: Die Nato beschließt ein neues Konzept
Darin wird Russland als „Bedrohung“ bezeichnet. Spaniens Regierungschef Sánchez hat beim Gipfel andere Sorgen
Jens Stoltenberg, Nato-Generalsekretär
Aus Madrid Reiner Wandler
Der Unterschied könnte größer nicht sein: Russland wird vom „strategischen Partner“ zur „größten, unmittelbarsten Bedrohung für die Sicherheit der Verbündeten und für Frieden und Stabilität im euro-atlantischen Raum“. So heißt es in dem neuen strategischen Konzept, das die Staats- und Regierungschefs der Nato-Staaten am Mittwoch in Madrid beschlossen. In ihrem neuen Sicherheitskonzept nahm das Militärbündnis auch erstmals Stellung zu China, dessen Politik als „Herausforderung“ bezeichnet wird.
Im vorherigen Sicherheitskonzept der Nato aus dem Jahr 2010 war Russland noch als strategischer Partner bezeichnet worden. Damals sei auch China „mit keinem Wort“ erwähnt worden, fügte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hinzu. Er bezeichnete außerdem den Klimawandel als Bedrohung, als „Multiplizierer von Sicherheitsrisiken“.
Zum Auftakt des Gipfels hatte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski per Videoschalte zur Nato-Versammlung gesprochen. „Dies ist nicht nur ein Krieg gegen die Ukraine, sondern einer, um die zukünftige Weltordnung zu entscheiden“, sagte er. „Im nächsten Jahr könnte die Situation nicht nur für die Ukraine, sondern auch für andere Länder, möglicherweise Nato-Mitglieder, schlimmer werden, wenn sie von Russland angegriffen werden.“
Einmal mehr forderte der ukrainische Präsident Militärhilfe. Sein Land brauche 5 Milliarden Euro im Monat, um Russland die Stirn zu bieten. Stoltenberg versprach Unterstützung bei Kommunikation, medizinischen Güter, Schutzausrüstung und Drohnen. Über Waffenlieferungen entscheiden weiter die Mitgliedsstaaten. Doch die Nato sicherte zu, der ukrainischen Armee bei der Umstellung auf westliche Waffensysteme zu helfen. Der Westen brauche „eine starke unabhängige Ukraine“, sagte Stoltenberg.
Um Russland an weiteren Überfällen zu hindern, wird die westliche Militärallianz ihr Potenzial in Europa erheblich verstärken. So kündigte Stoltenberg einmal mehr eine Aufstockung der schnellen Eingreiftruppen von bisher 40.000 auf „gut über 300.000 Mann“ an. Diese Truppen sollen bereits im kommenden Jahr einsatzbereit sein. Seit Dienstagabend steht auch einer Nato-Erweiterung nach Skandinavien nichts mehr im Weg. Die Türkei zog ihr Veto zurück, nachdem es mit Finnland und Schweden zu einer Einigung kam (siehe Text links).
Zur neuen Strategie gehören auch die Aufstellung von Truppen, die gezielt in einzelnen Mitgliedsländern eingesetzt werden können, dort mit einheimischen Truppen trainieren und so mit der Lage vertraut sind – „erstmals seit dem Kalten Krieg“, erklärte Stoltenberg. „Mehr tun kostet mehr“, fügte er hinzu. Die Mitgliedsländer müssten künftig 2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes in den Verteidigungshaushalt investieren. Nur 9 der 30 tun dies bereits. „Die 2 Prozent sind keine Ober-, sondern eine Untergrenze“, mahnte Stoltenberg.
Der wohl wichtigste Faktor im neuen Militärkonzept gegenüber Russland sind die USA. Präsident Joe Biden versprach eine Verstärkung der US-Militärpräsenz in Europa. Die USA, die bereits vor wenigen Wochen ihre Truppen in Europa von 80.000 auf 100.000 Mann aufgestockt hatten, werden zwei neue Geschwader von F-35-Tarnkappen-Kampfflugzeugen in Großbritannien stationieren und die Luftabwehr in Deutschland und Italien verstärken. Außerdem soll in Polen eine permanente Brigade mit eigenem Hauptquartier stationiert werden.
Deutschland werde seinen Beitrag zur Stärkung des Bündnisses leisten, auch wenn das „viel mehr Geld“ in Anspruch nehme, versicherte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Er verwies auf die 100 Milliarden Euro aus dem Sondervermögen für die Modernisierung der Bundeswehr und versprach weitere „Waffen, die die Ukraine dringend braucht“. Der Beitrag der Bundeswehr zu dem neuen Konzept der Eingreiftruppen wird nach Angaben von Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) mindestens ein Großverband sein.
Der Gipfel ist auch die Stunde von Gastgeber Pedro Sánchez. Der spanische Ministerpräsident hat endlich die Bilder mit US-Präsident Joe Biden, auf die er so lange warten musste. Die beiden saßen am Nachmittag vor der offiziellen Gipfeleröffnung eine Stunde im spanischen Regierungssitz La Moncloa zusammen. Vor der Presse ließ sich Sánchez als „unerlässlicher Partner“ loben.
Egal wo Sánchez dieser Tage auftritt, kennt er nur ein Thema – seine „360-Grad-Strategie“. Es geht dabei vor allem um Konflikte im Sahel und die illegale Immigration. So war auch beim Treffen mit Biden die Immigration ein Thema. „Beide Länder beabsichtigen, in einem umfassenden Ansatz zur Steuerung irregulärer Migrationsströme zusammenzuarbeiten, der eine faire und humane Behandlung von Migranten gewährleistet“, heißt es in einem gemeinsamen Dokument – und das nur vier Tage nachdem an der Grenze von Marokko zur spanischen Exklave Melilla mindestens 37 Immigranten ums Leben kamen, als die marokkanische und die spanische Polizei einen Ansturm auf die Grenze abwehrten. Statt einer Untersuchung der Vorfälle gibt es von Sánchez bisher nur Lob für die Arbeit der Polizei auf beiden Seiten. Die Nato will erstmals die beiden spanischen Exklaven an der Nordküste Afrikas, Ceuta und Melilla, ins Sicherheitskonzept aufnehmen.
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