Historiker über Mietenkrawalle 1872: „Symbol der Klassengegensätze“

Vor 150 Jahren gab es erste größere Mietenkämpfe in Berlin. Axel Weipert über Slums am Kotti, Repression und kaiserliche Angst vor der Revolution.

Straßenschild Krautstraße Ecke Blumenstraße in Berlin-Friedrichshain, im Hintergrund ein Wohnhaus

Hier gab es vor 150 Jahren Krawall wegen der Miete und auch heute gibt's Probleme mit Verdrängung Foto: imago/Steinach

taz: Herr Weipert, am Sonntag gibt es einen Kiezspaziergang durch Friedrichshain zum 150. Jahrestag der ersten größeren Mietenkrawalle in Friedrichshain. Wie waren die Verhältnisse, in denen die Blumenstraßenkrawalle 1872 ausbrachen?

Axel Weipert: Berlin ist in dieser Zeit unglaublich schnell gewachsen, 40.000 Menschen sind während der Industrialisierung jährlich gekommen. Der Kontext ist natürlich die Industrialisierung, Arbeitskräfte wurden gebraucht und zogen in die Stadt. Ebenso gibt es in Berlin einen politischen Bedeutungzuwachs durch die Gründung des Kaiserreichs. Berlin ist die Hauptstadt der Großmacht Preußen.

Wie war die Lebensituation derjenigen, die hier arbeiteten oder herzogen?

Schlecht: Das einzige, was gebaut wurde, waren die klassischen Mietskasernen in sehr dichter Bebauung. Die Häuser stehen teilweise heute noch. Wo aber heute ein Single wohnt, lebten damals acht Menschen, weil sie sich nicht mehr leisten konnten. Es gab sogar Schlafburschen, die nur stundenweise einen Schlafplatz mieteten. Es gab kein Mietrecht und keinen Schutz für Mieter.

Jahrgang 1980, ist Historiker und hat über die Geschichte der Arbeiterbewegung promoviert. Daneben liegt sein inhaltlicher Schwerpunkt auf Berliner Stadtgeschichte. Er arbeitet mit in der Redaktion „Arbeit Bewegung Geschichte“ und hat zuletzt das Buch „Das Rote Berlin. Eine Geschichte der Arbeiter­bewegung 1830–1934“ veröffentlicht.

Gab es auch viel Obdachlosigkeit?

Auf den Straßen weniger, weil es verboten war und die Ordnungskräfte aufpassten. Aber es gab große Armenhäuser und in Berlin gab es auch Slums, wie wir sie heute im globalen Süden sehen: Am Kottbusser Tor standen Bretterwüsten, wo sich Menschen aus der Not heraus etwas zusammengezimmert haben.

Wie muss man sich das Miteinander vorstellen in Friedrichshain 1872?

Ein wichtiger Faktor für das Zusammenleben waren die Kieze. Das Leben der Menschen hat sich mehr vor Ort abgespielt als heute. Es gab keinen öffentlichen Nahverkehr. Man konnte nicht in Friedrichshain wohnen und in Spandau arbeiten. Man hat zusammen im Kiez gearbeitet und gewohnt, der soziale Zusammenhalt war höher. Gleichzeitig war nicht ganz Friedrichshain arm, in einem Straßenzug wohnten eher einfache Leute, im nächsten schon die Mittelschicht. Insgesamt war Friedrichshain mit seinen großen Färbereien überwiegend ein Arbeiterbezirk.

Was war der Auslöser für die Mietenkrawalle am 25. Juli 1872?

Einer der Bewohner der Blumenstraße sollte geräumt werden. Sein Name war Ferdinand Hartstock. Wir wissen nur, dass er Tischler war. Der Gerichtsvollzieher rückte an, um ihn zu exmittieren, wie es damals hieß. Der Grund war vom Vermieter vorgeschoben: Hartstock soll einen Untermieter aufgenommen haben, was laut Mietvertrag verboten war. Den Vermieter, der im selben Haus wohnte, hatte das lange nicht gestört. Er hat vermutlich nur einen Vorwand gesucht, um angesichts der Wohnungsnot teurer zu vermieten.

