Russische Organisation Memorial verboten: Kreml reißt die Geschichte an sich
Seit den 80er-Jahren hat die Organisation „Memorial“ Aufarbeitung sowjetischer Gräueltaten betrieben. Nun wird sie in Russland verboten.
Die Richterin Alla Nasarowa gab dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft statt, die eine Schließung gefordert hatte. Memorial soll die in Russland seit 2020 geltende Kennzeichnungspflicht als „ausländischer Agent“ in einigen Broschüren nicht beachtet haben. Darunter fallen auch Veröffentlichungen, die noch vor der Einführung des ausländischen Agentengesetzes erschienen sind. Die Organisation ist deshalb mehrfach zu Geldstrafen verurteilt worden. Das Gesetz sieht vor, dass Empfänger von Zahlungen aus dem Ausland als „Agenten“ bezeichnet werden können.
Memorial wies die Vorwürfe zurück. Es sei eine „politische Entscheidung“, die jeglicher Rechtsgrundlage entbehre. Ziel sei die „Zerstörung einer Organisation, die sich mit der Geschichte politischer Repression und mit dem Schutz der Menschenrechte befasst“. Vorstandmitglied Jan Ratschinski kündigte an, sich an den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof zu wenden. Der wird die Darstellung Memorials voraussichtlich teilen.
Memorial wurde Ende der 1980er Jahre gegründet, kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Eines der bekanntesten Gründungsmitglieder war der Friedensnobelpreisträger Andrei Sacharow.
Historiker wird zu 15 Jahren Haft verurteilt
Der Vertreter der russischen Generalstaatsanwaltschaft, Alexej Dschafjarow, warf Memorial nun vor Gericht vor, die vor 30 Jahren aufgelöste Sowjetunion (UdSSR) als „Terrorstaat“ darzustellen und Lügen über das Land zu verbreiten. Memorial hatte sich ursprünglich zum Ziel gesetzt, die Repressionsgeschichte der Sowjetunion aufzuarbeiten. Erst später widmete sich die Organisation auch der Verteidigung politischer Gefangener in Russland. Diese Arbeit übernahm das Menschenrechtszentrum Memorials, das auch vor Gericht steht und voraussichtlich noch diese Woche mit einem Urteil rechnen muss. Zu Zeiten von Stalin mussten etliche Menschen in das Straflagersystem des Gulags, wo sie millionenfach zu Tode kamen.
Die sowjetische Terrorgeschichte passt nicht zum Entwurf einer unbefleckten russischen Nationalgeschichte und den Verbrechen an kleineren Völkern der Sowjetunion.
Der Historiker Jurij Dmitriew wurde vor einigen Tagen zu 15 Jahren Haft verurteilt. Dmitriew wird vorgeworfen, seine Pflegetochter sexuell missbraucht zu haben. In mehreren Prozessen wurde der Historiker freigesprochen. Dennoch erhöhte das Gericht die Strafe von 13 auf 15 Jahre, was für den alten Mann einem Urteil auf lebenslängliche Haft gleichkommt. Dmitriew ist Vorsitzender der Memorial-Organisation in Karelien. Dort hatte er in jahrelanger Arbeit in den Wäldern von Sandarmoch Massengräber hingerichteter sowjetischer Häftlinge offengelegt und deren Einzelschicksale der Geschichte zurückgegeben.
Das schwebte Staatsanwalt Dschafjarow vor, als er der Memorial-Darstellung der Sowjetunion als „Terrorstaat“ widersprach. Die Umwidmung der Geschichte ist in Russland seit Langem im Gang. In Sandarmoch hält die offizielle Geschichtsschreibung eine Version aufrecht, wonach es sich bei den Toten nicht um Opfer der Stalinjustiz handelte.
In den Fußstapfen des KGB
Auch im Straflager in Perm am Rande des Urals wurde die Geschichte bereinigt: Das Gedenken an die Gulaginsassen wurde weitestgehend getilgt. Präsident Wladimir Putin rechtfertigte die Gräueltaten der Sowjetunion bislang nicht öffentlich, aber der Diktator Stalin wurde vor allem wegen des Sieges über Nazideutschland gerühmt.
Dennoch stehen Putin und sein Umfeld in den Fußstapfen des früheren Geheimdienstes KGB und seiner Unterorganisationen. Der Geheimdienst hält Russland fest im Griff. Die sogenannten Tschekisten – benannt nach der ersten Geheimdienstorganisation nach der Oktoberrevolution – beherrschen weite Kreise von Wirtschaft und Staatsapparat. Auch Wladimir Putin war einst Chef des FSB, der Nachfolgeorganisation des KGB.
Memorial und Teile der regierungskritischen Öffentlichkeit hoffen, dass das Menschenrechtszentrum in einem zweiten Prozess nicht verboten wird. Viele Memorial-Mitarbeiter sind altazlerdings bereit, die Arbeit ohne rechtlichen Status fortzusetzen, vor allem bei Organisationen in der Provinz.
Memorial stehe für ein offenes, menschenfreundliches und demokratisches Russland, das die Versöhnung innerhalb der eigenen Gesellschaft und mit seinen Nachbarn sucht, schrieb Amnesty International zur Auflösung Memorials. Zwölf deutsche NGOs unterzeichneten die Stellungnahme. „Mit dem Verbot von Memorial – dem moralischen Rückgrat der russischen Zivilgesellschaft – gibt der russische Staat ein erschütterndes Selbstzeugnis ab: Er bekämpft die Auseinandersetzung mit der eigenen Unrechtsgeschichte und möchte individuelle und kollektive Erinnerung monopolisieren“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Unwetterkatastrophe in Spanien
Vorbote auf Schlimmeres
BSW in Thüringen auf Koalitionskurs
Wagenknecht lässt ihre Getreuen auf Wolf los
Orbán und Schröder in Wien
Gäste zum Gruseln
Jaywalking in New York nun legal
Grün heißt gehen, rot auch
Schließung der iranischen Konsulate
Die Bundesregierung fängt endlich an zu verstehen
Steinmeiers Griechenland-Reise
Deutscher Starrsinn