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Antisemitismus auf documenta 15Das Sagbare verschoben

Frederik Eikmanns
Kommentar von Frederik Eikmanns

Dass die documenta 15 ein Problem mit Antisemitismus hatte, ist klar. Die Langzeitwirkungen dieser verunglückten Ausstellung indes sind fatal.

Die Documenta 2022 war mehr als umstritten, aber es gab aber auch viele interessante Arbeiten zu entdecken Foto: Uwe Zucchi/dpa

O ffener Antisemitismus mit Steuergeldern unterstützt: Was im Lagebericht der Amadeu-Antonio-Siftung zur documenta 15 steht, ist wirklich nichts Neues mehr. Dass Werke wie „People’s Justice“ oder „Tokyo Reels“ offensichtlich voller Hass auf Jü­d*in­nen stecken und niemals in Kassel (oder sonst wo) hätten gezeigt werden dürfen, ist inzwischen hoffentlich bei je­dem angekommen.

Aber der Bericht, der am Donnerstag vorgestellt wurde, weist auf etwas hin, dem bisher zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde: Die absehbaren Langzeitfolgen dieser völlig verunglückten Ausstellung. Denn natürlich hat es Konsequenzen, wenn in einer deutschen Innenstadt ein riesiges Plakat zu sehen ist, das einen offensichtlich jüdischen Mann mit SS-Runen am Hut zeigt.

Zum einen hat die documenta wohl dauerhaft verschoben, was sagbar ist. Klar, verschwunden war der Antisemitismus in Deutschland auch nach dem Ende des Nationalsozialismus nie. Aber es gab ein paar Regeln, an denen niemand vorbeikam, der sich nicht völlig aus dem Diskurs ausschließen wollte. Antisemitismus der Marke Stürmer war tabu. Diese Gewissheit wackelt seit diesem Sommer, also sogar dann noch abgewiegelt und beschwichtigt wurde, als es um ein Plakat ging, das einen jüdischen Soldaten mit Schweinenase zeigt.

Die documenta 15 hat auch gezeigt, dass man als Ent­schei­dungs­trä­ge­r*in in Deutschland offenbar einfach ignorieren kann, was Jü­d*in­nen sagen und wovor sie warnen. Die einzige Verantwortliche, die bisher wegen der documenta zurückgetreten ist, ist Generaldirektorin Sabine Schormann. Der Kasseler Oberbürgermeister Christian Geselle, Aufsichtsratsvorsitzender der documenta, ist weiterhin im Amt, genauso Kulturstaatsministerin Claudia Roth. Sie wurden laut gewarnt, dass diese documenta entgleisen könnte, etwa vom Zentralrat der Juden. Sie haben nicht zugehört.

So fragt man sich mit Blick auf die documenta: Was soll das sein, wenn nicht ein ermunterndes Zeichen an alle, die Hass auf Jü­d*in­nen in sich tragen? Diese Ausstellung wird nachwirken – weit über die Sphäre der Hochkultur hinaus.

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Frederik Eikmanns
Fachredakteur Inland
Themenschwerpunkte Migration, Flucht und Antisemitismus
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21 Kommentare

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  • "die postcolonial studies, die .... den Holocaust als ein Verbrechen unter vielen einordnen wollen."

    Faktencheck

    Diese Studien existieren nicht.

  • "Aber es gab ein paar Regeln, an denen niemand vorbeikam, der sich nicht völlig aus dem Diskurs ausschließen wollte. Antisemitismus der Marke Stürmer war tabu."

    Wie kommt man darauf, dass die Bilder auf der documenta 15 eine neue Qualität hatten

    Das dem nicht so ist. läßt sich an ein paar Beispielen schnell aufzeigen.

    Das Wiesenthal-Zentrum hat die „Süddeutsche Zeitung“ vor Jahren wegen einer Karikatur des Facebook-Gründers Mark Zuckerberg als Krake scharf und berechtigt als antisemitisch kritisiert. ( www.tagesspiegel.d...katur-6919150.html )

    Die Karikatur ist heute noch im Netz an prominenter Stelle schtbar und die Süddeutsche Zeitung musste deswegen auch nicht dicht machen oder den Geschäftsführer wechseln.

    Auch hat die Geschichte um Jakob Augstein, der vom Wiesenthal Center unter die Top Ten der weltweit gefährlichsten antisemitischen und anti-israelischen Verleumdungen gewählt wurde, nicht dazu geführt das der Spiegel eingestampft wurde oder such von Augstein trennte.

    Politiker u.a. geben diesen Medien auch heute noch gerne Interviews.

    Warum also sollten die Debatte um die 4 (?) antisemitischen Bilder nun plötzlich Langzeitwirkungen haben? Und welche sollten das sein. Das im Gegensatz zu Medien Kunstausstellungen nun flach fallen oderKünstler staatlicherseits peinlichst genau kontrolliert werden? Das deren Vita im Gegensatz zu Journalisten durchstöbert wird?

    Oder wird dies nur für jene Künstler aus dem Globalen Süden Konsequenzen haben, die mit postkolonialen Blick kein freundliches Bild von der israelischen Siedlungs-, Besatzungs- und Annexionspolitik zeichnen?

  • An Artikel und Forumsbeiträgen ist leicht erkennbar, dass niemand von den Schreiber*innen selbst auf der documenta war. Es gab den einen gravierenden antisemitischen Vorfall mit dem später abgehängten wirklich unsäglichen Bild. Alle anderen "Vorfälle" erscheinen doch arg konstruiert. Es war eine Ausstellung von Machern aus der südlichen Hemisphäre mit einem Schwerpunkt von Künstler*innen von dort. Die documenta war politisch einseitig, sie war kontrovers, sie widersprach eindeutig den westlichen Kunstvermartungskriterien, aber sie war nicht durchgehend antisemitisch. Der empörte Aufschrei von links bis rechts hat einen unangenehmen neokolonistischen Touch, "Die aus den Entwicklungsländern können es halt nicht." Wer selbst auf der documenta war, konnte einen ganz anderen Eindruck mit nach Hause nehmen.

    • @Thomas Müller:

      Viele Worte für ein - einmal ist keinmal beim Judenhass -

  • Wie sieht denn ein " offensichtlich jüdischer Mann" aus? An solchen Formulerungen sieht man, wie tief Stereotypen in der Gesellschaft haften.Auch oder gerade bei denen, die dagegen kämpfen.

    • @Matt Gekachelt:

      Das Erkennen von Stereotypen hat mit dem Haften beim Erkennenden recht wenig zu tun. Aber Augen zu ist natürlich auch ne Taktik.

  • "Zum einen hat die documenta wohl dauerhaft verschoben, was sagbar ist. "

    Dazu ein Zitat aus "Internationale Presseschau - Was das Ausland über die Documenta denkt" vom Magazin Monopol ( www.monopol-magazi...ie-documenta-denkt )

    "Ein großes Problem sieht Nguyen im deutschen Umgang mit den Kollektiven, die fast ausschließlich aus dem Globalen Süden kommen: "Die vielleicht schärfste Reibung entsteht dadurch, dass sich die pluralistischen, dekolonialen Werte der Ausstellung mit dem Eurozentrismus Deutschlands und seinem zurückhaltenden Verhältnis zur eigenen Vergangenheit vermischen." Die aufgeheizte Stimmung habe dazu geführt, dass Kassel für die teilnehmenden arabischen und muslimischen sowie anders marginalisierte Künstlerinnen und Künstler, "die einer Flut von Vandalismus, Schikanen und Drohungen seitens der Behörden und extremistischer Gruppierungen ausgesetzt waren", zu einem Ort der Gefahr geworden sei.

    Auf Hilfegesuche hätte die Documenta-Leitung nicht reagiert, mehrere teilnehmende Gruppen hätten die Stadt bereits verlassen. Das Fazit fällt entsprechend scharf aus: "Während die Documenta Fifteen ihr Versprechen eines 'außereuropäischen Blicks' auf die Welt und einer multidirektionalen Ausstellung aus dem Globalen Süden nicht nur thematisch, sondern auch methodisch einlöste, bestätigen die chaotischen und anklägerischen Reaktionen darauf nur die hegemonialen Absurditäten, die die Schau von vornherein zum Thema hatte.""

  • Diese Documenta hat gezeigt, dass es in Deutschland möglich ist, groben, offensichtlichen Antisemitismus zu zeigen, ohne dass dies gravierende Konsequenzen nach sich zieht.

    Der einzige Kollateralschaden ist, dass die "Generaldirektorin" zurücktreten musste.

    Die Medien haben zwar fast durchgängig kritisch bis fassungslos berichtet, aber was soll's.

    Die Juden haben sich laut und vernehmlich immer und immer wieder zu Wort gemeldet, wurden aber immer und immer wieder ignoriert oder abgebürstet.

    Der Zweck ist erreicht und die nächsten Projekte sind ja schon längst am Start.

    Die reaktionären Identitätspolitiken, in denen Jüdinnen und Juden nur als Täter auftauchen und die postcolonial studies, die Israel als kolonialistisches Projekt fantasieren und den Holocaust als ein Verbrechen unter vielen einordnen wollen.

    Angefangen hat das vor 2000 Jahren, der Wahn hat mehrere Transformationen durchlaufen und ist spätestens seit der Gründung Israels beim grenzenlosen Hass auf den "Juden unter den Staaten" (Poliakov) angekommen.

    Das hört nie auf, weil der Antisemitismus einfach nicht aufhören kann. Und er drängt immer zu einem Ziel: Alles Jüdische von der Erdoberfläche zu tilgen.

    Deshalb kann die Wachsamkeit gar nicht groß genug sein.

    Wobei man dazu sagen muss, wessen Wachsamkeit so schwach ausgeprägt ist, dass er den Antisemitismus auf der Documenta nicht als solchen erkennt, der sollte in sich gehen.

    • @Jim Hawkins:

      Ich mache jetzt etwas, was ich nie bei Kommentaren mache:

      Ich sage herzlichen Dank für Ihre Worte. Sie bringen die Gemengelage auf den Punkt und benennen die wesentlichen Konfliktfelder dieser Spielart von linkem Rassismus, der sich wie jeder Rassismus aus einer Position der Überlegenheit speist.

      Im Extrem wird gerade Antisemitismus links und rechts unterschiedslos, weil die Chiffre des Andersseins in jeder Ideologie verfängt.

      Worüber ich nur den Kopf schüttele, dass die linksliberale Elite so wenig zu Selbstreflexion fähig ist.



      Daraus folgt: Antisemitismus hängt nicht (nur) mit Bildung und Bildungsferne zusammen. Das ist einer der vielen Aspekte die von der Documenta 15 hängen bleibt.

    • @Jim Hawkins:

      Sie haben das Elend sehr gut zusammengefasst. Ernüchternd ist, dass der Antisemitismus in unserem ganzen gesellschaftlich, politisch und kulturellem Spektrum maßgeblich ist.



      Unsere kulturelle Szene habe ich völlig aufgegeben. In unserer politischen Szene ist Antisemitismus im rechten Spektrum "selbstverständlich". Dass der gleiche braune Hass ebenso im links zu verortenden Milieu evident ist, können wir mit Entsetzen hier nachlesen taz.de/Umstrittene...bb_message_4401402



      Die ersten "Täterkinder" hatten mit der 68er Bewegung, ganz im Sinne ihrer Väter, gegen die sie angeblich rebellierten, dafür alles in"trockene Tücher gelegt".



      Auf Seite 167 schreibt Götz Aly in seinem Buch „Unser Kampf 1968“ Zitat:



      „Im Juni 1969 berichtet Theodor W. Adorno in „außerster Depression“ seinem Freund Herbert Marcuse, wie „man in Frankfurt den israelischen Botschafter niedergebrüllt hat“ und fügte für den Protestmentor Marcuse an: „Du müsstest nur einmal in die manisch erstarrten Augen derer sehen, die, womöglich unter Berufung auf uns selbst, ihre Wut gegen uns kehren.““



      Zitat Ende

      • @Günter:

        Der Lobhudelei für Jim Hawkins schließ ich mich mit an.



        Ergänzend ist wohl noch zu erwähnen, daß des schön lange im Vorfeld vorsichhingegärt ist aber keine*r irgendwann mal die Reißleine VOR der eigentlichen Ausstellung gezogen hat.

