Vorauseilender Jahresrückblick: Es geht voran!
VW übernimmt Bobby-Car und Cristiano Ronaldo wechselt zum FC St. Pauli: Die taz blickt darauf zurück, was 2023 in Norddeutschland gewesen sein wird.
Januar
2 . „Wir dürfen bei der neuen Deutschlandgeschwindigkeit nicht zu spät kommen.“ So kündigt Bahn-Chef Richard Lutz eine „erhöhte Taktzahl“ an: „Wir waren schon ziemlich allegro unterwegs, aber jetzt schalten wir um auf presto.“ Deshalb werde der Testbetrieb der seit Mitte November gesperrten Strecke Hannover–Berlin subito unterbrochen, um dann „am 4. April zur Feier von Louis Spohrs Geburtstag wieder zur Verfügung zu stehen“. Außerdem ziehe man die für 2025 geplante Ertüchtigung der Strecke Hamburg–Berlin und die damit verbundene halbjährige Generalpause dort um fast drei Jahre vor. Auf Nachfrage, warum man sich zeitlich an einem Braunschweiger Komponisten orientiere, erklärt Lutz, das diene der Einstimmung auf den künftigen Deutschlandtakt: „Unsere Zukunftsorientierung mahnt, die Vergangenheit zu bewahren.“
6. Explosion in Wilhelmshaven: Beim Andockmanöver des ersten Flüssiggastankers an das schwimmende LNG-Terminal kommt es „zu einer lichtinduzierten radikalischen Kettenreaktion mit beim Reinigungsprozess freigesetztem Chlorgas“, wie die spätere Analyse ergibt. Ein Feuerstoß zerstört die gesamte Pipeline bis ans Festland. „So hatten wir uns das nicht vorgestellt“, kommentiert Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne). Es sei aber kein Grund, in Schockstarre zu verfallen. „Ich kann ja schlecht sagen: Okay, das ist schiefgegangen, das war’s, jetzt mache ich nicht mehr weiter“, sagt Habeck der FAZ. In der Folge werden bundesweit alle Neujahrsempfänge ausgesetzt. „Wie soll denn mein Sohn so jemals Hamburg kennenlernen?“, klagt Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) als verhinderte Star-Gästin des Blankeneser Neujahrsempfangs.
31. Der FC St. Pauli gibt um 23.59 Uhr die Verpflichtung von Cristiano Ronaldo bekannt. Der Vertrag des portugiesischen Starfußballers mit dem saudischen Klub al-Nassr Riad hatte sich zwei Tage nach Schließen des örtlichen Transferfensters als ungültig erwiesen, weil mit einem im Wahabiten-Reich verbotenen Vornamen unterzeichnet. Der Kiez-Klub hat ihm deshalb Asyl gegeben. „Ich freue mich, künftig für São Paulo zu spielen“, wird der 38-Jährige auf der Vereinswebsite zitiert.
Februar
2. In der neuen Landleben-Ausgabe lobt Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) die Bauern, die im Januar mit ihrer Traktorsternfahrt zur Grünen Woche sämtliche Autobahnen Richtung Hauptstadt unpassierbar gemacht hatten – und seither auf dem Rückweg „ebenfalls auf friedliche Weise diese für unser Land so wichtigen Straßen für terroristische Klimakleber unattraktiv machen“.
8. Die beliebte Bremer Sozialsenatorin Anja Stahmann (Grüne) eröffnet eine Kinderwippe in der Vahr. „Spielen und Toben sind wichtig“, sagt sie und strubbelt dem kleinen Mert durchs Haar.
