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Verzögerung bei ProzessFlüchtige KZ-Sekretärin gefasst

Am Donnerstag sollte der Prozess gegen eine 96-Jährige beginnen, die im KZ Stutthof arbeitete. Erst gelang ihr die Flucht, nun wurde sie festgenommen.

Justizbeamter am Landgericht Itzehoe vor dem Prozessbeginn am Donnerstag Foto: Markus Schreiber/ap

Itzehoe taz | Der Prozess gegen eine 96-jährige frühere KZ-Sekretärin im schleswig-holtsteinischen Itzehoe drohte am Donnerstag zu platzen, noch bevor er begonnen hatte. Irmgard F., der Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen vorgeworfen wird, erschien am Donnerstagmorgen nicht vor Gericht.

Der Vorsitzende Richter erklärte am Morgen, die Angeklagte sei flüchtig. Die Kammer habe deshalb einen Haftbefehl erlassen. Am Nachmittag gelang die Festnahme: Eine Gerichtssprecherin bestätigte, dass die 96-Jährige gefasst und zum Landgericht gebracht wurde.

Dort sollte noch am Nachmittag nichtöffentlich entschieden werden, ob sie für den weiteren Prozessverlauf in Haft kommt oder trotz der Flucht eine Haftverschonung erhält. Der Prozess soll am 19. Oktober, dem nächsten Verhandlungstag, fortgesetzt werden, dann auch mit der Anklageverlesung.

Offenbar handelte es sich um eine vorbereitete Flucht. Laut der Gerichtssprecherin verließ die Angeklagte das Pflegeheim in Quickborn, in dem sie wohnt, bereits am frühen Donnerstagmorgen. Ein Taxi habe sie zum U-Bahnhof Norderstedt gebracht. Dort verlor sich ihre Spur. Ihr Anwalt Wolf Molkentin, der pünktlich im zum Gerichtsaal umgebauten Logistikzentrum am Rande von Itzehoe erschien, war von der Entwicklung offensichtlich überrascht.

Zustände wie in einem NS-Vernichtungslager

Schon zuvor hatte die Angeklagte in einem handgeschriebenen Brief an das Gericht mitgeteilt, dass sie nicht vor Gericht erscheinen werde. Als Grund nannte sie ihr Alter und ihren gesundheitlichen Zustand. Laut einem Gutachten ist Irmgard F. jedoch verhandlungsfähig. Der Brief und ihre Flucht weisen darauf hin, dass sie offensichtlich geistig fit und mobil ist.

Irmgard F. befand sich bisher nicht in Untersuchungshaft. Dies war auch in den anderen NS-Prozessen der letzten Jahre nicht der Fall, weil die Justiz davon ausging, dass keine Fluchtgefahr bestand. Nur John Demjanjuk, angeklagt wegen Beihilfe zum Mord im Vernichtungslager Sobibor, musste 2011 in eine Gefängniszelle einrücken, weil der aus den USA abgeschobene Ukrainer keinen festen Wohnsitz in Deutschland besaß.

Christoph Heubner vom Internationalen ­Auschwitz-Komitee warf dem Gericht vor der Festnahme von Irmgard F. vor, versagt zu haben. „Das Gericht muss sich die Frage gefallen lassen, warum es nicht darauf vorbereitet war, dass so etwas passiert. Dazu hätte es nicht kommen dürfen“, sagte er in Itzehoe der taz. Die Angeklagte habe mit ihrer Flucht eine „zynische Verachtung“ gegenüber dem Rechtsstaat demonstriert. Heubner stellte die Frage, ob Irmgard F. bei ihrer Flucht womöglich Hilfe von Rechtsradikalen erhalten habe.

Der Angeklagten wird vorgeworfen, im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig als Sekretärin des KZ-Kommandanten dazu beigetragen zu haben, dass während ihrer Zeit als Angestellte zwischen 1943 und 1945 mehr als 11.000 Menschen ermordet wurden. In dem Konzentrationslager herrschten nach Angaben von Historikern vor Kriegsende 1944/45 ähnliche Zustände wie in einem NS-Vernichtungslager. Etwa 65.000 Häftlinge kamen dort ums Leben, unter anderem infolge der furchtbaren lebensfeindlichen Umstände wie unzureichender Lebensmittel und fehlender medizinischer Versorgung. In Stutthof wurden aber auch Menschen in Gaskammern ermordet und durch eine Schussanlage getötet.

Irmgard F.s Tätigkeit in Stutthof war der bundesdeutschen Justiz schon seit den 1950er Jahren bekannt. Sie wurde aber nur als Zeugin in anderen Verfahren vernommen und zu keinem Zeitpunkt angeklagt. Sie selbst hat ihre Anwesenheit in Stutthof bestätigt und in einer Vernehmung erklärt, dass die gesamte Post des KZ-Kommandanten über ihren Schreibtisch gegangen sei. Von den Massenmorden im KZ will sie nichts gewusst haben.

Die späten Ermittlungen gegen Irmgard F. erklären sich aus einer seit dem Demjanjuk-Prozess veränderten Rechtsauffassung. Zu einer Anklage wegen Beihilfe zum Mord galt es bis vor gut zehn Jahren als unerlässlich, dass der mutmaßliche Täter eines individuellen Mordes überführt sein müsste. Inzwischen hat der Bundesgerichtshof bestätigt, dass auch allein die Anwesenheit in einem KZ, in dem Menschen planmäßig ermordet worden sind, für einen Anklage ausreichen kann.

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14 Kommentare

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  • Mir stellt sich die Frage wohin die geplante Flucht gehen sollte, Vatikanstaat, Südamerika, Syrien? Hoffentlich hat sie keinen Zugang zu einer Zyankalikapsel.

  • Die Frau ist 96. Also war sie zu Kriegsende ungefähr 20 Jahre alt. Vollständig in der Zeit des NS sozialisiert. Diese damalige Sekretärin aus dem Altersheim zu holen, während Befehlsgeber und Entscheider in den Jahrzehnten nach dem Krieg und bis zu ihrem Tod unbehelligt blieben? Für mich hat das einen äußerst faden Beigeschmack.

    Ihr Brief und ihre "Flucht" belegen zwar Uneinsichtigkeit und fehlende Reue, sie hätte immerhin Gelegenheit gehabt, sich zu entschuldigen. Aber das Ganze erinnert doch sehr, wenn auch nichtöffentlich, an einen Schauprozess.

    Macht lieber den Aufstachlern und Hetzern von heute den Prozess! Nicht den Mitläufern von gestern.

  • Was der Vertreter des Internationaln Ausschwitz-Komitees von sich gibt, ist aber auch etwas billig.

    Wenn das Gericht sich vorbereitet hätte, dass die Frau türmt, hätte sie keine Haftverschonung kriegen dürfen.

    Zynische Verachtung gegenüber dem Rechtsstaat, weil man zu türmen versucht?



    Könnte man auch genau anders herum interpretieren.



    Hätte sie den Rechtsstaat nicht ernstgenommen, wäre sie entspannt in ihrem Sessel sitzen geblieben, weil ja sowieso nicht passieren würde.

    Ins Blaue hinein zu spekulieren, sollte sich in solchen Fällen eigentlich verbieten.



    Hätte es Anhaltspunkte für eine Fluchthilfe gegeben, hätten sie in den Artikel reingehört.

  • Wär sie 'ne vermeintliche Schlägerin, säße sie hochsicher, mit Helikopterausflug zum Gericht



    #freelina

    • @Ano Nym:

      Ach Du meine Güte. Wäre sie 26 und in einer radikalen Szene gut vernetzt, säße sie genauso in U-Haft. Und: man sollte Ihrer Ansicht nach alle mutmaßlichen Schläger_innen auf freiem Fuß lassen, oder nur die "guten"?

    • @Ano Nym:

      Nur, wenn man Nazis verhaut. Wenn man aber Migranten verhaut und deren Geschäfte delomiert, dann nicht.

  • Wenn die Frau clever ist, zeigt sie dem Gericht, dass sie nicht prozessfähig mehr ist. Gehört zwar ein bisschen Kreativität dazu, sollte aber machbar sein.

  • Das ist doch nun eindeutig:

    Haftgrund - fluchtgefahr.

  • Legal and history experts dealing with the Nazi era have described the court cases as largely symbolic, making up for decades in which the justice system failed to pursue many far more important figures involved in the Nazi regime. Owing to the advanced age of those on trial, none of them is likely to end up in prison. the guardian

  • Dazu fällt mir ein Filmzitat aus Schindlers Liste ein, sinngemäß: Wahre Größe zeigt sich, wenn man auf Strafe verzichten kann. Schuld? Juristisch wahrscheinlich. Aber wie wäre es mit einer Verurteilung bei gleichzeitigem Verzicht auf die Vollstreckung der Strafe?



    Vertretbar?

    • @Bunte Kuh:

      Da die Angeklagte aufgrund ihres Alters zum Zeitpunkt der Tatbegehung wohl nach Jugendstrafrecht abgeurteilt werden wird, wird sie wohl gemeinnützige Arbeit etwa in einem Heim für Schwererziehbare, für Senioren oder Behinderte, vlt. auch im Naturschutz oder in der Landschaftspflege verrichten müssen.

      • @Nikolai Nikitin:

        Die Frau ist über 90 Jahre alt. Die sollte gar nichts mehr machen in dem Alter!

        • @Pilatus333:

          Was soll dann das Gerichtsverfahren, wenn sie nicht bestraft werden soll ?

    • @Bunte Kuh:

      Wieso?