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Bundestagswahl 2021Wer darf politikverdrossen sein?

Demokratie ist etwas Gutes, nichts Selbstverständliches. Aber bei all der Dankbarkeit dürfen manche auch einfach hoffnungslos sein.

Nicht für jeden: Die Wahl als Party, hier bei den Grünen Foto: Christoph Soeder/dpa

D ieser Tage wurde in Deutschland wieder die Demokratie geliebt. Zu Recht, sie ist gut, nicht selbstverständlich, oft fragil und schutzbedürftig. Perfekt ist sie nicht, überhaupt nicht, aber sie ist ja auch nicht fertig. Es schadet nicht, sich daran zu erinnern.

Manche haben ein Funkeln in den Augen, wenn sie ihr Kreuz auf dem Wahlzettel machen oder Hochrechnungen verfolgen wie Ballsportereignisse. Schön ist das. Leider wird sich oft zugleich aufgeregt über jene, die da nicht mitmachen. Leute, die nicht dankbar sind. Leute, die schweigen. Am schlimmsten sind Leute, die nicht wählen gehen, das geht ja mal gar nicht. Man darf doch nicht politikverdrossen sein! Kommt darauf an, finde ich. Auf das Wer.

Manche dürfen, unbedingt. Sie müssen das alles hier nicht lieben und sich dafür bedanken, nur um die Gemeinschaftssehnsucht der Zuschauenden zu befriedigen. Man darf hoffnungslos und auch politikverdrossen sein, manche müssen sogar, wie könnten sie nicht, angesichts dessen, was sich seit Jahrzehnten in endlosen Reihen zu einem Nichts multipliziert: Sichtbarkeit mal Wahlrecht mal Einwanderung mal Arbeitskraft mal Hetze mal Rente mal null. Es gibt Fenster, durch die kriecht zu jeder Jahreszeit eine Kälte, die kein Thermometer messen kann. Man hat sich dahinter von diesem Land erzählt, bis die Zungen sich weigerten, immer wieder dieselben Laute anzuschlagen:

„In diesem Land wurden nie alle mitgenommen, absichtlich. Es kann das gar nicht, es kann aus seinem Innersten heraus immer nur einige mitnehmen und nur ein paar dürfen bis in den schönen Garten fahren. Manche können kurz an den Blumen riechen und andere werden überfahren, weißt du, es geht nicht ohne die Überfahrenen.“

Richtungswahl, was? Links, rechts, auf der Stelle gehen ist kein Fortschritt, oben, unten, Kreisverkehr. Gut: Die Wirtschaft reagiert vorsichtig optimistisch. Diese demokratische Wahl ist toll, aber sie ist auch sehr ungerecht. Man darf sich darüber ärgern, man darf auch gar nichts fühlen. Wenn man zu jung ist, zu arm, zu behindert, zu Ausländer. Wenn man seine Hoffnung mal über Deutschland ausgegossen hat wie eine volle Gießkanne, aber nur Schilder wuchsen mit der Aufschrift „bepflanzen verboten“. Wenn man aus der Hoffnung Reiskörner formte und sie in Kindermünder schob, weil das der einzige Ort ist, wo niemand die Teilhabe verwehren kann. Wenn man in einem Bundesland lebt, in dem eine faschistische Partei zur stärksten Kraft gewählt wurde. Wenn man oft aufgeschrien hat – Klammer auf: Lichtenhagen, Hoyerswerda, Solingen, Halle, Hanau, die Klammer bleibt offen, sie schließt sich nicht.

Nicht alle müssen dankbar sein und können Hoffnung haben. Ein Land, das Lasten und Belastungen so ungleich verteilt, kann unmöglich von allen den gleichen demokratischen Enthusiasmus fordern. Nicht, bevor es denen genug gibt, die zu Recht verdrossen sind.

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Lin Hierse
taz-Redakteurin
Lin Hierse ist Redakteurin der wochentaz und Schriftstellerin. Nach ihrem Debüt "Wovon wir träumen" (2022) erschien im August ihr zweiter Roman "Das Verschwinden der Welt" im Piper Verlag.
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6 Kommentare

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  • Leute, die (nicht) dankbar sind

    "Leider wird sich oft zugleich aufgeregt über jene, die da nicht mitmachen. Leute, die nicht dankbar sind. Leute, die schweigen. Am schlimmsten sind Leute, die nicht wählen gehen, das geht ja mal gar nicht."

    Länger her, als ich das "Interview-Gespräch" mit der Bundeskanzlerin Angela Merkel auch zu ihrer Laufbahn hörte. Sie (das "Mädchen"...), wurde gefragt, ob sie Helmut Kohl auch dankbar sei, dass er sie bei ihrer pol. Laufbahn unterstützt hatte. Angela Maerkel antwortete mit der "Geschichte" vom alten Inguscheten. Wobei ich nicht mehr erinnere, ob es ein Mann aus Inguschetien war, oder aus einer anderen Teilrepublik der Ehml. SU.

    Die Revolution hatte gewonnen. Die Vertreter der Partei wurden beauftragt, die Menschen zu befragen,



    wie es ihnen nun nach dem Sieg erging.

    "Großväterchen, wie ist es Dir vor der Revolution ergangen.? Der Alte brummte nur und erwiederte dann: "Hunger, Kälte, Einsamkeit"."

    "Und jetzt, Großväterchen, wie ergeht es Dir jetzt nach dem Sieg der Partei und des großen Genossen Lenin. Und all der Aufbauarbeit, die geleistet wurde?"

    Wieder brummte der Alte und antwortete wiederum: "Hunger, Kälte, Einsamkeit".

    Befremdetes, betretenes Schweigen.

    Dann:

    "Aber Großväterchen, was empfindest Du denn für den Genossen Lenin und seinen Sieg?"

    Und wiederum brummte der Alte nur und anwortete schließlich:

    "Dankbarkeit"

  • alle vabessat: ooouuuupsss - jetz versteht ja keiner mehr meinen Kommentar.

    Gruß !

  • Bildungsmisere - Lockdownopfer?



    "Aber bei all der Dankbarkeit, dürfen manche auch..." Ernsthaft?

    So neemlich nich. So: Aber, bei all der Dankbarkeit, dürfen manche auch...



    - oda so: Aber bei all der Dankbarkeit dürfen manche auch...

  • "etwas gutes, nichts selbstverständliches" is so wie Kaffee zum mitnehmen: falsch.

    etwas G utes, nichts S elbstverständliches

    Otto Kraffi grüßt !

  • > Wenn man in einem Bundesland lebt, in dem eine faschistische Partei zur stärksten Kraft gewählt wurde.



    Sie haben ja recht. Aber ganz so schlimm war es in Thüringen in den letzten beiden Jahren auch wieder nicht, oder?

  • ?

    Verschwendete Lesezeit.