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Karlsruher Urteil zu EU-SchuldenKlüger, als das Recht erlaubt

Christian Rath
Kommentar von Christian Rath

Es ist ein Gebot juristischer Klugheit, bei der Auslegung der EU-Verträge großzügiger zu sein als bei der Auslegung des Grundgesetzes.

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts am Dienstag Foto: Uli Deck/dpa

D as Bundesverfassungsgericht akzeptiert, dass die EU Schulden machen darf – zwar nur für bestimmte Zwecke, befristet und in der Höhe beschränkt. Aber immerhin. Vor einigen Jahren hätte sich niemand vorstellen können, dass Karlsruhe so etwas durchgehen lässt. Die Zeitenwende ist offensichtlich auch am Bundesverfassungsgericht angekommen. Alle müssen alte Gewissheiten beiseitelegen.

Welchen Sprung das Verfassungsgericht hier gemacht hat, versteht man schnell, wenn man das Minderheitsvotum von Verfassungsrichter Peter Müller liest, der als Einziger an der alten strengen Karlsruher Linie festhält: Die Verträge sehen keine Kreditaufnahme durch die EU vor, also kann auch ein Mega-Ereignis wie die Coronapandemie hieran nichts ändern. Wer einmal eine Ausnahme zulässt, lädt nur dazu ein, neue Ausnahmen zu erfinden, so Müllers Argumentation.

Zwar räumen auch Kritiker des schuldenfinanzierten EU-Corona-Fonds ein, dass es hierfür gute politische Gründe gebe. Aber wenn etwas vertraglich nicht vorgesehen ist, müssten eben die EU-Verträge geändert werden. Juristisch ist das logisch.

Doch wer so argumentiert, macht die EU kaputt. Denn die Hürden für eine Vertragsänderung sind ungleich höher als innerstaatliche Hürden für eine Verfassungsänderung. Das Grundgesetz kann mit Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat an neue Anforderungen angepasst werden. Einer Änderung der EU-Verträge muss dagegen jeder einzelne der 27 EU-Staaten zustimmen, auch Problemstaaten wie Polen und Ungarn. Vor allem aber sind in vielen EU-Staaten Volksabstimmungen erforderlich, die oft von Po­pu­lis­t:in­nen für ihre Zwecke gekapert werden.

Es ist daher ein Gebot juristischer Klugheit, bei der Auslegung der EU-Verträge großzügiger zu sein als bei der Auslegung des Grundgesetzes. Auch die EU muss sich neuen Bedürfnissen anpassen können. Sie ist zwar kein Staat, sondern „nur“ ein Staatenverbund. Aber ohne EU wären die 27 Mitgliedstaaten politisch irrelevant. Die Mehrheit des Zweiten Senats am Bundesverfassungsgericht hat dies wohl erkannt. Sie hat den von allen EU-Staaten mitgetragenen kreditfinanzierten EU-Corona-Fonds deshalb trotz großer juristischer Bedenken nicht beanstandet.

Es ist eine Ironie dieses Urteils, dass es ausgerechnet von dem Ex-Politiker Peter Müller abgelehnt wird, obwohl er doch ins Verfassungsgericht gewählt wurde, um dort politisches Denken fruchtbar zu machen. Doch nun argumentiert Müller wie ein stockkonservativer Rechtsprofessor, während die tatsächlichen Pro­fes­so­r:in­nen und ehemaligen Bun­des­rich­te­r:in­nen zeigen, dass auch Ju­ris­t:in­nen politisch denken können und manchmal klüger sind, als das Recht erlaubt.

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Christian Rath
Rechtspolitischer Korrespondent
Geboren 1965, Studium in Berlin und Freiburg, promovierter Jurist, Mitglied der Justizpressekonferenz Karlsruhe seit 1996 (zZt Vorstandsmitglied), Veröffentlichung: „Der Schiedsrichterstaat. Die Macht des Bundesverfassungsgerichts“ (2013).
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16 Kommentare

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  • Nein, Herr Rath, das Urteil entspricht nicht einem Gebot juristischer Klugheit, sondern ist Ausdruck politischer Willfährigkeit des Bundesverfassungsgerichts. Richter Müller nimmt es in seinem Sondervotum überzeugend auseinander. Das Urteil ist hier zu finden: www.bundesverfassu...06_2bvr054721.html



    Das Sondervotum von Müller steht am Ende. Die Senatsmehrheit (6:1) erkennt durchaus die Verstöße der Kreditaufnahme gegen die EU-Verträge, mogelt sich aber mit dem Scheinargument darum herum, die Verstöße seien nicht "offensichtlich". Mit einer solchen Argumentation kann man praktisch jede Regelung außer Kraft setzen.

