Nach dem Schulmassaker von Texas: Eine ganze Stunde
Neue Erkenntnisse legen nahe, dass das Massaker in der Grundschule von Uvalde viel früher hätte beendet werden können. Angehörige sind fassungslos.
Nach dem Attentat hatte es am Mittwoch zunächst einige widersprüchliche Aussagen von Behörden gegeben. Auf einer Pressekonferenz mit Texas’ Gouverneur Greg Abbott am Mittwoch hatte es noch geheißen, ein Schulpolizist habe den Todesschützen in der Kleinstadt Uvalde schon am Betreten der Schule zu hindern versucht. „Es hätte schlimmer kommen können“, sagte Abbott und lobte den „unglaublichen Mut“ der beteiligten Sicherheitskräfte.
Bei einer erneuten Pressekonferenz am Donnerstag stellte Victor Escalon, Regionaldirektor bei der Behörde für öffentliche Sicherheit in Texas, nun klar: Einen solchen Vorfall mit einem Schulpolizisten hatte es gar nicht gegeben – zu dem betreffenden Zeitpunkt war dort keiner gewesen.
Escalon erklärte, was man bisher über den Tatverlauf wisse: R. war demnach gegen 11:28 Uhr bewaffnet aus seinem Auto gesprungen, mit dem er in unmittelbarer Nähe der Grundschule in der Kleinstadt Uvalde einen Unfall gehabt hatte. Zwei Zeug*innen hätten den Bewaffneten von dem nahegelegenen Beerdigungsinstitut aus gesehen, der Mann habe auf sie gefeuert. Der erste Notruf sei um 11:30 Uhr abgegeben worden.
Eltern forderten die Polizisten auf, endlich reinzugehen
Der Täter sei schließlich über einen Zaun auf den Parkplatz der Schule gestiegen, wo er bereits Schüsse auf das Gebäude abfeuerte. Etwa um 11:40 Uhr sei R. dann an der Westseite der Schule durch eine offenbar unverschlossene Tür in die Schule gelangt, so Escalon. Dort sei er dann über den Flur zu einem offenen Klassenzimmer gegangen.
Sicherheitskräfte seien um 11:45 Uhr vor Ort eingetroffen. Allerdings gingen sie nicht in das Klassenzimmer, „wegen der Schüsse, die auf sie abgefeuert wurden“, erklärte Escalon weiter. Sie hätten keine Spezialausrüstung gehabt, daher Verstärkung angefordert und in der Zwischenzeit Schulkinder und Lehrkräfte evakuiert. Etwa eine Stunde nach Ankunft des Todesschützen seien Spezialkräfte der US-Grenzschutzpolizei eingetroffen und hätten R. getötet.
Die von Gouverneur Abbott noch am Mittwoch so gelobte Polizeireaktion auf den Vorfall dürfte wohl eher für Wut unter den Betroffenen gesorgt haben. Ein Handyvideo vom Tatort in der Kleinstadt Uvalde hatte in sozialen Netzwerken die Runde gemacht. Es zeigt verzweifelte Eltern und andere Bewohner*innen, die bewaffnete Beamte lautstark dazu auffordern, in das Gebäude zu gehen und wegen deren Untätigkeit auch selbst die Grundschule stürmen wollen. Davon hält die Polizei sie jedoch ab.
„Da waren mindestens 40 bis an die Zähne bewaffnete Polizist*innen, aber sie haben verdammt nochmal nichts getan, bis es viel zu spät war“, sagte Jacinto Cazares dem Sender ABC. Seine Tochter Jacklyn Jaylen Cazares starb bei dem Blutbad. „Die Situation hätte schnell vorbei sein können, wenn sie eine bessere taktische Ausbildung gehabt hätten – und wir als Gemeinschaft haben das aus erster Hand miterlebt.“
Er bezeichnete sich selbst als Waffenbesitzer. Die Waffen seien nicht schuld an der Tragödie, so Cazares, der aber gegenüber ABC kritisierte, wie einfach der Kauf von Waffen sei: „Ich bin wütend darüber, wie leicht es ist, eine zu bekommen, und wie jung man sein kann, um eine zu erwerben“, sagte der Vater.
„Die Eltern waren verzweifelt“
Der Pastor Daniel Myers, der sich am Dienstag am Tatort befand, sagte der Nachrichtenagentur AFP, es sei „Zeit verloren“ worden. Offenbar hätten die eingetroffenen Polizist*innen auf Verstärkung gewartet. „Die Eltern waren verzweifelt“, sagte Myers laut AFP. „Ein Verwandter hat gesagt: 'Ich war in der Armee, gebt mir einfach nur eine Waffe, ich gehe rein. Ich werde nicht zögern, ich gehe rein.’“
Behördenvertreter Escalon ließ am Donnerstag viele Fragen offen. Er bat um mehr Zeit und verwies darauf, dass man das gesamte Material sammeln und auswerten sowie die Polizist*innen interviewen müsse, um alles zu beantworten. Viele Details, auch ein Motiv des Täters, sind noch unbekannt.
Derweil forderte der texanische Abgeordnete Joaquin Castro aus dem nahegelegenen San Antonio bereits das FBI dazu auf, den Ablauf des Massakers und das Verhalten der Sicherheitskräfte zu untersuchen. „Die staatlichen Behörden haben die Öffentlichkeit mit widersprüchlichen Darstellungen darüber informiert, wie die Tragödie in Uvalde verlief“, schrieb Castro auf Twitter. (mit afp)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland