Nach Raketeneinschlag in Polen: Zwei Raketen und viele Fragen
Es ist ein Kollateralschaden russischer Angriffe auf die Ukraine. Worüber die Welt seit dem Einschlag der Raketen an der polnischen Grenze spricht.
War das wirklich der Startschuss zum Dritten Weltkrieg? Die ursprüngliche Nachricht, die der Journalist Mariusz Gierszewski vom polnischen Radiosender ZET um 18.28 Uhr verbreitete, lautete „Inoffiziell: Zwei verirrte Raketen sind in der Stadt Przewodów in der Woiwodschaft Lublin nahe der Grenze zur Ukraine niedergegangen.
Sie trafen die Getreidetrocknungsanlage. Zwei Menschen starben. Polizei, Staatsanwaltschaft und Armee sind vor Ort.“ Der Sender präzisierte anderthalb Stunden später auf seiner Webseite: „Radio-ZET-Reporter Michał Dzienyński fand heraus, dass die Explosionen beim Auffahren eines Traktors auf die Waage aufgetreten sind. Wir wissen nicht, was passiert ist, das Gebiet ist gesichert, sagte uns der Sekretär der Gemeinde Dołhobyczów.“
Die Regierungen Polens sowie der USA bestätigten ausdrücklich nicht die Angabe der Nachrichtenagentur AP unter Berufung auf US-Geheimdienste, es handele sich um „russische Raketen“.
Spekulationen und Propaganda
Der Propagandakrieg zwischen Moskau und Kiew ging derweil seinen Gang. „Russischer Raketenterror“ habe in Polen getötet, erklärte Ukraines Präsident Wolodimir Selenski in der Nacht. Das bedeute eine gravierende Eskalation, es müsse eine Reaktion geben: „Es besteht Handlungsbedarf.“ Fast zeitgleich erklärte Russlands Verteidigungsministerium den Vorfall zu einer „Provokation“, mit der man „nichts“ zu tun habe.
Im russischen Fernsehen wurden widerstreitende Spekulationen geäußert: Es sei gar nichts passiert, es war die Ukraine selbst, es war Großbritannien. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba fühlte sich davon an die Moskauer Desinformation über den russischen Abschuss des Passagierflugzeuges MH17 über ukrainischem Gebiet im August 2014 erinnert und ärgerte sich auf Twitter: „Jetzt befördert Russland eine Verschwörungstheorie, dass es angeblich eine Rakete der ukrainischen Luftabwehr war, die auf polnisches Gebiet gefallen ist. Was nicht stimmt. Niemand sollte der russischen Propaganda glauben oder ihre Botschaft verbreiten.“
Aber was am späten Dienstagabend für die Ukraine noch „Verschwörungstheorie“ war, ist am Mittwoch für Polen die wahrscheinlichste Erkenntnis. Es sei „höchstwahrscheinlich“, dass es eine Rakete der ukrainischen Luftabwehr gewesen sei, sagte Polens Präsident Andrzej Duda am Mittwochmittag. Es gebe keinen Hinweis für einen Angriff auf Polen.
In der Nacht war Duda sich noch nicht so sicher gewesen. „Wir haben im Moment keine schlüssigen Beweise dafür, wer diese Rakete abgefeuert hat“, hatte er gesagt: „Es war höchstwahrscheinlich eine Rakete aus russischer Produktion, aber das wird im Moment alles noch untersucht.“
Trümmer vom selben System
Wenig später hatte aber US-Präsident Joe Biden auf Bali, wo er und die anderen G7-Staats- und Regierungschefs zum G20-Gipfel weilten und sich zum nächtlichen Krisengespräch trafen, die These eines russischen Beschusses in Zweifel gezogen: „Es gibt vorläufige Informationen, die das bestreiten. Ich möchte das nicht sagen, bevor wir es nicht vollständig untersucht haben, aber angesichts der Flugbahn ist es unwahrscheinlich, dass sie von Russland abgefeuert wurde.“
Am Mittwoch verfestigte es sich zur Gewissheit, dass es sich bei dem Raketentreffer in Polen, egal ob Russland oder die Ukraine der Urheber war, um ein Versehen gehandelt hat – entweder ein fehlgeleiteter russischer Angriff oder eine an der falschen Stelle niedergegangene ukrainische Abwehrrakete, oder beides.
Bilder vom Tatort, deren Echtheit nicht bestätigt ist, zeigen Trümmer, die laut Experten dem ursprünglich sowjetischen Luftabwehrsystem S300 entsprechen. Dieses wird von beiden Ländern eingesetzt. Die Ukraine fängt damit russische Angriffe ab, wobei schon mehrfach heruntergefallene eigene Raketenteile Schäden am Boden angerichtet haben. Russland hat S300-Systeme in Belarus stationiert und soll sie zum Teil für Angriffe auf Bodenziele umgebaut haben, deren Effektivität allerdings umstritten ist.
