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Bahn und PünktlichkeitLieber bequeme Bänke

Die Bahn strebt 80 Prozent Pünktlichkeit an. Aber Pünktlichkeits-Prozentsätze sind inhaltsleeres und bedeutungsloses Benchmarking.

Einmal entspannt reisen – das wäre schön! Foto: Max Kovalenko/imago

Der deutsche Gartenzwerg in mir ist ab einer Minute Verspätung bereit zur Revolution. Dabei finde ich, Unpünktlichkeit der Bahn hin und her, Langstreckenreisen mit dem Zug in aller Regel entspannter als den Bundespenisvergleich namens Autobahn. Auf der es ja auch zu Verspätungen kommt – redet nur niemand so leidenschaftlich drüber.

Trotzdem freut sich der Gartenzwerg in mir diebisch über jede DB-Pünktlichkeitsstatistik. 80 Prozent pünktliche Züge verspricht Bahnchef Richard Lutz fürs laufende Jahr. Und das, obwohl man mit drei, vier Wetterextremen rechnen muss und viel gebaut wird, zum Beispiel im Raum Köln. Lutz will aber künftig an den Baustellen mehr nachts arbeiten lassen.

80 Prozent Pünktlichkeit, das beinhaltet erst Verspätungen ab fünf Minuten – obgleich alles darunter auch schon ins Gewicht fällt, wenn die Umsteigezeit knapp getaktet ist. Ausgefallene Züge zählen gar nicht. Und selbst dann bedeuten 80 Prozent Pünktlichkeit, dass jeder fünfte Zug verspätet ist. Alles zu schaffen, wenn man jung, fit und able-bodied ist, sich ein Herz fasst, den Sprint übt („Achtung, Gleis 2 erreichen Sie im Moment nur via Gleis 11 Süd“) und dabei Familien und Schwächere aus dem Weg boxt. Und wenn nicht, dann ist halt für die nächsten zwei Stunden ein Barhocker bei LeCrobag Ihr Zuhause.

Eine Verspätung oder ein verpasster Anschluss sind vor allem deshalb schlimm, weil der Aufenthalt am Bahnhof verunmöglicht wird. Weil es an Personal fehlt zur Betreuung mobilitätseingeschränkter Reisender.

Immer noch besser

Weil die Informationspolitik hakt und die Quäktröte in Abschnitt F niemand versteht. Weil die Bahn ihre „Lounges“ als Belohnung für brave Viel­fah­re­r*in­nen begreift. Es geht nicht um Ankunft 16.50 versus 16.35, sondern ob man sich unterwegs als Mensch fühlen durfte. Pünktlichkeits-Prozentsätze sind inhaltsleer. Bedeutungsloses Benchmarking anstelle bequemer Bänke.

Immer noch besser, als mich acht Stunden lang zwischen Brummis und Porsches einzufädeln. Kriegt man schon hin. Aber davon, als Grundversorgerin für Mobilität in Deutschland attraktiv zu werden, ist die Bahn viel zu weit entfernt. Vielleicht wäre es sinnvoll, würde das Management, statt turnusmäßig Quantitätsversprechen auszublubbern, an einer qualitativen Vision arbeiten. Die Bahn – reisen in schön. Schön wärs.

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9 Kommentare

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  • Es gab mal Wartesäle. Die waren nicht hübsch aber warm und man konnte geduldig sitzen. Es gibt in einigen Bahnhöfen die DB Lounge. Oft nur für die 1. Klasse. Und dann auch nciht, wenn das 1. Klasse Ticket ein Sparpreisticket war. Dieser Demütigung müssen sich ältere Passagiere aussetzen, die im HH HBF ihren Koffer die Treppen (ohne Aufzug) zur DB Lounge hochgeschleppt hatten, in der Hoffnung auf ein Plätzchen bis zum Umstieg. "Das ist ein Spar-Ticket, damit haben Sie hier keinen Zugang." sagte die gepflegte Blonde s-pitz. Andernorts gibt es gar keine "Lounge" oder sie ist so versteckt wie in Berlin, wie das Gleis 3/4 bei Harry Potter. Wartende Reisende bei der Bahn gehören leider viel zu oft dazu. Aus regulären oder Zugausfallgründen. Da hat die Bahn nichts zu bieten. Völlig wahr. Ein Armutszeugnis. Worauf noch mal sind die Deutschen eigentlich immer so stolz?

