taz-Sommerserie Nah am Wasser: Bewegte Geschichte

Die Rummelsburger Bucht war Fischerdorf, Industriestandort und Oase für alternative Lebensformen. Heute stehen hier Townhouses und Lofts.

Ein Floß ankert in der Rummelsburger Bucht in Berlin-Lichtenberg.

Die Rummelsburger Bucht in Berlin-Lichtenberg hat viele Veränderungen durchgemacht Foto: picture alliance/dpa | Wolfgang Kumm

BERLIN taz | Von maritimer Idylle ist am Westende der Rummelsburger Bucht nicht mehr viel zu spüren. Die Baustellen der Wohnkomplexe sind unübersehbar, die am Ufer des Stadtgewässers in größter Eile hochgezogen werden.

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Ein Bagger reißt die letzten Überbleibsel einer Baracke nieder, die vor Kurzem noch der beliebte Techno-Club „Rummelsbucht“ war. Nur die aus Sperrholz gezimmerte Eingangstür steht noch. Auf dem Grundstück nebenan wird bald mit dem Bau des umstrittenen Aquariums „Coral World“ begonnen.

Ein paar hundert Meter weiter, vorbei an bereits fertigen grell-weißen Eigentumswohnungen, ist es dann doch noch da, das alternative Berlin. Wie ein kleines Dorf wirken die Boote und selbstgebauten Floße, die ruhig inmitten des Sees ankern. Die Spreebucht im Osten Berlins ist längst Zentrum für eine lebendige Alternativkultur – Kulturflöße, Hausboote und Aus­stei­ge­r:in­nen finden hier ihren Heimathafen.

An der Rummelsburger Bucht hat sich die wechselhafte Geschichte der Stadt eingeschrieben wie an kaum einem anderen Ort Berlins. Der Konflikt zwischen Alternativkultur und Gentrifizierung ist dabei nur das jüngste Beispiel.

Überall Wasser Da kann man nicht heulen, Seen gibt es genug in der Stadt und drum herum in Brandenburg. Und überhaupt: Berlin liegt am Fluss, die Spree fließt mittendurch und ganz im Westen die Havel. Wasserwerke säumen ihren Verlauf, und weil Berlin am Wasser liegt, ist die Trinkwasserversorgung auch in Dürresommern etwas unkomplizierter als anderswo.

Und der Klimawandel? Was bedeutet die Wasserlage für Berlin in Zeiten des Klimawandels? In unserer diesjährigen Sommerserie widmen wir uns dem Wasser in all seinen Facetten: Unsere Autor*innen sind losgezogen, um herauszufinden, warum Brunnenbauer immer tiefer bohren müssen, um noch an Grundwasser zu kommen. Wir statten der Berliner Hausbootszene einen Besuch ab und erklären, warum Wasser das beste Getränk ist. Zuletzt ging es um ein Monster im Tegeler See, dass dort vielleicht oder vielleicht auch nicht gesichtet wurde.

Nachlesen: Alle Folgen online unter taz.de/berlin/wasser. (taz)

Naherholungsgebiet und Industriestandort

Zunächst war es der Fischreichtum der Spree, der die Menschen bewog, in der Region zu siedeln. So ist die Halbinsel Stralau – sie bildet die Südseite der Bucht – eines der ältesten Siedlungsgebiete Berlins. Anfang des 19. Jahrhunderts befand sich auf der Halbinsel ein beschauliches Fischerdorf gleichen Namens.

Direkt vor den Toren des historischen Berlins gelegen, lockte die Bucht später weniger mit Fischen als mit klarem Wasser und einer frischen Brise sauberer Luft. Im Zuge der Industrialisierung strömte die Bevölkerung vom Land in die preußische Hauptstadt. Allein zwischen 1825 und 1905 verzehnfachte sich die Bevölkerungszahl von knapp 200.000 Ein­woh­ne­r:in­nen auf zwei Millionen.