Tief in der Nacht meldete sich der polnische Radiojournalist Gierszewski wieder und bestätigte: „Meine Quellen in den Diensten sagen, dass das, was Przewodów getroffen hat, höchstwahrscheinlich die Überreste einer Rakete sind, die von den ukrainischen Streitkräften abgeschossen wurde.“
1 + 1 = 2 Raketen
Dass eine ukrainische Rakete eine russische Rakete abgefangen habe, ist auch für den deutschen Waffenjournalisten Lars Winkelsdorf die plausibelste Erklärung: „Schießt man mit einer Rakete auf eine fliegende Rakete und trifft die, dann hat man exakt zwei Raketen, die dann gen Boden unterwegs sind, wenn auch nunmehr eher teilweise“, erläutert er auf Twitter. Der Sprengkopf der getroffenen Rakete könne dann am Boden explodieren. „Dann entsteht so ziemlich exakt das Bild, das gerade in Polen festgestellt wurde.“
Diese Feststellung nimmt der Situation allerdings nicht ihre Brisanz, denn dann hat es nicht nur eine ukrainische Abwehraktion gegeben, sondern auch einen russischen Beschuss. Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki sagte am Nachmittag, zu der Explosion in Przewodów sei es wahrscheinlich in der Folge eines Abschusses einer russischen Rakete gekommen; es sei eine sowjetische Flugabwehrrakete in ukrainischem Besitz auf polnisches Gebiet gefallen.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sprach am Mittwochmittag von der ukrainischen Abwehr eines russischen Marschflugkörpers. Diese Raketen werden ferngesteuert, und dabei können Fehler geschehen. Die Zeitung Ukrainska Pravda berichtete unter Berufung auf polnische Militärexperten, es seien Trümmer identifiziert worden, die von einem Marschflugkörper des von Russland verwendeten Typs Kh-101 stammen könnten. Die Regierung der Ukraine fordert nun Zugang zum Einschlagsort in Polen.
Sergej Sumlenny, ehemaliger Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew, weist darauf hin, dass Przewodów nahe der Stromtrasse liegt, die die Stromnetze der Ukraine und Polens verbindet – seit Februar ist die Ukraine dadurch an das EU-Stromnetz angeschlossen und nicht mehr an das russische, und sie exportierte darüber zuletzt Strom nach Polen. Auf der ukrainischen Seite der Grenze befindet sich das Kraftwerk Dobrotwirska, wo die Leitungen aus der Ukraine Richtung Polen zusammengeführt werden.
Zynische Berechnung
Dobrotwirska war am Dienstag eines von vielen Zielen einer erneuten massiven russischen Angriffswelle auf die Ukraine. Seit Oktober, als der für seine brutale Kriegsführung in Syrien berüchtigte General Sergej Surowikin das Kommando der russischen „Spezialoperation“ übernahm, gibt es immer wieder Luft- und Raketenangriffe auf das gesamte Land, die vor allem der Zerstörung der ukrainischen Infrastruktur und Energieversorgung gelten.
Die Angriffe am Dienstag waren die schwersten auf das ukrainische Stromnetz seit Kriegsbeginn, erklärte am Abend der stellvertretende ukrainische Energieminister Jaroslaw Demtschenkow. Der staatliche Energieversorger Ukrenergo erklärte nach den Angriffen, die Situation sei „so ernst wie nie“, und führte aus: „Objekte im ganzen Land kamen unter Beschuss.
Seit Anfang Oktober ist dies der sechste massive Angriff auf die Energieinfrastruktur des Landes, diesmal der größte: etwa 100 Raketen. Jede Rakete flog mit dem Ziel, die Ukraine in die Dunkelheit zu werfen. Der Angriff wird mit zynischer Berechnung ausgeführt, in dem Moment, wo der Spitzenverbrauch beginnt.“ Russlands Verteidigungsministerium bestätigte die Angriffe auf die Energieinfrastruktur und erklärte, sie hätten ihre Ziele erreicht.
Die Angriffe setzten am Dienstag gegen 15 Uhr ein, der Raketeneinschlag in Polen erfolgte gegen 16 Uhr, zum Höhepunkt des landesweiten Raketenterrors. Mehrere Angriffswellen trafen Kiew, es gab Tote und Verletzte, in Teilen der Hauptstadt fiel der Strom aus, ebenso im gesamten Gebiet Charkiw. In der Südukraine saßen 566 Bergleute in einer Eisenerzmine durch Stromausfall in der Grube fest und mussten gerettet werden.
Zehn Millionen ohne Strom
In der westukrainischen Stadt Lwiw, in deren Nähe das Kraftwerk Dobrotwirska liegt, fiel der Strom zu 80 Prozent aus, die Wärmeversorgung musste eingestellt werden. Die Situation sei „kritisch“, sagte am Abend Kyrylo Tymoshenko, Vizechef der Präsidialverwaltung. Zehn Millionen Menschen seien landesweit ohne Strom, erklärten die Behörden am Mittwoch.
Auch Nachbarländer waren betroffen. Die russischen Öllieferungen an Ungarn über die Druschba-Pipeline, die durch die Ukraine verläuft, wurden von der Ukraine wegen Beschädigung der Einrichtungen kurzzeitig ausgesetzt. Die Republik Moldau meldete Stromausfälle, nachdem eine wichtige Leitung aus der Ukraine notabgeschaltet wurde. Auch zwei ukrainische Atomreaktoren mussten vom Netz getrennt werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen