„Marsch für das Leben“ in Berlin: „Bevormundung wie im Mittelalter“
Am Samstag marschieren wieder Abtreibungsgegner durch Berlin. Die Gynäkologin Mandy Mangler über Kriminalisierung ihrer Arbeit und Anfeindungen.
taz: Frau Mangler, Sie sind Chefärztin der Gynäkologie am Vivantes Klinikum und Rednerin beim Aktionstag des Bündnisses für sexuelle Selbstbestimmung gegen den „Marsch für das Leben“ am Samstag. Warum nehmen Sie an den Protesten teil?
Mandy Mangler: Weil ich mich als Frau und als Ärztin diskriminiert und bevormundet fühle. Als Frau möchte ich kein Spielball politischer Entscheidungen und Bestimmungen sein: etwa in Situationen, in denen ich in meiner Lebensplanung anders entscheiden würde als jetzt, zum Beispiel, wenn ich eine ungewollte Schwangerschaft hätte. Ich will mich qualitativ hochwertig informieren lassen und selbstbestimmt entscheiden. Als Ärztin möchte ich Menschen, die ungeplant schwanger sind und zu mir kommen, nicht emotionalisiert behandeln, sondern sie rein medizinisch betreuen. Sie sollen von mir auf legale Art und Weise straffrei informiert werden, damit ihr medizinisches Problem gelöst werden kann.
Chefärztin der Gynäkologie und Geburtsmedizin im Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum und der Klinik für Gynäkologie des Vivantes Klinikums Neukölln. Für ihr Engagement für mehr Gleichberechtigung in der Medizin wurde sie mit dem Berliner Frauenpreis 2022 ausgezeichnet. Die fünffache Mutter beteiligt sich als Rednerin an den diesjährigen Protesten gegen den sogenannten Marsch für das Leben von Abtreibungsgegner*innen in Berlin und setzt sich für sexuelle Selbstbestimmung ein.
Was halten Sie von den Forderungen der Abtreibungsgegner*innen?
Sie sind sehr gefährlich, weil damit eine Entmündigung und eine Politisierung von Frauenkörpern einhergeht. Diese Bevormundung durch die sogenannten Lebensschützer*innen, denen das Leben der Frauen offensichtlich egal ist, gehört wirklich ins Mittelalter.
Wie steht es um das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland? Ist mit der Abschaffung von Paragraf 219a und damit dem Verbot der „Werbung“ für Schwangerschaftsabbrüche alles gut?
Nein, es ist nur ein bisschen besser. Am 24. Juni wurde der Paragraf 219a abgeschafft. Am gleichen Tag wurde in den USA das verfassungsrechtlich garantierte Recht auf Abtreibung gekippt. Wir haben also einen Minischritt in Deutschland nach vorne getan und in den USA dafür Riesenschritte zurück. Und auch dieser Minischritt, den wir in Deutschland gegangen sind, war längst überfällig. Die Abschaffung von 219a bedeutet nur, dass ich als Ärztin jetzt über medizinische Leistungen informieren darf. Ich werde in meiner Arbeit aber immer noch kriminalisiert.
Inwiefern?
Ich muss mir bei jedem Schwangerschaftsabbruch oder bei jeder Beratung den Kopf zermartern, ob ich alles richtig gemacht habe, ob ich mich an die Regeln gehalten habe, die so kompliziert sind, dass man sie oft nachlesen muss, damit man nicht illegal handelt. Es ist eine Zumutung, dass ich bei einer medizinischen Leistung überlegen muss, ob ich mich kriminell verhalte oder nicht. Ob ich alles gut dokumentiert habe, weil ich sonst meine Existenz verliere oder meine Approbation oder ins Gefängnis komme.
1000-Kreuze-Marsch Die Veranstaltung der Lebensrechtsbewegung fand ab 2002 zunächst alle zwei Jahre unter dem Namen „1.000 Kreuze für das Leben“ statt. Seit 2008 marschieren mehrere Tausend Abtreibungsgegner*innen jährlich durch Berlin-Mitte, in diesem Jahr am Samstag, den 17. September. Neben Kirchenvertreter*innen beteiligen sich auch Politiker*innen von CDU, CSU und AfD an dem Aufmarsch.