  • Sehr guter Artikel. Danke.

    Dass Roth in ihrem Sessel sitzen bleiben darf, war abzusehen. Antisemitismus bei den Grünen wäre sonst zu offensichtlich geworden.

    • @shantivanille:

      Unfug.



      Einfach mal gucken, wer für die Bilderauswahl verantwortlich ist.



      Die Grünen bestimmt nicht.



      Roth ist ja keine Bundespropagandaministerin die vorzugeben hat, wer was wann wie zeigt.



      Eher beweist diese Dokumenta, dass eine Superschau in D nicht von irgendwelchen Künstlerkollektiven von irgendwoher gesteuert werden kann. Außerdem finde ich den Skandal gut - er öffnet die Augen, wie sehr der Antisemitismus dank Antiisraelischer Agitation internationalisiert wurde, bis er sich sogar in Gesellschaften hineingefressen hat, bei denen er früher unbekannt war (Japan, Indonesien)



      Kunst reflektiert Gesellschaften. Statt Schuldigensuche in D muss gefragt werden, was gegen die Antisemitismusepidemie global getan werden kann.



      Also statt ´wir wollen sowas nie mehr sehen´ muss ein ´solche Werke sollen nicht mehr entstehen´ erfolgen: Statt Scheuklappen für Dokumentas Aufklärung in den Partnerländern.

  • Ihr Hinweis auf die Marke Stürmer hat es auf den Punkt gebracht.



    Hier ist auch nichts "verunglückt". Die Documenta spiegelt deutsche Kontinuität wider. Antisemitismus ist die treibende Kraft der Kulturschaffenden, die dieser Documenta zu verantworten haben. Diese ganze Szene ist dermaßen abstoßend, dass ich hier den guten alten Max liebermann bemühen muss: "„Ick kann jar nich soville fressen, wie ick kotzen möchte.“"



    Wehret den Anfängen, ist immer eine Luftblase gewesen.....

  • Vor allem ist bei dieser Diskussion eines sehr wichtig: Es gilt nur die Perspektive der weissen europäischen Bourgoisie. Und Ganz besonders die der zu Recht schuldbeladenen deutschen Familiengeschichte. Der Indonesier, der sich in einer Bildsprache vergaloppiert, hat sich selbstverständlich an Befindlichkeit, historischem Kontext, moralischer Selbstkonzeption und Simulation von tiefgehender Analyse des deutschen Halbbildungsbürgertums zu orientieren. Da gelten immer noch strukturell allein die Vorgaben des Mutterlandes. Kaum war der deutsche Nazi 1945 aus den Niederlanden vertrieben, zog eine niederländische Armee los, um in seinen indonesischen Kolonien Ordnung zu schaffen. Den 8. Mai 1945 erinnern Algerier als ein Blutbad gegen eine Demonstration für Demokratie und Unabhängigkeit in ihrer Hauptstadt Algier. Ins Werk gesetzt von der Kolonialmacht Frankreich. Die sich derweil in Europa als Bezwinger des Faschismus feiern liess.

    Die Unfähigkeit die Bildsprache aus anderer kollektiver Erfahrung lesen und einordnen zu können zeichnet den offenbar besonders radikalen Stolz einer Documenta-Kritik aus, die nicht einmal den Gedanken fassen will, dass im Kontext indonesischer Geschichte die Solidarität jenen gilt, die die Entstehung Israels vor allem als Kolonisierung erfuhren. Aber damit keineswegs gleichzeitig die Shoah bestreiten, beschönigen oder gar rechtfertigen. Letzteres ist ein (notwendiger) deutscher Reflex aus der eigenen Geschichte. Es ist unredlich, es ist reaktionär seine eigenen fraglos aus der eigenen Geschichte notwendigen Tabus als Masstab für die Welt zu setzen. Es ist zudem psychologisch leicht als Selbstentlastung zu entlarven. Ums ganz schlicht zu sagen: Nein, ein Künstlerkollektiv aus Indonesien ist nicht wie du. Und es muss auch nicht wie du denken.