    Ich frage mich immer, was die EU-Fans eigentlich unter "europäischer Einigung" verstehen. Die Inhalte der Einigung der 27 EU-Staaten sind in den EU-Verträgen (EUV/AEUV) festgelegt. Eine Maßnahme, die gegen die EU-Verträge verstößt, ist gerade nicht das, worauf sich die Vertragsstaaten geeinigt haben. Und das Argument von Herrn Rath, dass die in einigen EU-Staaten für Vertragsänderungen erforderlichen Volksabstimmungen oft von Populisten gekapert würden, zeugt von einer Ablehnung demokratischer Entscheidungsprozesse. Bei der durch eine Volksabstimmung durchgesetzten Homo-Ehe im katholisch geprägten Irland oder der Ablehnung der Ausrichtung Olympischer Spiele in Hamburg durch die von Scholz selbst angesetzte Volksabstimmung hat sich die Vernunft durchgesetzt. Soll die Legitimität dieser Entscheidungen jetzt auch in Frage gestellt werden?

  • "Es ist ein Gebot juristischer Klugheit, bei der Auslegung der EU-Verträge großzügiger zu sein als bei der Auslegung des Grundgesetzes."

    Betrachtet man die realen Folgen solcher "juristischer Klugheit", und insbesondere die Folgen für diejenigen, die schon zuvor alleine aufgrund der Nichtdeckung ihres tatsächlichen Existenzminimums nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sozial, gesundheitlich und in ihrer dadurch verursachten Lebenerwartung massiv benachteiligt waren, dann wäre eine Erweiterung dieser Aussage angemessen und ebenso eine Formulierung, durch die die Bedeutung verständlicher erklärt wird.

    Es geht dann nicht darum, daß das EU-Gesetz plötzlich über dem Grundgesetz stehen soll, sondern es geht auch noch darum, daß es obendrein in Teilen auch über den Menschenrechten stehen soll und darüberhinaus auch über sich selbst, indem es sogar seine eigenen Regeln aushebelt, die ursprünglich die Bedingung dafür war, daß es die EU überhaupt geben konnte.

  • Ich weiß nicht: erwartet man von einem Gericht nicht die Anwendung des Rechts? Trump hat doch mit den Richterernennungen vorgeführt wie es nicht gehen soll. Ist nicht auch die Kritik an Polen, dass sie politisch genehme Richter eingesetzt haben? Und das jetzt als Lob weil einem ein Urteil gefällt?

    • @GregTheCrack:

      Genau das ist der Gedanke, der mir dabei die ganze Zeit durch den Kopf geht. Sie haben das Urteil richtig eingeordnet.

      Ich finde es vollkommen unverständlich, wie sich das Bundesverfassungsgericht auf eine so niedrige Stufe herablassen konnte.

      So schlechte Urteile sollte man nicht auch noch sehenden Auges loben; insbesondere bei fachlichem Hintergrund.

  • Das hätte Deutschland noch gefehlt.

    Das war der Versuch, sich durch die Hintertür seinen Verpflichtungen zu entledigen. Zum Glück gescheitert. Gut zu wissen, dass zumindest die Richter nicht Deutschland noch mehr in der EU isolieren. Weiter so

    • @V M:

      Für micht rückt damit die EU weiter in die Delegitimation. Ich erwarte, dass die EU sich anstrengt die Bürger zu überzeugen ihr mehr Legitimität zu geben. Solche Urteile stützen doch nur das Hinterzimmergeklüngel der EU-Kommission und der Regierungen untereinander.

  • 6G
    650228 (Profil gelöscht)

    Eines macht dieses Urteil mal wieder gnadenlos deutlich: Was als "Recht" gilt, hängt ausschließlich von den Personen ab, die darüber entscheiden. Da kann der Gesetzgeber formulieren was und wie er will. Das geht schon sehr in Richtung Supreme Court.

    Das Problem: Wenn sich in der Breite der Richterschaft erst mal der Eindruck verfestigt hat, dass es durchaus legitim ist, auch ausdrückliche Vorgaben des Gesetzgebers (klarer als "no bail out" kann man es kaum formulieren) im Ergebnis zu ignorieren - dann gute Nacht. Denn irgendein juristisches Argument findet man immer und sei es nur eine teleologische Reduktion, eine planwidrige Regelungslücke oder "unvorhersehbare Sondersituation".

  • Da hat Herr Peter Müller wohl seinen Auftrag nicht verstanden.



    Chapo, Herr Rath!