16. „Wir wollten nicht länger warten“, räumt zerknirscht Landes-Energiewende-Minister Tobias Goldschmidt (Grüne) ein, als in Brunsbüttel beim Testbetrieb des schwimmenden LNG-Terminals die gesamte Anlage in die Luft fliegt. Robert Habeck eilt zum Unglücksort. „So hatten wir uns das nicht vorgestellt“, sagt er mit bekümmertem Blick. Die Antwort auf derartige Rückschläge müsse lauten: „Mehr Terminals, mehr Resilienz, mehr Deutschland und mehr Geschwindigkeit.“ Er sei sich mit Olaf Scholz (SPD) einig, dass für jedes zerstörte LNG-Terminal sofort zwei neue entstehen müssen. „Das ist dann der nächste Gang der neuen Deutschlandgeschwindigkeit“, so der Bundeswirtschaftsminister. „Der Deutschlandturbo.“
März
2. Die Zeit berichtet, dass Hamburg zwar den Schlick der Instandhaltungsbaggerungen wie vereinbart vor Helgoland verklappt, aber inoffiziell bereits die zehnte Elbvertiefung begonnen habe. Der auf der Fläche zwischen Brokdorf und Sankt Margarethen ausgebrachte Aushub häufe sich zu einem beachtlichen Berg. Senatorin Melanie Leonhard (SPD) bestreitet nichts. Keinesfalls habe man jedoch den nördlichen Nachbarn einfach vor vollendete Tatsachen stellen wollen. Es sei halt notwendig gewesen und „wir setzen das nun in Hamburggeschwindigkeit um“.
6. Von der Auffahrt Meppen-Nord bis zum Kreuz Schüttorf blockieren Landwirte mit Traktoren die A 31. „Wohin jetzt mit dem Scheiß?“, steht in roten Buchstaben auf ihren Jauchetanks. Wegen winterlicher Witterung dürfen die Felder nicht gegüllt werden. Landesagrarministerin Miriam Staudte (Grüne) spricht von einem „beeindruckenden Zeichen“. Man werde miteinander reden, „ohne dass wir uns erpressen lassen“. Nach Solidaritätskundgebungen und einer massiven Social-Media-Kampagne verfügt Staudte am 10. 3. eine Dünge-Sondererlaubnis bei Minusgraden. Landvolk-Präsident Holger Hennies lobt diese professionelle Haltung: „Mit so einer Ministerin arbeiten wir gern zusammen.“
9. Herbeigerufene Polizeibeamt*innen treffen nachts erneut den Hamburger Altbürgermeister Klaus von Dohnanyi an der Außenalster umherirrend an: Gefragt, was ihn denn so um den Schlaf bringe, soll der Sozialdemokrat im Schlafrock irgendetwas von „Hut“ und „Filzweste“ geäußert haben. Die Frage steht im Raum: Sollte es der Geist von Fluxus-Künstler Joseph Beuys sein, der den spitzzüngigen Hanseaten aus dem eigenen Haus treibt – exakt 40 Jahre, nachdem der Hamburger Senat Beuys eingeladen hatte, ein „Gesamtkunstwerk“ im öffentlichen Raum zu schaffen? Dass daraus nichts wurde, lag schließlich am damaligen Bürgermeister: Beuys’ Idee, den wohl größten ökologischen Problemfall der Stadt zu entgiften, die Spülfelder im plattgemachten Fischerdorf Altenwerder, sei von Dohnanyi zufolge keine Kunst.
Am 13. gelingt der niedersächsischen Landespolizei ein Schlag gegen den Klimaterror! 127 zumeist jugendliche Teilnehmer*innen eines als Nachhilfe-Forum getarnten Onlineportals im Großraum Wolfsburg können dank eines Haftbefehls festgenommen werden, „der aus unserer Sicht gültig bleibt, auch wenn er von dem betreffenden Richter des OLG Celle im Eifer des Gefechts mit deutschem Gruß unterzeichnet wurde“, gibt sichder LKA-Chef zuversichtlich. Die Polizei hatte einem Verhafteten nachgewiesen, Bekannte zu haben, die verwandt sind mit Angehörigen der Gruppe Letzte Generation. Zudem waren bei Auswertung der Chatprotokolle eindeutige Äußerungen festgestellt worden: „Ich habe total Angst, kleben zu bleiben.“ Das zeige: „Hier wurde die Selbstfixierung an der Leitplanke der BAB-Auffahrt Wolfsburg-West vorbereitet.“
14. Dass der Protest der Letzten Generation beinahe in Wolfsburg hätte ankommen können, überschattet die Jahres-PK der Volkswagen AG: Vorstands-Chef Oliver Blume widerspricht Darstellungen, die den Verzicht auf die Fabrik für die E-Limousine Trinity auf aktivistischen Druck statt auf konzerninterne Gründe zurückführen. Vor allem, seit Kultusministerin Julia Willie Hamburg (Grüne) den Aufsichtsrat mit eiserner Hand regiere, habe man den Weg zur Abkehr vom motorisierten Individualverkehr gefunden. So widme sich das Werk in Emden künftig der Fahrradherstellung, in Wolfsburg selbst solle der Einstieg in den Straßenbahnbau erprobt werden. Vor allem aber wolle man die eigene Rutschautosparte massiv ausbauen, „vielleicht sogar durch Übernahme des Marktführers Bobbycar“.