Wie eskalierte die Situation?

Hartstock hatte Streit mit der Spedition, die seine Sachen verlud. Er beschwerte sich lautstark auf der Straße. Viele Anwohner, die ebenfalls unter der Wohnungsnot litten, kamen dazu, bis mehrere Hundert, wahrscheinlich sogar mehrere Tausend sich solidarisierten. Sie warfen die Scheiben des Vermieters ein und errichteten Barrikaden. Als die Polizei kam, hagelte es Steine. Es gab gewaltsame Auseinandersetzungen im Viertel bis spät in die Nacht. Die Gaslaternen wurden eingeworfen, damit die Polizei nichts sieht, schließlich wurde auch berittene Polizei eingesetzt. Die Straßenkämpfe haben sich drei Tage lang fortgesetzt.

Was passierte mit den Slums?

Die Slums vor dem Frankfurter Tor sollten unabhängig von den Blumenstraßenkrawallen geräumt werden. Die Baracken wurden dann ungeschickterweise just einen Tag nach der Räumung abgerissen. Die Geräumten sind mit ihren Habseligkeiten durch die Stadt gezogen und haben die Krawalle wohl weiter angeheizt und Friedrichshain auf die Barrikaden getrieben. Abgerissen hat man die Slums wegen eines anstehenden Drei-Kaiser-Treffens, damit der russische Zar und der Kaiser von Österreich-Ungarn nicht mit den Slums konfrontiert wurden.

Waren es ungezielte Krawalle oder waren auch Revolutionäre am Werk?

Es gab zu der Zeit schon eine Arbeiterbewegung, Die Arbeiterbewegung war damals noch zu schwach und hatte keine Basis, um Straßenkämpfe zu steuern oder zu initiieren. Die Eisenacher um August Bebel, der ADAV und andere hatten noch nicht die organisatorische Stärke. Man konnte noch nicht von einer Massenbewegung sprechen. Ebenso hatten Sozialdemokraten Hemmungen, sich zu solidarisieren, weil sie Repressionen fürchteten. Dazu kam es ja später auch – etwa mit Sozialistengesetzen. Es war spontaner Protest, der von Anwohnern ausging und sich auch schnell wieder verlaufen hat.

Würden Sie trotzdem sagen, die Krawalle waren politisch?

Es hängt davon ab, wie man politisch definiert. Die Straßenkämpfe waren natürlich ein Symbol der Klassengegensätze. Die Ausschreitungen haben das Wohnungsproblem in die öffentliche Debatte geholt. Das wurde in Zeitungen rege diskutiert: Linke Zeitungen wie der Neue Social-Demokrat haben Empathie aufgebracht für die Wohnungsnot. Die konservative Neue Preußische nannte es unnötigen Krawall und rief nach der Ordnungsmacht. Aber alle waren sich einig, dass es sozialen Sprengstoff gibt.

Gab es politische Folgen?

Nein. Direkte politische Folgen, also verbessertes Mietrecht oder sozialen Wohnungsbau, gab es erst in der Weimarer Republik.

Also sah sich die Obrigkeit null verantwortlich für das Elend der Arbeiter?

Der Kaiser war zum Zeitpunkt der Unruhen auf Kur in Wiesbaden. Nachdem er von den Krawallen gehört hatte, schickte er ein Telegramm, dass der Aufstand schnell beendet und Ruhe und Ordnung wieder hergestellt werden müsste. Das Kaiserreich war ein Laissez-Faire-Staat, der sich nur für Ordnung im Sinne der Obrigkeit und Eliten einsetzte und sich für soziale Probleme nicht verantwortlich fühlte.

Griffen die Tumulte auf andere Stadtteile über oder gab es vergleichbare Krawalle anderswo in Berlin?

