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Idealtypen von KörpernHässlich und krank

Unser Autor denkt über Körper nach. Und merkt: Er hat keine Ahnung, wie echte Körper aussehen.

Der menschliche Körper: Wie sieht der eigentlich aus? Foto: Spectra/imago images

E s ging los mit diesen anatomischen Postern im Biounterricht, wissen Sie noch? Nein, vielleicht schon früher, vielleicht schon mit den Puppen. Mit den Figuren, die ich aus Sand formte. Dass ich ein Bild davon bekam, wie ein Körper aussieht.

Und nun, jetzt, am Ende der Woche mit dem Intersex-Awareness-Tag und dem Berliner Pornfilmfestival, stelle ich fest, dass ich keine Ahnung habe, wie so was eigentlich aussieht: ein Körper.

Die Körper, die ich kennenlernte, durch die medizinischen Zeichnungen, durch meine Spielsachen, durch die Menschen in meinem Leben, die man „schön“ nannte oder „gesund“, waren binär. Sie waren männlich oder weiblich. Und je nachdem, ob die männlich oder weiblich waren, hatten sie eine bestimmte Größe, eine bestimmte Masse und Behaarung. Je nachdem ob sie männlich oder weiblich waren, hatten sie eine entsprechende Verteilung von Fett, Muskeln, Knochen. Wenn nicht, wenn hier Muskeln fehlen oder Fett zu viel ist oder Haare, oder Genitalien anders aussehen, dann sind die Körper krank, versehrt – oder hässlich.

Ich spreche nicht über echte Körper, sondern über Idealtypen. An den beiden Idealtypen von Körpern auf den anatomischen Postern im Bioraum messen wir Gesundheit, Geschlecht, Schönheit, Fitness, Sexyness. Wert. An der Abweichung vom Ideal haben wir in der Vergangenheit auch eine fixe Idee namens „Rasse“ gemessen. Wir haben bis vor Kurzem gestattet und empfohlen, Babys zu operieren, um sie diesen Idealen anzugleichen. Und auf vergleichsweise ganz banaler Ebene erfolgen nach ihnen auch die Castings in den Unterhaltungsmedien: Netflix-Figuren, Instagram-Promis und Mainstream-Pornodarsteller*innen.

Das ist keine Verschwörung. Das ist der kollektive Wunsch nach Gesundheit, Schönheit und Glück, der sich immer wieder an den Idealkörpern ausrichtet. An dem ich mich selber ausrichte, mich kleidend, Sport machend und andere begehrend. Und die unerreichbar sind, für die allermeisten Menschen. Und trotzdem geben wir Leuten Shit dafür, wenn sie unserer Meinung nach hier zu haarig sind und dort zu fett. Oder eine zu gewölbte Stirn haben für eine Frau oder uns zu schlecht ins binäre Geschlecht passen. Und beschwören dann objektive Schönheit und Hässlichkeit und Gesundheit vor uns selbst, um nicht zugeben zu müssen, dass wir unseren Blick dabei maximal verengen.

Je nach Definition und Schätzung sind bis zu zwei Prozent der Menschen inter(sex), haben also aus medizinischer Sicht irreguläre Geschlechtsmerkmale. Ebenso je nach Schätzung kommen mehrere Prozent trans und non­binäre Menschen hinzu. Und meiner ganz persönlichen Schätzung zufolge kämpfen 99,9 Prozent der Menschen in irgendeiner Weise damit, dass sie nicht so aussehen wie die Figuren auf dem Anatomie-Poster.

Was schön ist und gesund und zufrieden, sollten wir nicht von Schablonen lernen. Sondern von den Körpern, die abweichen.

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Peter Weissenburger
Freier Autor
Schreibt über Kultur, Gesellschaft, queeres Leben, Wissenschaft.
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3 Kommentare

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  • Was soll uns dieser Text sagen? Dass die gesellschaftlichen Vorstellungen sich wandeln? Das ist ja grundsätzlich nicht falsch.

    Aber warum man sich heute am Poster im Klassenzimmer hochzieht, erschließt sich mir nicht. Was soll das Ziel sein? 20 Poster um jeder Möglichkeit Raum zu bieten? Männer mit Gebärmutter und ohne, Frauen mit Gebärmutter und ohne - und was noch alles?

    Na klasse, dann lerne ich das mit dem Herz-Kreislaufsystem auch nicht besser.

    In meiner Erinnerung - ja, das ist schon was her - waren diese Poster nämlich nicht wirklich "schön", sie waren informativ. Und es ging nicht um die äußere Form, es ging um Organe.

  • Wie so oft ein Bingo. Werde langsam Fan.

  • Ich verstehe leider den Artikel nicht so recht bzw. er hinterlässt einige Fragen bei mir.



    Zum einen: Wissen wir das nicht alle schon längst? Die umfassenden Debatten über Schönheitsideale, über manipulierte Bilder etc.pp. sind ja nun wirklich keine neue Erkenntnis.



    Zum anderen: "Was schön ist und gesund und zufrieden, sollten wir nicht von Schablonen lernen. Sondern von den Körpern, die abweichen." Ok, von mir aus, aber wie sieht das konkret aus? Hier bleibt der Artikel leider eine Antwort schuldig, obwohl das ein spannender Punkt gewesen wäre. Auch habe ich mich hierzu gefragt, ob diese Forderung nicht letztlich innerhalb des kritisierten Schemas verhaftet bleibt, denn sie fragt ja doch wieder nach dem was gesund, gesund und zufrieden ist bzw. macht, nur eben von der Abweichung her. Abgesehen davon bezieht sich die Abweichung, von der hier ausgegangen werden soll, ja immer auf eine Norm oder ein Ideal, sonst wäre sie keine Abweichung.

    Vielmehr sollte/müsste man vielleicht die Diversität bzw. Heterogenität als 'das Normale' ansehen und die besagten Schablonen als Annäherungen anstatt Idealisierungen. Allerdings sind gewisse Annäherungen und Verallgemeinerungen durchaus wichtig, denn sie spielen eine Rolle, wenn man medizinisch z.B. wissen muss, wem gebe ich wieviel von einem bestimmten Mittel, welche Unterschiede macht es körperlich, wo lassen sich hier ggf. (lebens-)wichtige Grenzen zwischen den diversen Geschlechtskörpern ziehen usw.