Die Infrastruktur konnte mit dieser Bevölkerungsexplosion kaum Schritt halten. In den Straßen stank es erbärmlich; Infektionskrankheiten wie Typhus und Cholera grassierten. Ar­bei­te­r:in­nen hausten in hoffnungslos überbelegten Mietskasernen. Mit 300 Be­woh­ne­r*in­nen pro Hektar war die Bevölkerungsdichte etwa dreimal so hoch wie heute.

Die Luft der Rummelsburger See hingegen galt als heilsam. Im Jahr 1837 verbrachte der junge Student Karl Marx auf Anraten seines Arztes ein halbes Jahr in Stralau, um seine Bronchitis zu kurieren. Als beliebtes Ausflugsziel war das Gewässer auch häufig Kulisse in literarischen Werken seiner Zeit. So bringt ein Beinahe-Bootsunfall die beiden Hauptfiguren in Theodor Fontanes Roman „Irrungen, Wirrungen“ zusammen.

Ausgehend von einer alten Fischer:innentradition, das Ende der Schonzeit mit einem Festzug durchs Dorf zu feiern, entwickelte sich am Rummelsburger See eine der wenigen Volksfeste Berlins – der Stralauer Fischzug. Das Fest bot der rasch wachsenden Ar­bei­te­r:in­nen­klas­se eine willkommene Abwechslung zum zermürbenden Alltag in den Fabriken und lockte jedes Jahr Zehntausende auf die Halbinsel.

Zeitgenössische Kommentatoren beschreiben das Fest als Massenbesäufnis, bei dem es regelmäßig zu Schlägereien und Ausschreitungen kam. Wegen der ungehemmten Ausschweifungen wurde das Volksfest 1873 verboten.

Ohnehin entwickelte sich die Bucht ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer mehr zum Industriestandort. Die Wassernähe ermöglichte den einfachen Transport von Rohstoffen und Produkten zu den Fabriken. „Die Rummelsburger Bucht vereinte den Zugang zu allen drei Verkehrswegen: Straße, Wasser und der Eisenbahn“, weiß Dr. Uwe Nübel. Der Heimatforscher beschäftigt sich seit über 30 Jahren mit der Geschichte der Stralauer Halbinsel.

Olympia-Bewerbung und Gentrifizierung

Deutschlands Aufstieg zur einer der führenden Industriemächte um die Jahrhundertwende schlug sich auch in der Rummelsburger Bucht nieder. Heute noch weltweit tätige Unternehmen wie der Zugbremsen-Pionier Knorr oder das Chemie- und Fototechnikunternehmen Agfa gründeten ihre ersten Werke an diesen Ufern.

Ab 1933 zeigten sich hier die Verflechtungen der Industrie mit der Nazi-Herrschaft. Jüdische Betriebe wie die Engelhardt-Brauerei wurden zwangsweise arisiert. Andere setzten bereitwillig Zwangs­ar­bei­te­r:in­nen ein, die auch auf der Stralauer Halbinsel untergebracht waren. Gegen Ende des Krieges wurde das Gebiet stark zerstört.

Mit der Gründung der DDR wurden alle verbliebenen Betriebe verstaatlicht. Wohngebäude wurden jedoch nicht wieder aufgebaut. „Aufgrund der Grenznähe wurde in Stralau gar kein neuer Wohnungsbau betrieben“, erklärt Nübel. Wohngebäude, die den Krieg überstanden hatten, wurden weitestgehend dem Verfall überlassen.

Die verwaist-industrielle Kulisse, die diese Landschaft bot, wurde im 1973 gedrehten Defa-Klassiker „Die Legende von Paul und Paula“ verewigt. In der ikonischen Liebesszene treiben die beiden Prot­ago­nis­t:in­nen auf einem Flusskahn auf dem Rummelsburger See – im Hintergrund Smog-grauer Himmel, Schornsteine und Industrieruinen.

So vielfältig wie die ansässigen Industriebetriebe waren auch die Schadstoffe in den Abwässern, die über 150 Jahre lang überwiegend ungefiltert in die Rummelsburger See geleitet wurden. Eine 2017 veröffentlichte Studie der Freien Universität stellte eine hohe Konzentration einer Vielzahl von Schadstoffen im Boden des Gewässers fest.

