Beim Bummeln durch die Stadt: Und dann begegnet man dem Hass
Es ist nicht schön, wenn man auf der Straße grundlos angeschrien wird. Wenn jemand vor Wut spuckt. Und wenn man einfach weitergeht.
W enn ich durch die Stadt bummele, finde ich immer was, der Boden ist voller Dinge und nie ist er voller, als im Herbst. Im Herbst fällt auf einmal alles runter, der Wind wirbelt es durcheinander und dann liegt es wieder still und fault vor sich hin, anfangs noch hübsch bunt, später braun und schwarz und modrig.
Das ist der Herbst. Er ist so schön. So dunkel. So sonnig. So warm.
Dieses Jahr war der Herbst so warm. Ich gehe in ihm herum und finde Sachen. Ein Pappkarton mit Geschenken: Ein Edelstahlpflegespray, ein Bauklötzchen, auf dem der hintere Teil einer Kuh abgebildet ist, und eine auf MDF-Platte aufgezogene Fotografie. Ein Mann und ein Junge, im Hintergrund Berge.
Ich bummele weiter und denke, warum? Immer weiter schlendere ich und denke immer weiter, warum?
Warum will man ein privates Foto verschenken? Man kann doch so ein Foto nicht verschenken, wenn es die Leute noch gibt. Und wenn es sie nicht mehr gibt? Dann legt man doch erst recht das Foto dieser toten Leute nicht auf die Straße? Und wer überhaupt soll so ein Foto von unbekannten Leuten geschenkt haben wollen? (Dieses Foto war ja auf keine Weise ein irgendwie künstlerisches Foto, es hatte ja, außer für die abgebildeten Menschen, gar keinen erkennbaren Wert. Ich würde sogar sagen, es war kein besonders gutes Foto.)
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Ich grübele also, bis mich in der Bahrenfelder Straße eine Frau anschreit. Sie hasst mich aus ganzem Herzen, das kann ich in ihren Augen sehen. Sie schreit mich in einer mir unverständlichen Sprache an, einer möglicherweise jedem Menschen auf der Welt unverständlichen Sprache, außer natürlich ihr. Sie ist normal gekleidet, sieht nicht schmutzig oder verwahrlost aus, ungewöhnlich ist nur ihr Hass.
Sie spuckt vor Wut. Sie stampft mit den Füßen auf und ihre Stimme überschlägt sich, wird rau. Sie brüllt wie ein Tier und sie hasst mich. Sie hasst jeden Menschen, der ihr zufällig entgegenkommt.
Ich frage mich, ob man ihr helfen könnte. Sie wirkt nicht verletzt oder als ob sie körperliche Schmerzen hätte, sie scheint nur sehr wütend. Und ich habe Angst. Ich weiß nicht, wozu sie fähig ist. So laufe ich an ihr vorbei.
Die Leute laufen alle an ihr vorbei. Die Frau schreit die Leute an, die Leute laufen vorbei, als würden sie überhaupt nicht angeschrien, und so geht es eben. So geht es immer. Es ist normal. In der Stadt laufen Leute herum, die einen anschreien. Das hat man schon erlebt. Das ist die Stadt. Da kann man nichts machen.
Auch in meinem Haus wohnt ein Schreier. Er reißt sein Fenster im Erdgeschoss auf und schreit: „Ihr Amifotzen! Putin wird kommen – und – euch alle töten!“ Leute laufen an ihm vorbei und tun, als wären sie nicht gemeint. Dabei sind sie gemeint. Wir alle sind gemeint. Ich will das Haus verlassen, ich öffne die Haustür, da steht er vor mir und schreit mir mitten ins Gesicht: „Die Deutschen haben nichts aus ihrer Geschichte gelernt!“
Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Die Worte hören sich nicht vollkommen falsch an, auch wenn er etwas ganz und gar Falsches damit meint. Ich sage „Okay“ und gehe meiner Wege. Was soll man tun? Ich weiß es nicht.
Als ich wieder an der Kiste vorbeikomme, sehe ich mir das Bild mit den fremden Leuten genauer an. Sie schreien nicht, sie spucken nicht, sie liegen nur so da, in einer Zu-verschenken-Kiste und wollen, dass man sie als Geschenk annimmt, dass jemand sie haben will. Aber das will nun mal niemand. Ich glaube nicht.
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