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Die TheseEnde des Ausnahmezustands?

Hannes Koch
Kommentar von Hannes Koch

Es wird Zeit, die Maßnahmen aufzuheben, die die Bürgerrechte einschränken. Die Gesellschaft braucht keine Prohibition mehr.

Zukunftsmusik oder baldige Realität? Ein Club-Modellprojekt in Ravensburg Foto: Felix Kästle/dpa

G erade ist die Coronalage einigermaßen entspannt, doch die Infektionen nehmen wieder zu und viele Leute haben Angst vor einem weiteren harten Herbst. Trotzdem wäre es besser, nicht zu viel über die vierte, fünfte oder sechste Virusvariante zu grübeln, sondern sich auch auf die mögliche Normalisierung des Lebens in den kommenden Monaten vorzubereiten. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht.

Bis August könnten 60 Millionen Bundesbürgerinnen und -bürger doppelt geimpft sein, etwa drei Viertel der Bevölkerung. Damit wäre eine ausreichende Immunität, die neue Infektionen in Grenzen hält, noch nicht erreicht, aber ziemlich nahe. Das Robert-Koch-Institut setzt diese Grenze unter den augenblicklichen Bedingungen bei 85 bis 90 Prozent an, je nach Altersgruppe.

Vielleicht liegt diese Latte etwas zu hoch und wirkt damit zu restriktiv, denn zur Zahl der Geimpften kann man knapp vier Millionen Menschen hinzurechnen, die eine Infektion durchgemacht haben und deshalb immun sind. Die Dunkelziffer der unwissentlich Immunisierten geht vermutlich ebenfalls in die Millionen. Das trägt möglicherweise zu einer gewissen Grundimmunität gegen die neuen ­Covid-19-Viren bei, die sich in der Bevölkerung allmählich aufbaut.

Allerdings kann die augenblicklich grassierende Delta-Variante des Coronavirus mehr Gesunde infizieren als der ursprüngliche Typ. Auch das Auftreten weiterer Varianten ist nicht ausgeschlossen. Eine exponentielle Zunahme der Infektionen im ungeimpften Teil der Bevölkerung könnte also noch möglich bleiben. Hier jedoch helfen die flächendeckenden Schnelltests. Und auch das Maske­tragen in Innenräumen könnte die Bür­ge­r:in­nen wohl noch eine Zeit begleiten.

Maas: Beschränkungen ab September aufheben

Eine positive Nachricht kommt aus Großbritannien: Zwar nehmen dort die Infek­tio­nen wegen der Delta-Variante wieder zu, aber die Zahlen der schweren Verläufe und der Krankenhauseinweisungen steigen bislang nicht stark. Der Grund liegt wahrscheinlich darin, dass jüngere Menschen, die sich jetzt überwiegend infizieren, mit dem Virus besser zurechtkommen. Unterm Strich dürfte deshalb die Gefahr der Überlastung des Gesundheitssystems auch hierzulande abnehmen. Bisher war sie eine wichtige Rechtfertigung für Maßnahmen, die die Freiheit beschränken. Sie könnte bald wegfallen.

Bei aller Vorsicht sollte man deshalb auch an die Normalisierung des Lebens denken und nicht nur an die Gefahrenabwehr. Einige Politiker und Gesundheitsexperten argumentieren inzwischen in diese Richtung. So hielt Kanzleramtschef Helge Braun ­einen weiteren Lockdown, der auch Millionen ­bereits gegen Corona Geimpfter träfe, für unrealistisch.

Außenminister Heiko Maas und der Kassenärztevorstand Andreas Andreas Gassen plädierten dafür, die Beschränkungen ab September aufzuheben. Der Chef der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß, erwartete zwar steigende Infektionszahlen im Herbst, schränkte aber ein: „Eine Gefahr für das Gesundheitssystem ist das nicht.“ Infektionen, schwere Erkrankungen und Todesfälle hätten sich zunehmend voneinander entkoppelt.