April
4. Die Eröffnung der Strecke Hannover–Berlin wird verschoben „auf Brahms’ Geburtstag“, teilt die Deutsche Bahn mit. Johannes Brahms sei halt der wichtigere Komponist, so Bahnchef Lutz.
14. Anja Stahmann lädt zur Einweihung einer Picknickbank am Sodenmattsee. „Essen bringt alle zusammen“, so die sympathische Grünen-Politikerin.
19. In Lubmin explodiert das LNG-Terminal. Robert Habeck schickt eine Videobotschaft: „Dieses Ereignis ist sehr, sehr traurig.“ Man sieht es ihm an!
Mai
7. Beim Besuch der Feier zum 190. Geburtstag von Johannes Brahms in Hamburg verrät Bahnchef Lutz einem Reporter der neuen musik zeitung, dass es sich bei der neuen Orientierung des Konzerns an Lebensdaten von Musikern „nicht um eine bloße Laune“ handele, sondern „um eine ausdifferenzierte Klangoffensive“. Man arbeite an einem ehrgeizigeren Melodiedesign. „Wir nennen es intern den neuen Deutschland-Sound.“
18. Weil sich der Zustand der Hamburger Brücken verschlechtert hat, werden 50 mehr gesperrt als geplant. „Das heißt auch, über 90 Prozent bleiben befahrbar“, beschwichtigt Verkehrssenator Anjes Tjarks (Grüne).
21. Eine Woche nach der Bremer Wahl liegt ein Ergebnis vor: Mit 28 Prozent wird die komplett zerstrittene AfD, deren Spitzenkandidat Eimar Scheiße vor seiner Aufstellung unbekannt war und der auch im Wahlkampf keinen öffentlichen Termin wahrgenommen hatte, stärkste Kraft. Nur knapp im zweistelligen Bereich landen CDU, SPD und Grüne. Mit der MLPD (8,8 Prozent), die nicht alle ihre Mandate besetzen kann, Neuer Anarchistischer Pogopartei (7,3 Prozent), Die Partei (6,7 Prozent) und Volt (5,01 Prozent) sowie einem Bremerhavener FDP-Abgeordneten ziehen mehr politische Kräfte denn je in die Bürgerschaft ein, obwohl Die Linke die Fünfprozenthürde reißt. „Es scheint, als würde sie für ihre konstruktive Arbeit bestraft“, versucht Wahlforscher Lothar Probst eine Einschätzung. „Auch die Werte der Kaspertruppe AfD deuten darauf hin, dass hier der Unterhaltungswert ausschlaggebend war: Wenn den Bremern Demokratie keinen Spaß mehr macht, machen sie halt Späße mit der Demokratie.“
28. Beim HSV heißt es: Wieder kein Aufstieg! Man hat einfach kein Tor mehr geschossen, seit Mäzen Klaus Michael Kühne sein Engagement intensiviert hat. Nach einer furiosen Rückrunde landet dagegen der FC St. Pauli auf Platz 2 – dank der 25 Treffer von Cristiano Ronaldo. Allerdings teilt Präsident Oke Göttlich mit, man habe sich – Unschuldsvermutung hin oder her – vom Edeljoker getrennt und entschieden, „seine Treffer aus moralischen Gründen zurückzugeben“. Der Gang in die 3. Liga sei „schmerzhaft, aber unvermeidlich“.
