piwik no script img

Kampf um ukrainische Stadt MariupolEnde nach 82 Tagen

Die letzten ukrainischen Verteidiger von Mariupol geben auf – in der Hoffnung auf einen Gefangenenaustausch. Ob Russland dazu bereit ist?

Ein russischer Soldat überwacht die Evakuierung der ukrainischen Soldaten aus dem Asowstal-Komplex Foto: Valentin Sprinchak/itar-tass/imago

Berlin taz | Die bisher blutigste Schlacht des Kriegs in der Ukraine ist offenbar vorbei. Die letzten Verteidiger der Hafenstadt Mariupol, die seit Wochen im von russischen Truppen belagerten Stahlwerkkomplex Asowstal ausharrten, haben auf Befehl der ukrai­ni­schen Generalstabs den Kampf eingestellt und sich ergeben. Nachdem am Montag zunächst 264 Soldaten, darunter 53 Schwerverletzte, in russisch kontrolliertes Gebiet evakuiert wurden, stieg die Zahl der Evakuierten am Dienstag um weitere 694 auf 959, wie am Mittwoch früh bestätigt wurde.

Wie viele Soldaten sich noch im Stahlwerk befinden, blieb zunächst unklar. Denis Puschilin, der Anführer der prorussischen „Volksrepublik Donezk“, behauptete am Mittwoch, die führenden ukrainischen Kommandeure im Stahlwerk befänden sich noch auf dem Gelände.

Unklar ist auch das Schicksal der Evakuierten. Der Militärgeheimdienst der Ukraine gab bekannt, er wolle die Evakuierten in einem Gefangenenaustausch gegen russische Soldaten freibekommen. Nach Angaben des Institute for the Study of War in den USA, das sich auf beide Seiten beruft, gibt es einen entsprechenden Deal zwischen dem ukrainischen und dem russischen Militär. Radikale Kräfte in Moskau und in Donezk seien allerdings dagegen.

Mariupol, wo derzeit nur noch wenige Zehntausend von einst einer halben Million Einwohnern leben – über 20.000 weitere wurden nach ukrainischen Angaben während der russischen Angriffe getötet, Hunderttausende sind geflohen –, bleibt jedenfalls fast komplett zerstört. Russland hat dennoch ein Interesse daran, die riesigen Hafen- und Industrieanlagen der Stadt zu nutzen. Als erstes soll bis zum 25. Mai der Hafen von Minen und versenkten ukrainischen Schiffen freigeräumt werden.

Ukraine befürchtet verstärkte Angriffe

Der Sieg in Mariupol setzt russische Truppen für den Einsatz an anderen Fronten frei. So befürchtet die Ukraine nun verstärkte Angriffe anderswo und intensiviert ihre Gegenangriffe. In der russisch kontrollierten Stadt Melitopol im Süden der Ukraine wurde Berichten zufolge am Mittwoch ein Zug mit zehn Waggons voller russischer Soldaten bombardiert und zerstört.

Schweden und Finnland haben derweil am Mittwoch offiziell ihre Nato-Beitrittsanträge am Nato-Hauptquartier in Brüssel eingereicht. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sprach von einem „historischen Moment“. Die Nato hat Finnland und Schweden eine Aufnahme im Schnellverfahren in Aussicht gestellt. Das jedoch wurde wenige Stunden nach den Anträgen von der Türkei vorerst blockiert. So war es am Mittwoch im Nato-Rat nicht wie geplant möglich, den Beschluss für den Beginn der Beitrittsgespräche zu fassen – er muss einstimmig von allen 30 Nato-Mitgliedern gefasst werden.

Präsident Recep Tayyip Er­do­ğan wirft Finnland und Schweden eine zu laxe Haltung gegenüber „Terrororganisationen“ wie der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vor. Er sagte vor dem türkischen Parlament in Ankara, er erwarte von den Nato-Verbündeten, „dass sie unsere Sensibilität zunächst verstehen, respektieren und schließlich unterstützen“. Schweden habe die Anträge der Türkei auf Auslieferung von 30 „Terroristen“ abgelehnt und verlange nun „unsere Unterstützung für ihre Nato-Mitgliedschaft“. Dazu könne Ankara „nicht ‚ja‘ sagen. (afp, rtr)

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

3 Kommentare

 / 
  • Ja-ja, der gute Recep ist ganz schönes Sensibelchen ...

    Sein Umgang mit Oppositionellen spricht Bände darüber was der Despot vom Bosporus von freier Meinungsäußerung und Menschenrechten hält. Nun erpresst er das Verteidigungsbündnis was ihn und sein Land schützen soll mit seiner Kurdenphobie.

    Der Typ ist meiner Meinung nach hochgradig paranoid-schizophren unterwegs, der verfolgt jene, an denen er persönlich, politisch, institutionell wie militärisch, gescheitert ist auch noch bis ans Ende der Welt - und darüber hinaus, statt er froh darüber ist, dass diese seiner schon so überdrüssig geworden sind und sich tausende von Kilometern von seiner Person entfernen - man fragt sich dabei unweigerlich was er überhaupt will - nichts scheint ihm recht, sucht er den Streit?

    Das ist unser Recep Tayyip Erdoğan - ein echter Versager!

  • Evakuiert also. Da war selbst die TAZ heute Morgen schon weiter. Und andere Blätter sprechen längst - richtigerweise - von Kapitulation. Die ukrainische Führung mag‘s halt nicht zugeben. Verständlich, aber kein Grund, es nachzuplappern. Schön, dass schon mal so viele draußen sind. Stellt sich die Frage, wer jetzt noch drinnen ausharrt und warum, wo doch inzwischen sogar offiziell zum Aufgeben aufgerufen wurde.

    • 8G
      83191 (Profil gelöscht)
      @Fail Again:

      Auch eine Kapitulation, insbesondere in einem unterirdischen Bunker-Netzwerk, muss organisiert werden.

      Ich vermute die höheren Offiziere des Ukrainischen Militärs klappern im Moment die einzelnen Widerstandsnester ab und organisieren die Kapitulation und das Niederlegen der Waffen. Zerstören ggf. noch Ausrüstung, die den Russischen Streitkräften nicht in die Hände fallen soll (Funk-Codes, Pläne, Waffen usw.)

      Zudem ist eine Verzögerung durchaus sinnvoll, da auf diese Weise Vertrauen bzgl. der Behandlung der Kriegsgefangenen aufgebaut werden kann. Wären die ersten 200 standrechtlich erschossen worden, hätte die Russische Armeeführung noch irgendeine Ausrede bringen und das Ganze dementieren können. Das geht unter den Augen der Weltöffentlichkeit jetzt nicht mehr (bzw. nur mit viel härteren Konsequenzen).