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Anwältin über sexualisierte Gewalt „Es geht um Aufzwingen von Macht“

In der Ukraine werden Frauen und Kinder von russischen Truppen vergewaltigt. Kateryna Busol spricht über sexualisierte Kriegsgewalt.

Nach Butscha: Demonstration gegen den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine in Berlin Foto: Annette Riedl/dpa
Patricia Hecht
Interview von Patricia Hecht

Triggerwarnung: Das Interview enthält drastische Schilderungen sexualisierter Gewalt.

taz am wochenende: Frau Busol, Fälle von sexualisierter Kriegsgewalt durch russische Soldaten in der Ukraine erregen derzeit internationales Aufsehen. Worüber sprechen wir genau?

Kateryna Busol: Ich möchte zuerst sagen, dass es schon vor Februar 2022 sexualisierte Kriegsgewalt in der Ukrai­ne gab. Seit 2014 zum Beispiel an den Checkpoints zwischen den Gebieten, die durch die Regierung kontrolliert wurden, und den abtrünnigen Gebieten – vor allem aber in illegalen Lagern wie dem Isolazja in Donezk. Das ist ein früheres Kunstcenter, das zu einem Arbeits- und Gefängnislager wurde. Dort wurden Menschen systematisch gequält. Eine ukrainische NGO hat Aussagen von fast 200 Betroffenen sexua­lisierter Kriegsgewalt seit 2014 protokolliert.

Diese Protokolle sind schwer auszuhalten. Männer und Frauen berichten von Praktiken, bei denen Stacheldraht in Körperöffnungen eingeführt wurde oder Beton eingefüllt, außerdem von Gruppenvergewaltigungen.

Im Interview2Inews: Kateryna Busol

Die Anwältin

Kateryna Busol, 33, ist eine ukrainische Rechtsanwältin, die sich auf internationale Menschenrechte, humanitäres Völkerrecht und Strafrecht spezialisiert hat. Sie hat für verschiedene internationale Organisationen gearbeitet, darunter UN Women, den Global Survivors Fund und Global Rights Compliance und staatliche wie zivilgesellschaft­liche Akteur:innen der Ukraine bei der Zusammenarbeit mit dem Inter­na­tio­nalen Strafgerichtshof beraten. Seit März ist sie Gastforscherin am Leibniz-Institut für Ost- und Süd­ost­europa­studien der Universität Regensburg.

Das macht ihr Angst

Dass die Welt zu lange zögert und sich weigert, der unbequemen Wahrheit ins Gesicht zu sehen – schon bald wird es aber zu spät sein.

Das gibt ihr Hoffnung

Junge Menschen, die hinter die Bequemlichkeiten des täglichen Lebens schauen und Verantwortung übernehmen.

Die meisten Fälle vor 2022 betrafen Sol­da­t:in­nen in Gefangenschaft oder politisch aktive Zivilist:innen, darunter viele Männer, denen mit Kastration gedroht wurde. Weibliche Soldatinnen mussten sich für Leibesvisitationen ausziehen, nackt vor den Verhörern hocken, ohne zu wissen, was kommt. Allein, dass es andersgeschlechtliche Verhörer waren, ist ein Bruch der Genfer Konvention. Bei diesen Fällen war zwar häufig von Folter die Rede, was ein etwas weiterer Begriff ist. An dieser Stelle aber verschleiert er, worum es konkret geht: um sexualisierte Kriegsgewalt eben.

Sind die heutigen Fälle vergleichbar?

Die Muster und das Ausmaß der Fälle, wie wir sie jetzt aus den befreiten Gebieten hören, sind neu. Wir hören von grauenhafter Gewalt gegen Zi­vi­lis­t:in­nen, darunter sehr viele Mädchen und Frauen. Mit solchen Fällen hatte ich in der Ukraine noch nie zu tun. Manche Kinder, die mit Gegenständen vergewaltigt wurden, waren Berichten zufolge erst ein Jahr alt. Drei Schwestern, neun Jahre alt, wurden vor den Augen ihrer Mutter vergewaltigt, auch Frauen, die älter als siebzig Jahre sind, wurden vor nahen Verwandten vergewaltigt. Wie viele Fälle es gibt, ist derzeit noch völlig unklar – und selbst, wenn die Fälle einmal registriert sind, wird es voraussichtlich eine hohe Dunkelziffer geben. Das Stigma ist nach wie vor immens.

Ist es gut, dass derzeit so viel Aufmerksamkeit auf den Fällen liegt – um das Stigma zu brechen?

Es ist gut, die Geschichten bekannt zu machen. Aber ich mache mir Sorgen, ob das sensibel genug geschieht. Kommunikation kann Heilung sein, aber nur, wenn die Überlebenden die Zeit bekommen, die sie brauchen. Deren Kernbedürfnisse sind jetzt vor allem medizinische und psychologische Hilfe. Es muss um Notfallverhütung gehen, oder darum, welche Hotlines helfen. Eine Überlebende aus Charkiw, die nach mehreren Vergewaltigungen schwanger war, sagte einer NGO: Ich brauche euer Blabla nicht, ich will meinen Bauch zurück. Sie kommt aus einem kleinen Dorf, die nächste Möglichkeit für einen Abbruch ist vielleicht 200 Kilometer weit weg. Sie muss aber innerhalb von einem Tag hin- und zurückkommen, damit die Nachbarn nichts mitkriegen und sie sich um ihre Kinder kümmern kann.

Ist Abtreibung in der Ukraine legal?

Ja, anders als etwa in Polen, wohin viele fliehen. Aber vor allem auf dem Land ist das Thema noch immer heikel. Zudem haben viele Ärz­t:in­nen die Ukrai­ne verlassen oder sind an der Front. Es braucht möglichst schnell Gy­nä­ko­lo­g:in­nen, die mobile Hilfe vor Ort leisten. Eine Betroffene sagte zudem, dass Paarberatung gut wäre, weil viele es schwer finden, die Intimität von Familie und Partnerschaft wieder zu leben. Und schließlich braucht es Geld. Wenn die Häuser kaputt sind, wollen viele Überlebende umsiedeln, eine neue Wohnung und Arbeit finden. Um wieder ins Leben zurückzufinden, muss ihnen der Staat Sicherheit garantieren. All das wird dauern.

Um eine Verurteilung der Täter geht es den Überlebenden gar nicht?

Juristische Gerechtigkeit ist wichtig für Überlebende. Ich befürworte eine Wahrheitskommission für die Ukrai­ne, die den Opfern Gehör verschafft. Sie würde außerdem ermöglichen, ein breiteres Bild der russischen Aggression, ihrer Voraussetzungen und Folgen zu zeichnen.

Sexualisierte Gewalt ist schon ohne Krieg schwer zu beweisen. Ist das im Krieg noch schwerer?

Straf­ver­fol­ge­r:in­nen sind daran gewöhnt, mit bestimmten Beweisen zu arbeiten – im Fall von sexualisierter Gewalt zum Beispiel mit medizinischen, die aber innerhalb von 72 Stunden erbracht sein müssen. Wie soll das gehen, wenn eine Person in besetzten Gebieten lebt oder ein halbes Jahr lang festgehalten wird? Danach braucht sie noch mal ein halbes Jahr, um sich so weit zu stabilisieren, dass sie über die Geschehnisse sprechen kann. Es braucht also eine Veränderung im Vorgehen von Ak­teu­r:in­nen und Ermittler:innen: Sie müssen sich stärker auf Betroffene, Zeu­g:in­nen und Open-Source-Material verlassen.

Aber wie identifiziert man die Täter inmitten der Kriegswirren?

taz am wochenende

Die Arbeit in Textilfabriken in Bangladesch und Pakistan kann lebensgefährlich sein. Der Chef des deutschen Billig-Textilunternehmens KiK verspricht, das zu ändern. Unser Reporter hat ihn begleitet – wie die Reise lief, lesen Sie in der taz am wochenende vom 18./19. Juni. Außerdem: Was der Klimawandel mit den Binnengewässern macht. Und: Ein Hausbesuch bei einer Töpferin in 4. Generation. Ab Samstag am Kiosk, im eKiosk, im praktischen Wochenendabo und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Die Einheit, die in Butscha war, wurde zum Beispiel schon identifiziert – nicht zuletzt, weil Putin sie ausgezeichnet hat. Allerdings ist sie schon wieder unterwegs, soweit ich weiß, im Donbass. Wahrscheinlich wurden viele Täter dort selbst getötet. Ansonsten gibt es im Idealfall Aussagen von Zeu­g:in­nen, Fotos, Satellitenbilder. Es gibt Portale von NGOs und Regierung, an die Zeu­g:in­nen oder Betroffene all das schicken können. Wichtig ist, dass nicht nur die physischen Täter verurteilt werden. Sondern auch diejenigen, die die Taten nicht verhindert oder sogar Befehle dazu gegeben haben.

