Diskriminierung von russischen Menschen: Der Krieg auf dem Schulhof
Eine Schule in Bremen mit vielen russischen Schüler:innen sucht nach einem Weg, mit drohenden Konflikten wegen des Krieges in der Ukraine umzugehen.
S ind deine Eltern für den Krieg?“ Leon weicht meinem Blick nicht aus. Nach kurzem Schweigen sagt er: „Ich möchte das nicht kommentieren.“ Es klingt nicht abweisend, sondern bittend. Kurz zuvor habe ich ihn bereits gefragt, ob er sich mit seinen Eltern, die als Angehörige der deutschen Minderheit aus Russland stammen, über den Angriff auf die Ukraine streitet. „Ich vermeide Gespräche darüber“, hat er geantwortet.
Erst am nächsten Tag wird mir klar, dass ich ihn auch hätte fragen können, ob er den Krieg richtig findet. Er ist 18, er hat eine eigene Meinung. Was frage ich nach seinen Eltern. Aber ich hatte Angst vor der Antwort.
Es ist Freitag, der 15. Tag des Kriegs, und Leon und vier weitere Schüler:innen der Oberschule an der Kurt-Schumacher-Allee in Bremen sitzen in ihrer Pausenhalle und erzählen, was der Krieg mit ihrem Leben zu tun hat. Die Schule liegt in der Vahr, dem Bremer Stadtteil mit dem höchsten Anteil von Zuwanderer:innen aus Russland.
Er ist geprägt von Mehrfamilien- und Hochhäusern aus den 1960er-Jahren. Das Oberstufengebäude der Schule, die die Schüler:innen „KSA“ nennen, ist neu. Große Fenster, hohe Decken, die Tische und Bänke aus hellem Holz. Drinnen und draußen hängen Plakate: „Nie wieder Krieg“, eine Friedenstaube auf gelb-blauem Grund.
Vor einer Stunde hat ein Mädchen hier John Lennons „Imagine“ gesungen, von einem Mitschüler am Klavier begleitet. Ein anderer spielte auf der Gitarre „Der Traum ist aus“ von Ton Steine Scherben. Ein Lehrer und eine Schülersprecherin hielten Reden, der Schulleiter Christian Sauter warnte vor einer „Militarisierung des Denkens“.
Auf der Schule werden 60 Sprachen gesprochen
Er rechnete vor, dass an der Schule 60 Sprachen gesprochen werden, und sagte, das Zusammenleben vieler unterschiedlicher Menschen sei immer sowohl eine Zumutung als auch bereichernd. Mit den Worten „Tragt das hinaus, das ist unsere Botschaft“ beendete er seine Rede, dann brach ihm die Stimme.
Die Sorge, dass sich der Krieg auf dem Schulhof fortsetzt, ist in der Vahr real. Deshalb ist es auch kein Zufall, dass es hier solche Aktionen gibt. Zunächst für die Großen, eine Woche später, am vergangenen Freitag, für die Kleinen.
Nach der Gedenkstunde sind die fünf Oberstufenschüler:innen da geblieben: Leon, drei weitere junge Männer und eine junge Frau. Um uns herum sitzen noch einmal 20 bis 30 Schüler:innen, die nur zuhören, mucksmäuschenstill. Dabei sind neben dem Schulleiter auch der Politiklehrer Jens Winter, der die Stunde gemeinsam mit der Schüler:innen-Vertretung organisiert hat, und die Lehrerin Viktoriia Donchuk. Sie unterrichtet in den Vorkursen für Geflüchtete und ist vor neun Jahren aus der Ukraine nach Deutschland gekommen. Sie stammt aus Donezk im Osten des Landes. Ihr Vater und ein großer Teil ihrer Familie leben noch dort.
Die Schüler:innen stellen sich vor. Alle heißen eigentlich anders, gemeinsam denken sie sich Vornamen aus, lachen, als sich jemand „Jonas“ wünscht. „Nee, das passt doch nicht.“ Neben Leon sitzt Mariam, eine 17-Jährige. Ihre Familie kommt aus Tschetschenien, das seit 1999 von Russland nach einem kurzen Krieg kontrolliert wird. Jetzt muss ihr Cousin für Russland in der Ukraine als Soldat kämpfen. Sie weiß nicht, ob er noch lebt. Alle paar Sekunden, erzählt sie, würde sie in ihrem Handy nachschauen, ob es eine Nachricht von ihm gibt. Sie wünscht sich, dass mehr Leute etwas gegen Putin und seinen Krieg gegen die Ukraine sagen.
