piwik no script img

Buch zur Fußball-WMBleibender Zwiespalt

Von '54 bis zur Wüstendiktatur: Ein kluges wie witziges Buch schildert die Entwicklung der Fußball-WM. Eine Frage: Wird der Sport Katar überleben?

Daumen hoch: Argentiniens Junta-Chef Jorge Videla nach dem Finale der WM 1978 Foto: Werek/imago

Wenn die Creme des deutschen Fußballjournalismus in die Tasten haut, darf man einiges erwarten. Und was Christoph Biermann (11 Freunde), Kurt Röttgen (ehemals Spiegel), Javier Cáceres (Süddeutsche), Christian Eichler (FAZ) und viele andere zu sagen haben, ist rundum großartig, erhellend, schräg, besonders. Entstanden ist ein politisches Fußballbuch über die lange Entwicklung der Weltmeisterschaften bis heute, voller Anek­doten, grandioser Geschichten und intensiver, kontroverser Debatten um Katar.

Zu den WM-Anfängen hat Herausgeber Gerhard Waldherr (ehemals SZ und Stern) Gerd Raithel besucht, heute 91, der als junger Reporter bei der WM 1954 dabei war. Auch Journalisten mussten Kaufkarten erwerben, schildert Raithel, Presseinfos gab es nicht, man sprach mit keinem Spieler, „weil der Chef das nicht gerne gesehen hat“. Dabei sein war schon alles. Das Spiel kam, der Reporter schrieb. Fertig.

Vom Chef, also Bundestrainer Sepp Herberger, findet sich ein rührend-komischer Brief von 1968 in einem dermaßen verwinkelt-umständlichen Schreibstil, als wolle er dem Tikitaka-Fußball auf seiner Schreibmaschine vorgreifen.

Da ist auch die Reportage um eine skurrile Begegnung 1990 mit Roger Milla in dessen Hotelzimmer oder die Geschichte um Helmut Hallers Finalball-Diebstahl von 1966. Unter dem Titel „Licht und Gestalt“ erklärt Hanns-Bruno Kammertöns (Zeit) die groteske Hingabe an den Schaumermal-Beckenbauer 2006: „Gerade das, was er nicht sagte, wurde sofort notiert.“

Faszination und Missbrauch

Nostalgie? Verklärung? Nein, sondern haarscharf und mit Witz analysiert, aus der Nähe beobachtet und mit gebotener Distanz erzählt. Die Texte mäandern zwischen der unauslöschlichen Faszination des Fußballs und der jahrzehntelangen Kaskade am Missbrauch des Spiels durch Funktionärs-Oligarchien, die in den aktuellen Katar-Ekel mündet.

WM-Buch

Gerhard Waldherr (Hg.): „Die WM und ich. Reporter erzählen“. ‎ Verlag M/ELEVEN, Oktober 2022, 320 Seiten Hardcover, 28 Euro

Katar ist ein großer Block in der Buchmitte gewidmet. Ist Fußball in der Wüstendiktatur wirklich das „Nine Eleven des internationalen Fußballs“, fragt überspitzt der Fußballhistoriker Dietrich Schulze-Marmeling und beschreibt die verkommene Entwicklung seit der Junta-WM in Argentinien 1978, damals unter ekliger Assistenz des DFB übrigens. „Totalitarismus und Sport vertragen sich gut. Funktionäre sehen in Diktatoren und Autokraten keine Feindbilder, sondern Gleichgesinnte, Seelenverwandte.“ Größte Gemeinsamkeit: „Sie schwelgen in Allmachtsphantasien.“

Ronald Reng argumentiert: „Das Gefühl der Hyperkommerzialisierung ist ein eurozentristisches.“ Tatsächlich sind viele Menschen weltweit einfach glücklich, eine WM verfolgen zu können, egal wo sie stattfindet – Reng führt St. Helena an, wo erstmals zur WM 1998 ein TV-Signal ankam. Oder in weiten Teilen arabischer Staaten, wo Stolz herrscht, dass der Ausrichter erstmals aus dem eigenen Kosmos stammt.

Aus welchem Land die Bilder aus wechselnden Reißbrettstadien kommen, ist weltweit vielen ohnehin wumpe, siehe auch Russland 2018. Und warum soll man sich über Raffgier der Fußballfunktionäre aufregen, über Korruption, die kriminellen Machenschaften, wenn man all das im eigenen Land seit jeher gewohnt ist? Katar ist nicht plötzlicher Sündenfall, sondern Fortsetzung üblicher Widerlichkeiten halt mal woanders.

Im Jahr 1954 waren die Widrigkeiten noch andere. Reporter Raithel reiste schon vor dem großen Finale gegen Ungarn ab: „Ich war knapp bei Kasse, und frische Wäsche war auch nicht mehr verfügbar.“ Spesen, Überweisungen – offenbar nicht üblich. Dabei gewesen sein war schon alles. Das Spiel kam, der Reporter war schon weg. Fertig.

Christoph Biermann meint trotzig: „Der Fußball wird Katar überleben.“ Aber sollte man den Überlebenskampf nicht gutgewissig boykottieren, wegen der Menschenrechte, der vielen Toten beim Stadionbau? Oder doch gucken, ob Niklas Füllkrug ein Tor schießt, England erstmals seit William The Conquerer ein Elfmeterschießen gewinnt oder wer im Finale Belgien – Holland triumphiert? Nein, lieber bockig die Glotze auslassen, aus Empathie mit den geknechteten Gastarbeitern in Katar, etwa aus Bangladesch! Und vielleicht ein T-Shirt shoppen gehen „Boycott Qatar!“, Schnäppchen, made in Bangladesch. Der große Zwiespalt bleibt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • Die WM in Katar ist großer Mist. In jeder Hinsicht. Alle Fakten und Argumente sind längst ausgetauscht. Aber zu glauben, man boykottiere die WM, weil man zu Hause die Glotze ausläßt, höre und lese ich immer wieder. Dabei isses der größte Unsinn und taugt maximal fürs eigene Gewissen. Es sei denn man gerhört zu den 5000 Haushalten, die freiwillig ihre Daten per Messrouter übermitteln.

    Man kann Fanartikel boykottieren, Public-Viewings, eventuelle Streaming-Angebote und FIFA Großsponsoren. Aber am heimischen TV boykottiert man effektiv gar nix.