  • 6G
    654238 (Profil gelöscht)

    www.bpb.de/themen/...ische-integration/

    Und was ist jetzt daran neu das die EU keine Kredite aufnehmen kann? Und die EZB als Zentralbank von Europa schon? Und was soll daran neu sein das Mitgliedsländer die Kredite aufnehmen und als Fonds oder Sicherheiten stellen? Wo ist die EU eigentlich Demokratisch? Wenn Trialog eine Komission vorgibt , ein Rat prüft und Kommision Entscheidungen vorlegt und dann dieses von Bürgern gewählte Parlament nur abnickt oder Widerspruchsrecht hat? Wo einzelne EU Abgeordnete sich dann bei EBI und Petionen gegen diese Entscheidungen mobilisieren? Dann kann man sich doch Parlament und 40.000 EU Beamte/Angestellte und 60.000 Lobbyisten direkt sparen und die ganzen Reisekosten ff.

  • Der extrem gute Ruf des Bundesverfassungsgerichts, als Hüter des Rechts, ist schon seit Jahren mit Füssen getreten, plattgewalzt, totgetrampelt worden. Wann immer man in den letzten 15 Jahren eine Korrektur vermeintlichen oder offensichtlichen Unrechts (Unrecht auf geschriebenes Recht bezogen) der Politik erhoffte, konnte man sicher sein, dass das Recht geschleift wurde.

    Ich bin nicht einmal mehr überrascht.

  • Jedes Grundlagengesetz sollte in gleicher Form, Art und Weise ausgelegt werden. Es gibt keinen Anlass für unterschiedliche Beurteilungen. Die derzeitige Entwicklung führt zu einer schrankenlosen Politik, ohne jede Kontrolle durch die Gerichte.

    Die EU-Grundlagenverträge werden damit vollkommen wertlos.

  • Liggers. Daß das BVerfG & der EuGH sich mehr & mehr zum Motor der EU entwickeln - ist das zu begrüßende eine.



    Kipp aber mal ein wenig Müller Milch der frommen Denkungsart hinein.



    Es war kein geringerer als der gut politisch denkende Weggefährte Verfassungsrichter Jürgen Kühling - der vor einem Richterstaat - er nannte wenn ich’s recht erinner Japan - zu recht warnte.



    “Quis custodiet ipsos custodes?“ - der steinalte Spötter Juvenal - “Aber wer bewacht die Wächter?” - hat gerade dazu a la long seine Berechtigung.



    Zumal die “komplett undemokratische“ EU-Kommission (ein anderer Weggefährte & Insider) von einem “hinkenden Parlament“ ( zu recht Karlsruhe) nur peripher kontrolliert wird •

    unterm—— servíce —



    en.wikipedia.org/w..._ipsos_custodes%3F



    “Quis custodiet ipsos custodes? is a Latin phrase found in the work of the Roman poet Juvenal from his Satires …It is literally translated as "Who will guard the guards themselves?", though it is also known by variant translations, such as "Who watches the watchers?" and "Who will watch the watchmen?".

    The original context deals with the problem of ensuring marital fidelity, though the phrase is now commonly used more generally to refer to the problem of controlling the actions of persons in positions of power, an issue discussed by Plato in the Republic. It is not clear whether the phrase was written by Juvenal, or whether the passage in which it appears was interpolated into his works.…



    In his 2013 report to the UN Human Rights Council, Alfred-Maurice de Zayas, …“Crucial remains the conviction that the government should serve the people and that its powers must be circumscribed by a Constitution and the rule of law. Juvenal's question quis custodiet ipsos custodes (who guards the guardians?) remains a central concern of of democracy, since the people must always watch over the constitutional behaviour of the leaders and impeach them if they act in contravention of their duties. Constitutional courts….

  • Ich erinnere nahezu keinen Fall, der in Karlsruhe nicht politisch entschieden wurde. Herr Müller war als Politiker stockkonservativ und wurde vom Saarland nach Karlsruhe "befördert".

  • Danke Herr Rath für diesen Kommentar. Volle Zustimmung!

    "Aber ohne EU wären die 27 Mitgliedstaaten politisch irrelevant."

    Die EU ist eine supranationale Rechtsgemeinschaft. Die Menschen, die in der EU leben, können sich glücklich schätzen.

    Nicht ohne Grund haben sich die Bürger im Laufe der Zeit für die Unterzeichnung der EU-Verträge entschieden. Die ständigen Angriffe nationaler Geister dürfen diesen historischen Gewinn nicht zerstören.

    • @Cervo:

      Was sind den die Verträge noch wert, wenn sie offen von der Regierung gebrochen werden und die Gerichte sie nicht in die Schranken verweisen?

      Für welche Verträge haben sich die Bürger entschieden, wenn deren Anwendung und Grenzen so einfach hinweggewischt werden können?

      • 6G
        650228 (Profil gelöscht)
        @DiMa:

        Genau so ist es 👍