Angst um Angehörige
Dann ist da noch Mateusz, 16. Seine Familie kommt ursprünglich aus der Ukraine, lebt aber schon lange in Polen. Neben Mariam auf der Bank sitzt Alex, ebenfalls 17. Er wirkt bedrückt, sagt wenig und spricht so leise, dass er hinter der Maske kaum zu verstehen ist. In Usbekistan ist er geboren. Sein Vater arbeitet als Journalist. Schon vor dem Kriegsausbruch ist er nach Kiew gegangen, um für ein internationales Medium zu berichten. Jetzt bleibt er dort.
Ob er wütend auf seinen Vater sei, frage ich Alex. „Ich habe ihm gesagt, dass er zurückkommen soll“, sagt er. Er glaube seinem Vater aber, wenn der ihm sagt, er brauche sich keine Sorgen zu machen. Dabei klingt er so, als ob er sich selbst noch davon überzeugen müsse.
Auch Roman, mit 19 Jahren der Älteste, hat Angst. Um einen Cousin, der in der Nähe Moskaus auf dem Dorf lebt und eingezogen werden könnte. Aber auch um andere Angehörige. Warum genau, kann er auf Nachfrage der ukrainischen Lehrerin nicht sagen. Auch seine Familie sind als Russlanddeutsche nach Deutschland emigriert. Seine Eltern seien gegen den Krieg und für eine diplomatische Lösung, sagt er.
Wir sprechen nicht darüber, wie eine diplomatische Lösung aussehen könne – ob das bedeutet, dass die Ukraine kampflos Landesteile aufgibt und russische Gebietsansprüche absegnet. Niemand von uns, vielleicht mit Ausnahme der angespannt wirkenden Lehrerin, scheint bereit, ein Streitgespräch zu führen. Aber auch sie hakt nicht nach, wenn Roman sagt, ursprünglich habe es ja geheißen, nur Kiew solle von „den Faschisten“ befreit werden. Später, nach dem Gespräch, sagt der Schulleiter leise, er müsse vielleicht noch mal den Faschismus-Begriff im Unterricht durchnehmen.
„Auf welcher Seite stehst du?“
Aber warum auch sollten deutsche Schüler:innen Position in einem Krieg beziehen müssen, den ein Mann und seine Schergen führen? Diese Frage stellt sich nicht nur an der KSA-Oberschule. „Auf welcher Seite stehst du?“ sei ihr neunjähriger Sohn am ersten Tag des Kriegs gefragt worden, nur weil er zu Hause russisch spreche, erzählt mir eine Sozialarbeiterin aus einem anderen Stadtteil, in dem ebenfalls viele russischstämmige Menschen leben. Auch der Oberstufenschüler Roman kennt einen Jungen, den er in Basketball trainiert, der schikaniert werde.
In den sozialen Medien kursieren erschütternde Berichte über anti-russische Diskriminierung. Kinder und Jugendliche sollen beschimpft und verprügelt worden sein. Darunter befinden sich auch Fake-News. Ob es sich wirklich um ein Massenphänomen oder um Einzelfälle handelt, lässt sich derzeit mangels empirischer Forschung schwer sagen.
Deutlich wird bei der Recherche zu diesem Artikel, dass der Umgang der Schule mit dem Krieg einen wichtigen Einfluss auf das Verhalten der Kinder hat. Ob sie ein Freund-Feind-Schema fördert oder dem gezielt entgegenwirkt. Eine in Sankt Petersburg aufgewachsene Freundin vermittelt mir den Kontakt zu einer Mutter in Bremen, deren Neunjähriger sich von einem älteren Jungen anhören musste, Russland sei scheiße, deshalb sei er auch scheiße.
Zuvor hatten alle Kinder auf dem Schulhof unter Anleitung der Lehrer:innen blaue und gelbe Blumen gepflanzt. Ihr Sohn und eine Mitschülerin – ebenfalls mit russischen Eltern – hätten geweint, erzählt die Frau, eine erklärte Putin-Gegnerin. „Ich weiß nicht, warum. Vielleicht hat er sich schuldig gefühlt.“ Gemerkt habe niemand, wie es ihm ging.
Keine Feindbilder schaffen
Ähnliches berichtet Klara Bernau. Sie leitet die Grundschule an der Witzlebenstraße, zehn Gehminuten von der KSA-Oberschule entfernt. In jeder Klasse, erzählt sie am Telefon, säßen zwei bis drei Kinder mit russischem Migrationshintergrund, an der ganzen Schule vielleicht vier oder fünf mit ukrainischem. Aber ganz genau wisse sie es gar nicht, weil nicht immer bekannt sei, wo Eltern oder Großeltern geboren sind.
An einem der ersten Kriegstage hätte eine Achtjährige geweint, weil sie dachte, jetzt würde niemand mehr mit ihr spielen wollen. Und als ein Junge die gelb-blaue Flagge malte, hätten seine russischen Mitschüler:innen gedacht, er möge sie nicht mehr. Wichtig sei, sagt die Schulleiterin, keine Feindbilder zu schaffen oder deren Entstehen unabsichtlich zu befördern. Sie würden deshalb bewusst von „Putin“ sprechen, der den Krieg führe, nicht von „den Russen“.
Und: Viele Russ:innen leiden selbst unter dem Krieg und unter Putins Politik. Darauf weist die Bremer Trauma-Therapeutin Danja Schönhöfer hin, die mit Geflüchteten und Folteropfern arbeitet. „Ich finde es wichtig, kein ‚Wir‘ und ‚Ihr‘ aufzubauen, keine Täter-Opfer-Aufteilung“, sagt sie auf meine Frage am Telefon, wie sich die Schulen auf die Aufnahme der geflüchteten Kinder und Jugendlichen vorbereiten können. Was neuen Konfliktstoff birgt.
„Es geht hier nicht um eine ethnische Konfrontation“, sagt Schönhöfer. „Die Kinder haben letztendlich alle Angst. Vielleicht ist es wichtig, diesen verbindenden Aspekt immer mal wieder hervorzuheben.“ Gleichzeitig müsse klar sein, dass Kinder Distanz zueinander halten dürfen, wenn sie das möchten.
Putinverehrer in der 8. Klasse
Der Schulleiter der KSA, Christian Sauter, macht mich nach dem Gespräch mit den Schüler:innen darauf aufmerksam, dass russischstämmige Schüler:innen nicht immer Mobbing-Opfer seien – sondern manchmal auch Täter:innen. So habe die Lehrerin einer achten Klasse um Hilfe gebeten, weil dort eine Gruppe von Schüler:innen den Ton angibt, die Putin verehrt. „Faschisten müssen sterben“, solche Äußerungen würden dort fallen.
An der Grundschule in der Vahr haben die Lehrer:innen am Anfang des Krieges darüber gesprochen, wie sie damit umgehen, dass manche Kinder zu Hause hören, Putin sei ein Held – und in der Schule das Gegenteil. Ein paar Kinder hätten auch erzählt, dass ihre Eltern sagen, die Ukraine habe den Krieg begonnen, sagt Schulleiterin Klara Bernau. „Wir wollen sie nicht in einen Loyalitätskonflikt bringen, aber wir beziehen ganz klar Position und vermitteln den Kindern, dass sie den Informationen, die deutsche Medien vermitteln, trauen könnten.“ Bisher hätten sich keine Eltern beschwert.
Auch im Gespräch mit den fünf Schüler:innen geht es viel um die Glaubwürdigkeit von Informationen. Leon und Roman sagen wiederholt, sie wüssten nicht, wem sie glauben sollen. Man müsse immer beide Seiten sehen. Dabei sagen sie selbst, die Presse in Russland werde zensiert. Es ist ihnen anzusehen, wie sie um Wahrheit ringen.
Nach dem Gespräch loben der Schulleiter Christian Sauter und der Politiklehrer Jens Winter die Offenheit der Schüler:innen und die Aufmerksamkeit der Zuhörenden um sie herum. „So etwas müssen wir viel häufiger machen“, sagen beide. Einfach nur erzählen und zuhören. „In den Medien reden immer nur Erwachsene“, sagt die Schüler:innensprecherin auf meine Frage, warum sie sich freiwillig dazugesetzt hat. Sie wollte endlich mal hören, was Jugendliche denken.
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