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Intensivmediziner Christian Karagiannidis sagte, man solle nicht mehr nur auf die Inzidenz, den Anstieg der Infektionen schauen. Regierungssprecher Steffen Seibert und das Robert Koch-Institut schienen kürzlich ebenfalls einen Richtungswechsel einleiten zu wollen. Möglicherweise wird also die Inzidenz bald nicht mehr der ausschlaggebende Faktor für Einschränkungen sein, sondern einer balancierten Betrachtung Platz machen.

Bars müssen ihre Innenräume wieder öffnen dürfen

Gerade für die jungen Leute könnte es ab Herbst möglich sein, wieder ans Lernen zu denken, an die Zukunft, an Reisen und die persönliche Fortentwicklung. Spaß haben, feiern und Druck ablassen ist wichtig. Die Polizei braucht auch mal eine Pause. Es hat zunehmend weniger Sinn, sie jedes Wochenende zu Großeinsätzen rauszuschicken, um dem Partyvolk das Bier wegzunehmen. Parks sollten nachts nicht mehr geräumt, die Alkoholverbote im öffentlichen Raum aufgehoben werden.

Unsere Gesellschaft braucht keine Prohibition, durch die moralische Reinheitsgebote jenseits von Notsituationen zu längerfristiger Politik werden. Bars und Clubs müssen ihre Innenräume wieder öffnen dürfen, wenn nötig mit begrenzter Personenzahl – die nächtliche Katharsis gehört zum Leben dazu. Schulen und Universitäten sollen zum Normalbetrieb zurückkehren.

Voraussetzung für dieses Plädoyer: Die Lage in den Krankenhäusern bleibt einigermaßen stabil, und es sterben nicht Zehntausende Menschen zusätzlich an Corona. Wenn sich das jedoch nicht abzeichnet, müssen nach und nach alle gesetzlichen und exekutiven Einschränkungen aufgehoben und beseitigt werden, die mit Corona begründet wurden, etwa die Änderungen des In­fek­tions­schutz­ge­set­zes und die sogenannte Notbremse. Bei späterer Notwendigkeit, neuen Pandemien oder anderen Katastrophen, sind die Texte ja nicht verloren, und man kann sie jederzeit wieder hervorholen.

Nun sind anderthalb Jahre Einschränkungen allerdings mehr als genug. Dies ist schon der zweite Coronasommer. Ewig lässt sich die Politik der Vorsicht und Repression nicht fortsetzen. Andere Gesichtspunkte müssen wieder in den Mittelpunkt rücken, zum Beispiel die im Grundgesetz garantierte Selbstbestimmung und Freizügigkeit.

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Hannes Koch
Freier Autor
Geboren 1961, ist selbstständiger Wirtschaftskorrespondent in Berlin. Er schreibt über nationale und internationale Wirtschafts- und Finanzpolitik. 2020 veröffentlichte er zusammen mit KollegInnen das illustrierte Lexikon „101 x Wirtschaft. Alles was wichtig ist“. 2007 erschien sein Buch „Soziale Kapitalisten“, das sich mit der gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen beschäftigt. Bis 2007 arbeitete Hannes Koch unter anderem als Parlamentskorrespondent bei der taz.
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11 Kommentare

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  • Na, da bin ich aber froh, dass Herr Koch seine Erkenntnisse nur in einen Kommentar in der taz schreiben darf und nicht an den politischen Entscheidungen zu den Coronamaßnahmen beteiligt ist...

  • "Unsere Gesellschaft braucht keine Prohibition, durch die moralische Reinheitsgebote jenseits von Notsituationen zu längerfristiger Politik werden."



    Wow! Was ist das? Wenn ich mir anschauen, in wie vielen Sätzen hier "wahrscheinlich", "vielleicht", "voraussichtlich" steht, müsste der Satz dann nicht heißen: "Unsere Gesellschaft braucht wahrscheinlich keine Prohibition, durch die moralische Reinheitsgebote zu längerfristiger Politik werden, weil eventuell keine Notsituation mehr vorliegt?"