    • @Thomas Tirt:

      Da brauchen Sie aber viele gestelzte Worte, um schlussendlich ein weiteres Mal die Mär vom deutschen Schuldkult vorzutragen.



      Und das Konstrukt des "Globalen Südens" scheint ihnen auch zu gefallen. Dass die Menschen bzw Künstlerinnen von "dort" einen ach so anderen Blick dann doch nicht haben, ist doch eigentlich ein sehr schöner Erkenntnisgewinn dieser Agitpropschau. All die Plattheiten und Stereotypen, die wir aus diversen rechten wie linken Glaubensgemeinden hierzulande hinlänglich kennen, wurden uns auf der dok15 in fast identischer Form aus aller Welt präsentiert. Das Volk ist gut, unschuldig und Opfer, das Böse kommt von außen und hinter allem steckt . . na, Sie wissen schon.

    • @Thomas Tirt:

      Ach, diese Vielschichtigkeit antisemitischer Bilder. Freut sich die beschworene Bourgeoisie nicht eher, in dem Blich des Südens eine begründende Entlastung für den eigenen Antisemitismus finden zu können. Vielleicht ist das ihre Freude an dieser Sichtweise.

    • @Thomas Tirt:

      Das ist eine ganz hübsche, wenngleich gestelzte Standard-Polka des Kulturrelativismus. Tausendmal gehört und dennoch nicht überzeugender geworden. Aus keiner noch so aufpolierten kulturrelativistischen Geschichtsklitterung folgt irgendeine auch nur halbwegs schlüssige Rechtfertigung für Antisemitismus - ja wie den auch!? Weder aus irgendwelchen kolonialistischen Schandtaten der Franzosen, noch aus den aufgezählten Frivolitäten anderer und schon gar nicht aus dem vermeintlichem deutschen Shoah-Knax, lässt sich die Erlaubtheit, Tolerierbarkeit oder auch nur Nachvollziehbarkeit der antisemitischen Ausfälle, wie sie diese Ausstellung feilbot, herleiten. Mit andere Worten: Alter, was soll das?

      >> Ums ganz schlicht zu sagen: Nein, ein Künstlerkollektiv aus Indonesien ist nicht wie du.



      >> Und es muss auch nicht wie du denken.

      Siehste, das verstehe ich gleich. Der Irrtum liegt in der Annahme, es bedürfe einer Identität der Subjekte, damit diese gleich denken. Ganz plump: deutsche historische Erfahrung verbietet (oder verleidet?) den da dran hängenden Subjekten den Antisemitismus, während eine andere - z.B. kolonial-leidensgeschichtliche - Erfarung es den Betroffenen erlaubt. Das ist natürlich Quark, denn auch cross-kulturel kann gleich gedacht werden, wenn man sich über eine Identitätschnittmenge einig ist - Menschlichkeit, Humanismus, Rule of Law etc. Ich für meinen Teil glaube, dass daraus verbindlich die Ablehnung jedeweden Antisemitismus folgt. Mindestens darin - siehe Schnittmenge oben - müssen Kontrahenten mit mir übereinstimmen; ist doch eine recht bescheidene Voraussetzung als Basis für den Diskurs, nicht?

      Der TAZ-Artikel hingegen hat - als einer der wenigen bisher - die Folgen dieser Relativierungsversuche des Antisemitismus als dessen beginnende Neuverankerung sehr gut beobachtet. Danke!

      • @Chris Demian:

        "Aus keiner noch so aufpolierten kulturrelativistischen Geschichtsklitterung folgt (...)"

        Hier beginnt Ihr Denkfehler. Der dem Chauvinismus entspringt, "Antisemitismus" sei das, was die europäische Metropole und seine Ausgründungen als solchen definieren. Also die Täter.



        Das ist schon interessant. Erst exportierte Europa, vor allem natürlich die deutsche Bourgoisie, den Antisemitismus als quasi wissenschaftliche Schule in die Welt. Heute beansprucht dieselbe Familiengeschichte nun die Definitionshoheit weiter - diesmal angeblich als besonders redliche und grundlegende Haltung...ja sogar Praxis GEGEN Antisemitismus.

        Wer hier also was mit welcher Folge "aufpoliert" steht tatsächlich noch zur Diskussion.