31. Bei Vorstellung ihres Jahresberichts blickt die Deutsche Flugsicherung auch auf den rasanten Zuwachs im laufenden Jahr: Erstmals überhaupt verzeichne man im ersten Quartal mehr als anderthalb Millionen Instrumentenflüge. Der Boom betreffe vor allem norddeutsche Inlandsstrecken, etwa zwischen Lübeck und Berlin oder Bremen und Osnabrück. Die extremste Wachstumsrate ergebe sich bei Helikopterflügen.
Juni
1. Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) erklärt, das 49-Euro-Ticket nachjustiert zu haben. Fast alle Käufer hätten das Pflichtabo „gleich bei Erwerb, sozusagen in Deutschlandgeschwindigkeit, gekündigt“. Deshalb werde es ab 1. Juli „mit einer Art Eintrittsgeld“ versehen: Wer ein Abo erwirbt, muss gleichzeitig ein iPhone 14 Plus DB SE zum Sonderpreis von 750 Euro kaufen, auf dem allein sich das Ticket anzeigen lasse. „Damit sorgen wir dafür, dass es nicht weiter zur Benachteiligung von Autofahrern kommt, die ja auch ein Endgerät benötigen.“
2. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) fliegt nach Katar, um den wichtigsten VW-Anteilseigner zu beschwichtigen: Das Emirat droht wegen des Konzernumbaus mit einer Klage. Baerbocks Versprechen, künftig bei Trams auch auf dieselbetriebene Lokomotiven zu setzen, „als Brückentechnologie“, beruhigt Scheich Chalid bin Chalifa bin Abdulasis al-Thani zwar zunächst. Als Julia Willie Hamburg Baerbocks Vorschläge im Interview mit der taz nord als „realitätsfern und nicht mit Niedersachsen abgestimmt“ bezeichnet, lässt der Scheich Baerbock verhaften. Erst anlässlich des Nationalfeiertags im Dezember wird sie begnadigt.
15. Auf Geheiß von Verkehrssenator Tjarks sperrt Hamburg alle Tunnel. „Die waren einfach mal dran“, erläutert er.
17. Nachdem Nancy Faeser als SPD-Spitzenkandidatin für die Hessenwahl feststeht, zieht es Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) gen Berlin. Er muss jedoch auf halber Strecke umkehren: Ab der Talbrücke Scheppau besetzen Landwirte die A 2 mit Traktoren, „um ein Zeichen gegen Klimaterror zu setzen“. Pistorius lobt das Engagement der Bauern, die nach zwei Tagen auch zufrieden die Demo auflösen, aber inzwischen hat Kanzler Olaf Scholz bereits Heike Hofmann ins Kabinett berufen. In der Neuen Osnabrücker widerspricht Pistorius der Annahme, er wäre gern im Bundeskabinett gelandet: „Ich habe als niedersächsischer Innenminister eine erfüllende Aufgabe.“
20. Bremens Sechs-Parteien-Koalition steht: Sie wird auch fortgeführt, nachdem der Staatsgerichtshof die AfD-Liste insgesamt für ungültig und nichtig erklärt hatte, was die Mehrheitsverhältnisse im Landtag grundlegend verändert: Mit Eimar Scheiße habe die Partei zwar einen nach Maßgabe ihrer Möglichkeiten überdurchschnittlich seriösen, wohlriechenden und inhaltlich qualifizierten Bewerber auf Listenplatz eins nominiert, so die Urteilsbegründung. Auch scheitere seine Wahl nicht bereits an der konsequenten Fehlschreibung als Eimar Scheiße. Ausschlaggebend sei, dass „bei ihm nicht zu ermitteln ist, ob es sich um tote Materie, ungeborenes oder geborenes Leben handelt“: Da ein Alter und damit auch die Volljährigkeit als Kriterium für die Erlangung des passiven Wahlrechts nur vom Stichtag der Geburt her bestimmt werden könne, sei der gesamte Vorschlag unheilbar korrumpiert und müsse entsorgt werden.
Juli
15. Wie jedes Jahr verteilt die Bremer Sozialsenatorin gemeinsam mit der PSD-Bank 250 Schulranzen an bedürftige Familien. „Die Bank hat die Armen im Blick“, freut sich Anja Stahmann und reckt die sechsjährige Lea in die Kamera.