  • 1G
    164 (Profil gelöscht)

    Ich sehe das genau so wie der Autor. Man könnte mal damit anfangen an Bahnhöfen wieder Wind und Regenschütze aufzustellen die weniger irgendwelchen optischen Designkriterien genügen und dafür hinreichend das Wetter abhalten. Hier bei mir in der Gegend gibt es welche, wo man sich die Dächer auch hätte sparen können. Ist ja jetzt kein neues Phänomen, dass der Regen nicht notwendigerweise immer nur senkrecht von oben kommt...

    • 1G
      164 (Profil gelöscht)
      @164 (Profil gelöscht):

      Ach und - evtl. baut man die dann sogar aus Materialien, die nicht jeder Honk mit ein zwei Fusstritten kaputtmachen kann, wenn man schon keinen Bahnhofsvorsteher mehr bezahlen will, der auf das Ganze aufpasst.

  • Der Pünktlichkeitsindex ist sehr wohl mehr als nur ein Benchmark. Denn wenn ich meinen Anschlusszug bekomme, brauche ich all die Lounges, Cafés und Imbissbuden nicht. Ein Hamburger Hauptbahnhof hat mit oder ohne bequeme Bänke die selbe bescheidene Aufenthaltsqualität.

    Eine möglichst hohe Pünktlichkeit ist zudem nicht nur für das Ego der DB-Manager wichtig. Denn das Netz ist in sich abhängig von fast jeder Zugverbindung. Der berühmte Dominoeffekt. Nicht umsonst lässt man bei Fernverbindungen lieber ein paar Fahrgäste "im Regen stehen", anstatt die Stabilität des gesamten Netzes damit ins Wanken zu bringen.

  • 0G
    05989 (Profil gelöscht)

    "Immer noch besser, als mich acht Stunden lang zwischen Brummis und Porsches einzufädeln."

    Ich heule lieber im eigenen Mercedes als in der Straßenbahn... soll sinngemäß Reich-Ranitzki gesagt haben.

    Was das Erfassen der Verspätungen angeht scheint mir vor allem irrsinnig zu sein, das an absolute Fristen zu koppeln. Kein Mensch interessiert sich dafür, wieviel der Zug zu spät ankommt - also solange sich das im Bereich von unter einer Stunde bewegt.

    Aber wenn Anschlüsse verpasst werden, dann explodieren eben die individuellen Verspätungen, die die Bahn ja nicht trackt. Das wäre auch möglich, aber gut, man muss nicht jedes Datum erheben, dass erhebbar ist.

    Aber die Mindestanforderung wäre doch, dass jede Verspätung gezählt wird, die einen - Pünktlichkeit vorausgesetzt - möglichen Anschluss nicht mehr erreicht.

    Für die Bahn steckte die Chance darin, dass auch längere Verspätungen unter den Tisch fielen, wenn keine Anschlüsse verpasst wurden.

    Am Ende aller Zahlenspielereien bleibt das Problem, dass die Bahn seit den Privatisierungsplänen auf Verschleiss gefahren wird. Das Material ist schlecht gewartet, die Strecken nur eingeschränkt befahrbar, Signaltechnik und Verfahren überaltert, das Personal abgebaut... aber für Abwrackprämien, Wasserstoffmobilitätsforschung der Autokonzerne, Umgehungsstraßen in strategisch wichtigen Wahlkreisen sowie Diesel- und Dienstwagenprivileg ist Geld in jeder Menge verfügbar.

    So geht Verkehrswende in Deutschland - immer im 360° Vollkreis...

  • Meine Erfahrungen mit der DB und dem ÖPNV aus dem Land waren derart schlecht, dass ich nie weiter Bus und Bahn nutzen werde. Ich fahre mit dem Auto, basta. Es ist mir egal wenn sich Gretel und die Grünen darüber aufregen. In der Stadt mag das anders sein, da kommt ja alle 10 Minuten was, bei uns 3 mal pro Tag.

  • Früher wäre die Ankündigung von 80% Pünktlichkeit bei der Bahn eine Drohung gewesen. Heute geht sowas als "Versprechen" durch.

    • @Budzylein:

      Früher hieß es auch "Wir fahren bei jedem Wetter", heute machen sie bei normalem Schneefall schon schlapp.

    • @Budzylein:

      Früher hieß es auch „Unternehmen Zukunft „ darauf warte ich auch noch.