierung wegen, aber eng damit zusammenhängend: Der Ermittler schleppt einen Minderwertigkeitskomplex mit sich herum, der daher rührt, dass Oded sich in seinem Anderssein nie angenommen gefühlt hat. Ein Familientreffen, bei dem am Tisch markige Sprüche ausgetauscht werden, führt ebenso seine gefühlte Rand­existenz vor wie seine Tendenz, bei jeder vermuteten Beleidigung bissig zum Gegenangriff überzugehen.

So ist es vor allem Odeds heißer Wunsch, einmal „dazuzugehören“, der daran schuld ist, dass er sich in diesen Fall verstricken lässt: Zunächst einmal scheint es nicht einmal ein „Fall“ zu sein, sondern lediglich ein kleiner Gefallen, den Oded einem der mächtigsten Männer im israelischen PR-Wesen erweisen soll: Binjamin Direktor beauftragt Oded, herauszufinden, warum ein Jungstar, den er betreut, in letzter Zeit zu depressiv ist, um aufzutreten und viel Geld zu verdienen. Es handelt sich um ein 15-jähriges Mädchen.

Das Buch

Yonatan Sagiv: „Der letzte Schrei“. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. Kein & Aber, Zürich 2022, 400 Seiten, 25 Euro

Als Nachhilfelehrer getarnt, erfährt Oded von der Teenagerin, dass einige Wochen zuvor ihr bester Freund, Sohn der philippinischen Hausangestellten, spurlos verschwunden ist. Und wie es der Zufall (oder ist es gar keiner?) will, verschwindet nun auch noch eine Bekannte von Oded: Gabriela, eine junge Transfrau und vielversprechende Sängerin, hatte er noch überraschend auf jener Party seines Auftraggebers Binjamin Direktor getroffen, aber danach verliert sich ihre Spur.

Geliebter Moloch

„Der letzte Schrei“ lebt weniger von seiner Kriminalhandlung und mehr vom lebendig erzählten Drumherum. Vermutlich tut man Yonatan Sagiv nicht unrecht, wenn man die Feststellung trifft, dass er das Spannungsgenre als Vehikel für ein breit angelegtes und kritisches Gesellschafts­porträt nutzt. Der israelisch-palästinensische Dauerkonflikt bleibt im Roman zwar fast ganz ausgespart; dafür wird die prekäre Lebenssituation nichtjüdischer ArbeitsmigrantInnen ausführlich thematisiert.

Die bornierte Haltung der israelischen Mittelschicht gegenüber allem, was an Menschen anders ist – sei es sexuelle Orientierung oder Herkunft –, fällt dem empfindsamen Oded ständig ins Auge und wird im Erzähltext immer wieder sarkastisch kommentiert. Auf langen Fahrten durch Tel Aviv (mit seinem kapriziösen Auto, das der Protagonist liebevoll „Fohlen“ nennt) werden die urbanen Szenerien ins Bild gesetzt.

Diese Großstadt mag ein Moloch sein, aber sowohl Oded Chefer als auch sein Autor lieben sie. Man kann sich diesen visuell starken Roman sehr gut als Film vorstellen.

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