Gegenprotest Hauptveranstaltende sind seit 2012 das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung, dem etwa Gewerkschaften, Beratungsstellen, feministische Initiativen, Grüne und Linke angehören, sowie das queerfeministische Bündnis What the Fuck (Wtf). Nachdem im Jahr 2019 eine Sitzblockade von Wtf-Aktivist*innen von der Polizei gewaltsam geräumt wurde, wurden mehr als 100 Aktivist*innen unter anderem wegen Nötigung vor Gericht gestellt. Ein Großteil der Anklagen wurde gegen eine Geldstrafe eingestellt.
Aktionen Das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung organisiert einen Aktionstag ab 12 Uhr am Pariser Platz. What the Fuck ruft zu einer Demonstration ab 10.30 Uhr am Leipziger Platz und zu dezentralen Aktionen ab 12 Uhr auf. Am 28. September findet in Berlin zudem der internationale Safe Abortion Day statt. (mf)
Ihre Arbeit ist durch die Streichung von Paragraf 219a also nicht leichter geworden?
Nicht wirklich. Ich habe schon davor kein Blatt vor den Mund genommen und auch öffentlich Menschen über Schwangerschaftsabbrüche informiert. Dass dieser Paragraf jetzt weg ist, erleichtert ein bisschen was, aber nicht viel. Die Politik macht es uns schwer, damit wir es der Patientin, die ungeplant schwanger geworden ist, schwer machen. Quasi als Strafe für ihre sexuelle Freiheit. Wenn sich eine Frau sexuell selbstbestimmt durchs Leben bewegt und Sex hat und dann ungeplant schwanger ist, dann soll sie dafür büßen. Schon der Gedanke an Abtreibung soll bestraft werden. Es soll für die Frau eine unschöne Situation sein und so ist es ja auch. Es sei denn, sie findet eine Klinik oder Praxis, die auf Augenhöhe mit ihr kommuniziert und sie nicht verurteilt. Das ist aber selten.
Was müsste sich tun, um das Recht auf sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung auch Wirklichkeit werden zu lassen?
Man müsste Paragraf 218 abschaffen und damit die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Und Schwangerschaftsabbrüche zu einer medizinischen Leistung der Krankenkassen umwandeln.
Ist das realistisch? In Ungarn gilt jetzt ein verschärftes Abtreibungsrecht, in Polen existiert es de facto gar nicht mehr, in den USA wurde es weitestgehend gekippt. Droht nicht eher ein rechter Rollback?
Wenn ich feministische Literatur aus den fünfziger Jahren lese, habe ich das Gefühl, da hat sich gar nichts getan. Das ist wirklich schlimm. Manchmal machen wir Schritte nach vorne, dann machen wir wieder Schritte zurück. Insgesamt kommen wir wesentlich langsamer voran, als ich mir das wünschen würde. Wir haben weite Teile der Welt, in denen die reproduktive oder überhaupt körperliche Selbstbestimmung der Frau nicht umgesetzt wird. Und wir Frauen, unsere Körper, sind Spielball und Ware. Das ist wirklich hart zu verkraften.
Erleben Sie wegen Ihrer Arbeit Anfeindungen?
Ja klar kriege ich Anfeindungen. KZ-Vergleiche sind sehr beliebt bei diesen Menschen. Ich kann echt viel ertragen und habe ein dickes Fell, aber diese KZ-Vergleiche finde ich so schlimm, dass ich keine Worte dafür finde.
Holocaust-Vergleiche finden sich auch bei den Teilnehmer*innen vom „Marsch für das Leben“. Was wollen Sie denen gern mitgeben?
Die dringende Empfehlung aufzuhören, die Deutungshoheit über andere Körper haben zu wollen. Wenn sie gegen Schwangerschaftsabbrüche sind, dann sollen sie einfach keinen haben. Ich verstehe das Problem nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
VW in der Krise
Schlicht nicht wettbewerbsfähig
Prognose zu KI und Stromverbrauch
Der Energiefresser
Kränkelnde Wirtschaft
Gegen die Stagnation gibt es schlechte und gute Therapien
Mögliche Neuwahlen in Deutschland
Nur Trump kann noch helfen
Anschläge auf „Programm-Schänke“
Unter Druck
Jeff Bezos und die Pressefreiheit
Für eine Zwangsabgabe an Qualitätszeitungen!