Worum geht es denjenigen, die sexualisierte Gewalt befehlen oder ausüben?

Um Macht und Unterdrückung. Sie pushen den Kreislauf von Gewalt und Schuld. Nicht nur in der Ukraine wird sexualisierte Kriegsgewalt vor allem von Gruppen von Männern begangen, die sich damit gegenseitig ihrer Männlichkeit versichern. Es verbindet sie. Verändert hat sich seit Februar die Sprache dabei.

Inwiefern?

Die russischen Soldaten drohen den Frauen zum Beispiel damit, dass sie sie so lange vergewaltigen, bis sie nie wieder Lust auf Sex mit ukrainischen Männern hätten und keine ukrainischen Kinder mehr zur Welt bringen würden. Es geht um ein imperiales Aufzwingen von Macht, das den tiefsten menschlichen Kern trifft, weil es ganze Familien ebenso wie die Ukraine als solche zu Opfern macht. Und es entspricht Putins Rhetorik, die Ukraine sei Fiktion. Es bedeutet: Ihr seid unser. Und wir machen mit euch, was wir wollen.

Sie sagen, es gebe Hinweise auf eine mögliche Dimension von Völkermord. Welche?

Völkermord ist das juristisch wahrscheinlich am schwersten zu beweisende internationale Kriegsverbrechen. Eine besondere Absicht, etwa eine Nation ganz oder teilweise auszulöschen, muss nachgewiesen werden. Diese Absicht kann sich zum Beispiel durch Vergewaltigen, Töten oder Deportation zeigen – also dadurch, dass es Menschen unmöglich gemacht wird, sich fortzupflanzen.

Das liegt in der Ukraine vor?

Politisch haben schon das ukrainische Parlament, das Parlament der baltischen Staaten, das kanadische Parlament und andere gesagt, dass sie die aktuellen Vorgänge für Völkermord halten.

Und juristisch?

Verschiedene Verbrechen könnten darauf hindeuten: die horrende sexualisierte Gewalt in Butscha, Charkiw und anderen befreiten Gebieten. Die Berichte aus Mariupol und anderen Gebieten über die Deportation von Ukrai­ne­r:in­nen nach Russland. Die Tatsache, dass Russland die Adoption für ukrai­nische Kinder erleichtert hat. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Timothy Snyder hat über einen Artikel namens „What Russia Must Do to ­Ukraine“ der russischen Staatsmedien geschrieben, dieser sei ein „Lehrbuch für einen Genozid“: Es geht um Arbeitslager und territoriale Umstrukturierung. Eine genozidale Absicht ist juristisch also zumindest möglich.

Wie kann das aufgearbeitet werden?

Von 1945 bis 2014 gab es auf ukrai­nischem Boden keinen Krieg. Nun geht es letztlich um neue Formen von Gewalt, mit der Ermittler:innen, Straf­ver­fol­ge­r:in­nen und Rich­te­r:in­nen umgehen müssen. Das ist eine Herausforderung. Laut der ukrainischen Generalstaatsanwältin soll es demnächst sogenannte mobile Gerechtigkeitseinheiten geben, in denen internationale und innerstaatliche, juristische und forensische Ex­per­t:in­nen zusammenarbeiten. Diese Teams sollen die Schauplätze der Kriegsverbrechen untersuchen und sensibel dokumentieren, was dort passiert ist.

Die Analysen können dann vor Gericht verwendet werden?

Ja, wahrscheinlich zunächst für innerstaatliche Verfahren. Allerdings sind schon jetzt viele internationale Ak­teu­r:in­nen involviert, zum Beispiel Fo­ren­si­ke­r:in­nen aus Frankreich oder den Niederlanden, ebenso der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag. Auch andere ausländische Gerichte können später beteiligt sein. In der Bundesrepublik wurde zum Beispiel das erste Urteil zum Genozid an den Je­si­d:in­nen gesprochen. Wichtig ist vor allem die Gerechtigkeit gegenüber den Überlebenden. Dabei geht es nicht nur um das einzelne Urteil, sondern um die historische Lehre, die wir – Ukrainer:innen, Rus­s:in­nen und andere – aus diesen entsetzlichen Ereignissen ziehen. Daran werden uns künftige Generationen messen.

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