    Der Autor betont ja selbst, dass viele seiner Grundannahmen unsicher sind. Und was macht man in so einer Situation? Gundsätzlich werden ...

  • Ja, Herr Koch, Sie qualifizieren sich mit diesem Artikel für ein wohlwollendes Schulterklopfen vom Wirtschaftsvertreter Altmeier bzw. von Vertretern der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft! Deren Credo "Freie Fahrt für Freie Unternehmer und Konsumenten" muss endlich wieder voll und ganz umgesetzt werden können, koste es so viele Menschenleben wie es wolle. Es darf natürich nicht zu brachial wirken! Da hilft Ihr besorgter Blick auf die beim Lernen und Feiern behinderte Jugend (deren Chancen und Perspektiven - Stichwort "Bildungspolitik" fehlende Stellen in Schulen und Kitas - sonst kaum von Interesse sind). Ach ja, und an die überforderte Polizei denken Sie auch und überhaupt an eine "Normalität", in der das dumme Virus die neoliberale Profit-Ordnung nicht mehr behindert. Mal sehen, wer das Rennen macht!

  • @LOWANDORDER

    :-)

    Im mir benachbarten Park durchkämmt die Polizei mit ihren wauwaus regelmässig das Unterholz nach Cannabisprodukten.

    Herr Koch könnte sich ja für deren Legalisierung einsetzen!1!!

    Er könnte damit anfangen, die Petition [1] für ein entsprechendes Emoji zu unterschreiben, wenn er's so mit Prohibitionen hat ;-)

    [1] www.marijuanamommy...on-pot-leaf-emoji/

    • @tomás zerolo:

      Was das Kräulein der Altvorderen angeht - “Knaster“ hieß das im 19.Jhdt.!



      Bin ich - wie hier schon angeführt - gleich mehrfach befangen!



      Als Arznei/Schmerzmittel mal auf den Weg gebracht => OVG => BVerwG ++



      But. Das BfArM - hinhaltender Widerstand!



      & Freigabe too -



      Jedenfalls was regelmäßiger Konsum bei Jugendlichen angeht aufgrund zweier Langzeitstudien Nederlands & Aussis!



      (Der Amtsrichter ausse Streusandbüchse mit 120 Seiten Vorlage Karlsruhe - was‘nt amused!;)) - wa!



      Normal - 🙀😱 -

  • “ Prohibition (lateinisch prohibere ‚verhindern‘) bezeichnet das Verbot bestimmter Drogen. Ziel einer Prohibition ist es – in der Regel –, die Bevölkerung vor negativen Wirkungen der verbotenen Substanzen zu schützen; diese Ziele können religiös, politisch, wirtschaftlich oder aus gesundheitlicher Fürsorge (z. B. Suchtprävention) definiert und motiviert sein. Damit steht eine Prohibition in Konflikt mit Freiheits- und Persönlichkeitsrechten, wie beispielsweise persönlicher Selbstbestimmung, freiem Zugang zu Märkten etc.“



    &



    Ansonsten - anschließe mich @ TOMÁS ZEROLO s.u.

    (btw&ps - freu mich immer - auch bei Besinnungsaufsätzen - wenn/if tazer was mit Kenne schreiben - wa!



    Nischt für unjut, ditte gehört nich dazu •



    de.wikipedia.org/wiki/Prohibition



    & nochens für Insider =>



    Fanny Müller in memoriam läßt Grüßen



    “Männä inne taz!“ - 👺 - 🙀😱 -

    Soweit mal

    Kommentar gekürzt. Bitte bleiben Sie sachlich.

    Danke, die Moderation

    • @Lowandorder:

      Sach mal so:

      Wenn jemand einen festgefügt eingeführten Begriff - neu setzen will -für eine steile These - Geht das voll in Ordnung! But.



