BVerfG zu Menschen mit Behinderung: Ein Urteil, das erleichtert
Nach einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts müssen Menschen mit Behinderungen im Fall einer Triage besonders geschützt werden.
Von einer Triage spricht man, wenn die Möglichkeiten des Gesundheitswesens nicht ausreichen, um alle Patient:innen ausreichend zu versorgen. Dann müssen die Ärzt:innen auswählen, wem sie helfen und wem nicht. Im Fall der Covid-Pandemie geht es vor allem um die begrenzten Kapazitäten der Intensivstationen der Krankenhäuser. Bisher konnte eine Triage in Deutschland verhindert werden, weil Krankenhäuser auf aufschiebbare Operationen verzichteten oder Patient:innen in andere Landesteile ausgeflogen wurden.
Eine Gruppe von neun körperlich oder geistig behinderten Menschen sah die Gefahr, dass sie bei einer Triage benachteiligt werden. Sie erhoben gemeinsam Verfassungsbeschwerde, weil der Bundestag sie bisher nicht ausreichend vor der drohenden Diskriminierung geschützt habe. Zu den neun Kläger:innen gehörte etwa die Juristin Nancy Poser, die an einer Muskelkrankheit leidet, aber auch ein junger Mann mit Down-Syndrom.
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts unter Präsident Stephan Harbarth gab den Kläger:innen nun recht. Der Bundestag müsse „unverzüglich“ tätig werden. Eine konkrete Frist nannten die Richter:innen nicht. Einen Eilantrag der Kläger:innen hatte das Verfassungsgericht im Juli 2020 noch abgelehnt.
Maßstab der Richter:innen ist Artikel 3 des Grundgesetzes, in dem es unter anderem heißt: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Auch die UN-Behindertenrechtskonvention sei zu berücksichtigen. Als behindert gilt laut Gericht, wer „in der Fähigkeit zur individuellen und selbstständigen Lebensführung längerfristig beeinträchtigt ist“. Auch chronische Krankheiten können insofern eine Behinderung sein.
Bisher gibt es keine gesetzliche Regelung, nach welchen Kriterien eine Triage ablaufen soll. In der Praxis würden sich Ärzt:innen an einer Empfehlung der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) orientieren. Diese sieht als maßgebliches Auswahlkriterium die „klinische Erfolgsaussicht“ der Behandlung vor, also die Wahrscheinlichkeit des Überlebens. Dieses Kriterium hält das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich für „zulässig“.
In der Divi-Empfehlung ist zwar ausdrücklich klargestellt, dass „Behinderungen“ bei der Auswahl der zu behandelnden Patient:innen keine Rolle spielen dürfen. Die Verfassungsrichter:innen sehen allerdings die Gefahr, dass Ärzt:innen doch gegen Behinderte entscheiden. Zum einen könnten hier Vorurteile, Stereotype und andere „subjektive Momente“ eine Rolle spielen. Zum anderen könne es auch Missverständnisse geben, weil es an anderer Stelle der Divi-Empfehlungen heißt, dass weitere Krankheiten („Komorbiditäten“) und die „Gebrechlichkeit“ der Patient:innen berücksichtigt werden dürfen.
Zwar habe die Divi in einer Pressemitteilung erklärt, dass es nicht um die langfristige Lebenserwartung geht, sondern um die Frage: „Welcher Patient wird jetzt und hier eher überleben?“ Den Richter:innen genügt das aber nicht. Angesichts der möglichen Missverständnisse müsse der Bundestag selbst tätig werden. Klägerin Nancy Poser ist erleichtert: „Für mich als Juristin war es sehr wichtig gewesen zu wissen, dass man sich auf die Verfassung verlassen kann“, sagte die Richterin am Amtsgericht Trier am Dienstag der Deutschen Presse-Agentur.
Der Gesetzgeber hat nach dem Beschluss nun mehrere Möglichkeiten. So könnte er klarstellen, dass es bei der Auswahl nur um die Wahrscheinlichkeit geht, die konkrete Erkrankung zu überleben, und nicht um die Lebenserwartung insgesamt, die bei Behinderten tendenziell niedriger ist. Zusätzlich oder alternativ dazu könnte der Bundestag vorschreiben, dass immer zwei oder mehr Ärzt:innen eine Triage-Entscheidung treffen müssen und dass die Entscheidung genau zu dokumentieren ist. Auch Vorgaben für die Aus- und Weiterbildung der Mediziner:innen sind möglich. Es gibt also keine Pflicht des Bundestags, die Triage generell zu regeln. Er kann hier also weiter auf Empfehlungen der medizinischen Fachgesellschaften und Einzelfallentscheidungen der Ärzt:innen vertrauen.
Der Vorstand der Deutschen Stiftung für Patientenschutz, Eugen Brysch, begrüßte den Beschluss und forderte den Bundestag zum Handeln auf: „Der Bundestag steht jetzt in der Verantwortung, Kriterien für die Triage festzulegen. Schließlich geht es bei der Entscheidung um Weiterleben oder Sterben“, sagte Brysch dem Redeaktionsnetzwerk Deutschland.
Auch der Vorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, bewertete die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als positiv. Der Gesetzgeber müsse jetzt Leitplanken definieren, nach denen sich medizinische Organisationen mit ihren Leitlinien richten müssten, sagte Montgomery den Zeitungen der Essener Funke Mediengruppe. Die letzte Entscheidung liege aber immer bei den Ärzt:innen, denn Politiker:innen und Richter:innen können ja nicht im akuten Einzelfall auf einer Intensivstation über eine Triage urteilen, betonte der Vorsitzende des Weltärztebundes.
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