Schon im Jahre 1863 gab es die Moritzplatzkrawalle, die sind nicht ganz so bekannt, weil sie kleiner waren. Da ist ein Mann aus der Wohnung geworfen worden, weil er einen Eisenofen hatte, was wegen Brandschutz verboten war. Zeitgleich mit den Blumenstraßenkrawallen gab es in der Skalitzer Straße eine Räumung, in deren Zusammenhang es zu Auseinandersetzungen kam.

Gab es Befürchtungen vor einer Revolution wie 1848?

Ja, sowohl Obrigkeit als auch die Menschen hatten das natürlich im Hinterkopf. In Friedrichshain gab es ja 1848 auch Barrikadenkämpfe. Der Kaiser selbst hat diesen Zusammenhang hergestellt, Zeitungen sprachen von einer drohenden Mieterrevolution. Wilhelm I. war für sein Vorgehen 1848 besonders berüchtigt, als er hart gegen Revolutionäre vorging. Er hatte damals den Spitznamen „Kartätschen-Prinz“ – nach den Artillerie-Geschossen, die er gegen Personen einsetzen ließ. Dass der Kaiser diesen Vergleich zog, zeigt die besondere Brisanz. Er hat aber nicht in seinem Palast gezittert. Doch zumindest das Militär wurde in Bereitschaft gesetzt und mit scharfer Munition ausgerüstet.

Wie wurden die Krawalle beendet?

Mit Repression. Es gab über 100 Verletzte: Die Polizei hatte damals keine Gummiknüppel, sondern Säbel. Mit der flachen Seite haben sie auf Protestierende eingeschlagen. Die Folge waren gefährliche Schnittwunden. Ebenso wurden 102 Polizisten durch Steinwürfe verletzt. Später wurden 33 Personen verurteilt wegen Landfriedensbruch und mit bis zu vier Jahren Haft bestraft. Viele andere konnten sich aber der Strafverfolgung entziehen.

Wie ist die Quellenlage aus Sicht von Betroffenen, gibt es da Zeugnisse über Zeitungsberichte hinaus?

Direkte Dokumente sind mir keine bekannt. Es gibt natürlich Gerichtsakten, die nicht neutral, sondern aus Sichtweise der Obrigkeit auf die Proteste blicken. Das ist auch interessant, aber die gehaltvollsten Quellen sind Zeitungsberichte.

Nachdem das Bundesverfassungsgericht im April 2021 den Mietendeckel gekippt hatte, waren in Berlin spontan über zehntausend Mie­te­r*in­nen auf den Straßen – es kam auch zu vereinzelten Auseinandersetzungen mit der Polizei. Sehen Sie da Parallelen?

Natürlich sind die Verhältnisse nicht vergleichbar, es gibt heute Mieterschutz und eine soziale Grundsicherung. Aber natürlich sieht man, dass in Berlin die Mietenbewegung immer stark war: Auch in der Weimarer Republik, man denke an den Film „Kuhle Wampe“, aber auch die Häuserbesetzungen in den 70ern und 80ern. Immer, wenn soziale Probleme auftreten, haben wir eine Mietendebatte. Das ist kein Zufall: Wohnen ist eines der existentiellsten Themen überhaupt. Die heutige Tragweite kann man mit einem Engels-Zitat deutlich machen. Ein soziales Problem werde erst ein politisches Problem, wenn es auch die Mittelschicht betrifft. Das ist heute wieder der Fall. Die Initiative Deutsche Wohnen und Co. enteignen hätte vor 20 Jahren keinen Erfolg gehabt, über eine Million Menschen haben für Enteignungen gestimmt. Das zeigt, dass nicht nur Arme und linke Aktivisten, sondern die breite Masse der Bevölkerung betroffen ist.

Gibt es also bald wieder Mietenkrawall?

Es gibt auch heute sozialen Sprengstoff mit Inflation, der Energieproblematik und der Wirtschaftskrise. Es wird auch sicher wieder soziale Proteste geben – welche Form sie annehmen und wie militant sie werden, ist aber Kaffeesatzleserei.

Der Kiezspaziergang dazu startet Sonntag, 15 Uhr, Andreasplatz/Ecke Singerstraße in Friedrichshain.

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