27. Der Frachter „Panta Rhei“ ist bei der Einfahrt in den Hamburger Hafen festgefahren: Das Schiff der Supersaimax-Klasse mit einem Tiefgang von gerade einmal 5,41 wird vom BUND als „klarer Beweis fürs Scheitern der Baggerpolitik“ gewertet. „Die Maßnahme hatte nicht den Erfolg, den wir uns vorgestellt hatten“, räumt Senatorin Leonhard ein, als sie den gesamten Hafenbetrieb bis auf Weiteres für gesperrt erklärt. Aber immerhin habe Schleswig-Holstein profitiert. Stimmt: Der Schmodderberg ist mit 211 Metern mittlerweile die höchste Erhebung des Landes und ein Touristenmagnet. Ehrgeizige Alpinisten, darunter auch Altstar Reinhold Messner, scheitern an der Erstbesteigung. „Es geht mir nie um die Geschwindigkeit oder die Höhe, sondern darum, ob das Problem auch lösbar ist“, sinniert Messner in Geo. „Dieses Problem scheint mir unlösbar.“
August
14. Hamburg, nahezu nur noch mit Fluggerät passierbar, setzt Zeichen: Mit einem symbolischen Knopfdruck schaltet Anjes Tjarks die letzte Bettelampel ab. „Künftig haben hier Fußgänger Vorrang“, sagt er an der Sülldorfer Landstraße. „So geht Verkehrswende.“
September
13. Bremens Sozialsenatorin weiht (presseöffentlich) eine Computerecke für Senioren in der Begegnungsstätte Haferkamp ein. „Das Internet wird grau!“, prophezeit Anja Stahmann und streicht Karin F. (78) über den Rücken.
29. In der Hamburgischen Bürgerschaft zerlegt sich die Regierungskoalition bezüglich der Frage, ob das Elbtower-Grundstück vom in Wien inhaftierten Bauherrn René Benko zurückgekauft werden soll: Das sei „die feste Absicht des Senats“, verkündet der Erste Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD), woraufhin die aufgeschreckten Grünen-Senator*innen protestieren, das habe ihnen bislang noch keiner mitgeteilt. Tschentscher: „Na, dann wissen Sie’s halt jetzt!“ Protestierend verlassen Katharina Fegebank, Jens Kerstan und Anjes Tjarks die Regierungsbank und Anna Gallina fällt vor Schreck das Hummerbrötchen aus der Hand: „Das haben Sie absichtlich getan!“, fährt Andy P. Grote sie an, dessen Schoß jetzt voll Majonäse ist. Der Bruch ist nicht mehr zu kitten, es werden Neuwahlen für das kommende Jahr angekündigt.
Oktober
3. Zum Tag der Deutschen Einheit eröffnet Robert Habeck in Greetsiel Deutschlands 20. LNG-Terminal. „Langsam gehen uns die Seehäfen aus“, scherzt der Wirtschaftsminister. „Das ist ein guter Tag für Deutschland“, sagt er in der Einweihungsrede, „zumal wir mit den fünf oder sechs explodierten Teilen im ersten Halbjahr echt eine Pechsträhne hatten.“ Aber Deutschland sei nicht nur schnell, sondern auch schnell lernfähig. „Und bei aller berechtigten Kritik: Ich sehe das als wichtigen Schritt, der mich Mut schöpfen lässt, dass wir die Energiewende wuppen können.“ Bewiesen habe man nämlich, „dass wir aus einem beliebigen Energieträger, das war hier russisches Pipelinegas, komplett raus können und schaffen, ihn in nicht mal einem Jahr vollständig durch einen anderen zu ersetzen.“ Klar, Flüssiggas das sei noch nicht das Ende vom Lied. „Aber ich muss euch sagen, ganz ehrlich, das macht mir total Mut für die Erneuerbaren.“
4. „Wir sind froh über die Bilder, um etwas gegen diese quälerische Massentierhaltung unternehmen zu können“, teilt Andrea Zaldivar Maestro, Sprecherin der niedersächsischen Landwirtschaftsministerin Miriam Staudte, der Bild mit: Geheime Videoaufnahmen aus einem Großstall in Ostfriesland hatten miststarrende Kühe mit großteils hochgradig entzündeten Eutern gezeigt. „Irre: Regierungssprecherin kämpft Seit an Seit mit Stalleinbrechern!“, startet die Bild-Kampagne. Die wird zur Belastungsprobe für die Landesregierung, als sich herausstellt, dass der beschuldigte Landwirt Patenkind des ehemaligen SPD-Agrarministers Karl-Heinz Funke ist. Innenminister Pistorius (SPD) stellt klar, dass „in unseren Ministerien kein Platz sein darf für Terror-Helferinnen.“ Staudte entschärft den Konflikt: Zaldivar Maestro übernimmt eine innendienstliche Aufgabe ohne Sprechbefugnis im Referat 407 (Moorverwaltung).