        Ein Indonesier ist nicht "Antisemit" weil er aus eigener kollektiver Erfahrung in der israelische Armee Kolonialismus erkennt.



        Ob die Jahrzehnte reaktionärer, autoritärer und militärisch Geografie und Menschen besetzende Politik israelischer Regierungen eine angemessene Antwort auf die kollektive Erfahrung der Shoah - also der Mordpraxis Deutschlands, des Antisemitismus Europas ist, steht mindestens offen zur Diskussion. Und das übrigens in der israelischen Gesellschaft selbst.



        Nur erfährt diese Diskussion keinerlei Unterstützung von einer Debatte, die vor allem eurozentristisch und psychologisch erklärbar selbstbesprechen will "nicht antisemitisch zu sein"

        "Kulturrelativistisch" ist nicht das differenzierte, grausam widersprüchliche Erkennen von diversen Perspektiven auf komplizierte Historie, sondern der chauvinistische Anspruch, alle Welt müsse so denken, handeln und fühlen, wie es einem die eigene Familiengeschichte und ihr selbstverständlicher Antisemitismus zu Recht aufträgt.

        FAKTISCH, in der FOLGE ist die Perspektive kollektiver kolonialer Erfahrung auf der Documenta der Selbstbesprechung ausgeliefert worden, man selbst sei kein Antisemit.



        Wo man über seine kolonialistische Familiengeschichte hätte sprechen müssen. DAS ist Revisionismus.

  • Ich denke, die interessanten Punkte gehen noch tiefer als diese "wackelnden Gewissheiten".

    Eine (vielleicht "die") deutsche Lesart könnte sein, dass es Antisemitismus immer gab, gerade in Deutschland, er war in Deutschland nie weg, ihn gibt es natürlich auch woanders in der Welt, jetzt wurde er eben zum Teil von "außen" getriggert. Das ist sicher nicht falsch, aber trifft glaube ich den Punkt nicht.

    Ich denke die von den Machern der Documenta vertretenen Positionen sind in der Welt nicht sooo ungewöhnlich. Sie sind sicher nicht "die" Mehrheit, aber "die" Mehrheit gibt es ohnehin zu kaum einem Thema. Die Positionen der Documenta gehören global aber zu "den" (vielen) Mehrheitspositionen, d.h. die von vielen Menschen/Gruppen/Staaten vertreten werden. Sicher nicht genau in der Art, wie das, was "wir" vorwerfen, da kann man sich sicher auf gewisse Kompromisse einigen, aber ein Grunddissenz wird bleiben.

    Ich denke das ist aber nichts so besonderes mit dem Antisemitismus: zu Fragen etwa der Kurden und Türken, Muslime in Indien, Schiiten und Sunniten, Spannungen verschiedener Gruppen aus dem afghanischen Raum, Zustimmung oder Ablehnung von Maduro, Putin und vielen, vielen Themen mehr, gibt es ziemlich unterschiedliche Standpunkte in der Welt, die sich gegenseitig sehr erschüttern und ablehnen.

    Es ist zuallererst Ausruck einer vielfältigen Welt und einer offenen Gesellschaft, die diese Welt widerspiegelt. Denke ich.

    Ich denke, das ist ein Grund darüber nachzudenken, was ich persönlich mit "Offenheit" meine: Offenheit gegenüber den Menschen (wie sie sind), Offenheit Ideen anzuhören, Offenheit Ideen zu übernehmen, Offenheit für mich universelle Sichweisen zu leben (wobei ich festlege, was universell ist, da es offensichtlich andere anders sehen), Offenheit für das, was in meiner Umgebung die Mehrheit sagt, Offenheit für das, womit ich mich wohlfühle ...

    Ich glaube, das ist eine ziemlich schwierige Frage.

    • @Markus Michaelis:

      "Vielfältige Welt, offene Gesellschaft, nachdenken über Offenheit" Sorry my dear, aber das ist im besten Fall hilflose Nabelschau. Antisemitismus bleibt am Ende halt Antisemitismus. Und der ist niemals eine vielfältige Meinung der ich vielleicht offen begegne. Punkt!!!