      Wenn er das nicht kennlich macht! Ist das ein feiner Assist - um ihn trotz Ernst der Lage - a weng zu verkackeiern •



      Zumal. Zumal er mit dieser Neubegrifflichkeit für “Prohibition“ ein verstaubt-reaktinäres Staats&Verfassungsverständnis an den Tag - vllt unbewusst. May be.



      Denn gerade in der laufenden Pandemie ist staatliches Handeln als Prävention!! angesagt - die - wie auch anders - regelmäßig mit Beschränkungen Verboten einhergeht. GG - die Grenze!



      Das aber kann niemand - wie hier komplett unbedarft gefährlich - Wegjuxen! Newahr. Nö.



      Normal nich.



      & nochens am Rande =>



      Prohibition classico - ist mir - meist zB bei pro vs contra Marihuana - eine Gaudi: “Und was?Rauchen 🚬 grad Sie?“



      & Däh!



      Die Trefferquote ist erstaunlich hoch.



      Deswegen “Weiß ja nicht - was Sie genommen haben.“ Get it? Fein.

      kurz - Nischt for unjut - wa! - 😎 -

  • > Zwar nehmen dort die Infek­tio­nen wegen der Delta-Variante wieder zu, aber die Zahlen der schweren Verläufe und der Krankenhauseinweisungen steigen bislang nicht stark.

    Es scheint einigen selbst heute noch schwerzufallen, die Veränderungen nicht nur absolut sondern auch relativ zu betrachten. 7-Tage-Durchschnitt der Todeszahlen im dreiwöchigen Abstand:

    5.6. 8



    26.6.: 17



    17.7.: 41

    Jeweils eine Verdopplung in weniger als drei Wochen. Da die Todeszahlen den Neuinfektionen mindestens drei Wochen hinterherlaufen, werden wir mit großer Sicherheit in drei bis vier Wochen wieder über 100 Tote pro Tag sehen. Und wenn die Briten die Welle weiter ungebremst laufen lassen, dann kommen -- abhängig davon, wo das Maximum der Neuinfektionen liegen wird -- die Höchstwerte von Januar auch wieder in Sichtweite.

    Also ja, die Impfungen haben den Quotienten Tote/Neuinfektionen massiv gedrückt, aber wenn der Nenner entsprechend größer wird, kommt man auch auf den gleichen Zähler.

    • @Trollator:

      Gemach gemach, Herr Koch schrieb ja auch "10.000-de sterbende Menschen zusätzlich an Corona", und erst dann nicht öffnen. Also noch weit entfernt von Ihren Berechnungen.



      Wie sich die Zeiten ändern!: Vor einem Jahr galt noch Rücksichtnahme weil jedes Menschenleben zählt (A. Merkel) und B. Palmer wurde medienwirksam platt gemacht weil er was schrieb, sinngemäß, von übertriebenen Maßnahmen für Menschen die sowieso so alt oder geschwächt oder krank sind dass sie auch ohne Corona nicht mehr lang zu leben hätten.



      Das Plädoyer vor einem Jahr und Herr Koch wäre irgendwo zwischen AfD-Menschenverachter-Coronaverharmloser usw. eingeordnet worden. Seltsam, diese Entwicklung.

  • Irgendwie erinnert mich der Tenor an das schon gehabte "jetzt waren Virolog*innen und Epidemiolog*innen lang genug dran. Lasst doch wieder die Politiker*innen ran".

    Bitte nicht. Die Sachlage ist wie sie ist. Vorsichtige Lockerungen ja, aber wir wissen mittlerweile wie teuer es kommt, zu spät zu reagieren. Haben wir schon zweimal durchprobiert.

    • @tomás zerolo:

      Ein großes Wort gelassen ausgesprochen!



      Die Politikaster und Propagandisten à la Hans Koch scheinen da eher zu verbreiten:



      WELCOME 4. Welle