22. Zum Jubiläum des westfälischen Friedens macht die niedersächsische Landesregierung auf Anregung von Julia Willie Hamburg einen Bobbycar-Korso durch Osnabrück. „Wir zeigen damit unsere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit“, sagt Ministerpräsident Stephan Weil (SPD).
November
9. Der Erlass von Bremens Innensenator Ulrich Mäurer (SPD), nach dem Schwarze Kinder grundsätzlich Waisen sind, wird vom Flüchtlingsrat als „zutiefst rassistisch“ gerügt. „Unsinn“, weist Mäurer solche Unterstellungen von sich. „Wenn ich gegen Schwarzarbeit vorgehe, ist das ja auch nicht rassistisch.“ Er habe einfach handeln müssen, sagt er dem Weser-Kurier. „Diese Drogendealer, die Mütter, die behaupten, die deutschen Männer, die sich als Väter ausgeben, seien die Väter der Kinder und müssten in die Geburtsurkunde eingetragen werden, und dieses Geknatsche, weil wir den Kindern die Geburtsurkunde verweigern – das schadet dem Ansehen unserer Stadt.“ Im Kommentar lobt ihn Weser-Kurier-Redakteur Ralf Michel: Nicht alle müssten Mäurers Linie teilen. Aber keiner könne leugnen, dass er eine klare Linie hat. „Das mit Rassismus zu verwechseln, ist unterste Schublade, Cancel-Kultur.“
Dezember
6. Ein geplanter Hubschrauberlandeplatz bringt die Bremer Multi-Koalition an den Rand des Scheiterns: Die SPD weigert sich, höhere Landelizenzgebühren einzuführen, doch die Anarchistische Pogopartei mahnt zur Haushaltsdisziplin: „Der Bremen-Fonds 3.0 darf kein Fass ohne Boden sein.“ Von einem Tag auf den anderen wirft daraufhin SPD-Bürgermeister Andreas Bovenschulte hin: „Ich hab jetzt endlich Zeit für Rockmusik“, verrät er Radio Bremen TV. Zum Glück einigt sich die Koalition auf eine Nachfolge: „Aufgrund ihrer vielfältigen Verdienste“ wird die Sozialsenatorin Anja Stahmann zur Bürgermeisterin gewählt, denn sie ist beliebt.
31. Gegen den Trend hat Sylt auf Betreiben gut zahlender Gäste das Böllerverbot aufgehoben: Zum „großen Knall von Kampen“ geladen hat ein blonder, extrem lässiger, 1,86 Meter großer Podcaster, von seinen Followern respektvoll „Der Finanzminister“ genannt, der bei der Party auch selbst auflegt: „Bis Mitternacht warten ist nicht Syltgeschwindigkeit“, shoutet er um 22.30 Uhr in die koksgeschwängerte Luft. „My God, ich habe hier geheiratet, jetzt kann ich es hier auch krachen lassen!“ Ein Gedanke, den viele mit ihm teilen: Schon hat sich die Insel in einen pfeifenden, funkensprühenden und glitzernden Planeten aus Flammen und Rauch verwandelt, der völlig außer Kontrolle gerät. Privatjets und Hubschrauber verlassen die glühende Insel. Um 23.59 Uhr steht nur noch Jörg Otto, der letzte Punk des Sommers 2022, vor den rauchenden Trümmern seiner geliebten Wahlheimat, die er versucht hat zu retten. Aber vergebens: Kampen, das ist eine schlimme Geschichte mit einem traurigen Ende. Genau wie das Jahr 2023.
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