Lange war unklar, ob die Belastung auch für Menschen schädlich ist, die sich im oder am Wasser aufhalten. Das Wasserstraßenamt warnte 2017 vor einem längeren Aufenthalt, der Senat gab im August 2019 nach einer weiteren Untersuchung offiziell Entwarnung.

Derweil versucht die Stadt das Gewässer zu entgiften. Die ursprüngliche Hoffnung, die giftigen Sedimente würden sich im Laufe der Zeit von selbst durch neue natürliche Ablagerungen versiegeln, erfüllte sich nicht. Stattdessen soll nun der belastete Schlamm aufwändig abgepumpt und der Boden anschließend mit einer Tonschicht versiegelt werden.

Bereits infolge der Wiedervereinigung machte ein Großteil der Betriebe dicht. Auch an der Rummelsburger Bucht war die Wiedervereinigung geprägt von einer massiven Deindustrialisierung und einem Ausverkauf der einst staatlichen Flächen. Doch zunächst herrschte eine euphorische Nachwende-Stimmung, die sich 1991 in der Bewerbung für die Olympischen Spiele 2000 zeigte.

Das olympische Dorf sollte am Ufer der Rummelsburger Bucht gebaut werden. Doch die Bewerbung scheiterte im Dezember 1993 krachend. Der Senat ließ sich dadurch nicht entmutigen und wies das Gebiet ein Jahr später als städtebaulichen Entwicklungsbereich aus. Hier sollten Wohnungen und Gewerbeflächen für die bald boomende Metropole entstehen.

Mitte der 90er Jahre blieben erwarteter Zuzug und wirtschaftliches Wachstum aus. Angesichts knapper Kassen wurden die Pläne für einen geförderten Wohnungsbau zugunsten von frei finanzierten Eigentumswohnungen aufgegeben. Statt dichter Wohnbebauung errichteten sie schicke Townhouses und Lofts, die heute das Stadtbild an der Rummelsburger See dominieren

Seeoberfläche als letzter Rückzugsort

Dieses Dogma des neoliberalen Ausverkaufs wirkt bis heute fort, obwohl städtische Grundstücke und Wohnraum längst knapp und die Kassen gut gefüllt sind. Noch 2016 verkaufte der Senat die letzten Grundstücke am Westende der Bucht an private Investor:innen. Auf diesem Gelände entstand ab 2018 eines der größten Obdachlosencamps Deutschlands. Vergeblich versuchte eine Bür­ge­r:in­nen­in­itia­ti­ve die Bebauung mit dem Aquarium Coral World, weiteren Büros und Eigentumswohnungen zu verhindern. Das Camp ließ der Bezirk im Winter 2021 räumen.

Gleichzeitig machten der massive Anstieg der Mieten und der zunehmende Verlust von Freiräumen ab den 2010er Jahren die Wasseroberfläche selbst als Wohnraum und Kulturort attraktiv. Im Gegensatz zu den teuren Stellplätzen ist es möglich, unbegrenzt lange kostenlos auf der Rummelsburger Bucht zu ankern. Es braucht lediglich ein Beiboot, um vom Ufer auf das Boot oder Floß zu gelangen. Zusammengebunden bilden die Boote kleine schwimmende Dörfer.

Streit gibt es auch immer wieder mit den Ufer-Bewohner:innen in den Townhouses, die über Lärm und Müllbelästigungen klagen, der vermeintlich von den Boots­be­woh­ne­r:in­nen verursacht wird.

Bereits 2019 verhängte der Bezirk ein Anlegeverbot an den Ufern. Ein Ankerverbot blieb trotz aller Bemühungen bisher erfolglos, da eine solche Regelung unter die Zuständigkeit des Bundes fallen würde.

Mit der Bebauung der letzten Brachen und der Seesanierung scheint die Geschichte der Rummelsburger Bucht ihr vorläufiges Ende gefunden zu haben. Doch der Blick in die Vergangenheit zeigt: Stillstand auf lange Sicht ist an diesem Gewässer kaum vorstellbar.

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