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Gewalt gegen FrauenDas Problem ist nicht die Straße

Nadine Conti
Essay von Nadine Conti

Helfen Straßenlaternen gegen die Angst? Lauert die Gefahr wirklich im Dunkeln? Einige Einwürfe zu #reclaimthesestreets.

Demonstration Mitte März in Dublin nach der Ermordung von Sarah Everard Foto: Niall Carson/dpa

A uf den ersten Blick wirkt das, was Sarah Everard passiert ist, wie der Standard-Albtraum. Man sieht es förmlich vor sich, wie eine hundertfach gesehene Filmszene: die schmale Silhouette einer Frau im Schein einer Straßenlaterne, das Geräusch ihrer Absätze auf dem Asphalt, das schwere Atmen des Mannes, der im Dunkeln lauert wie ein Raubtier. Ein Klischee.

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Richtig zynisch müsste man sagen: Für den Sonntagskrimi wäre es noch besser, wenn sie eine fröhliche, blonde Medizinstudentin wäre oder eine Krankenschwester. Die haben nämlich wenigstens einen triftigen, unzweifelhaften Grund, sich nach der Schicht da draußen herumzutreiben, einen selbstlosen, guten Grund, sind garantiert nicht sexy gekleidet oder angetrunken oder sonst so etwas, was ihre Qualität als Opfer mindert.

Ja, auch das gehört zu diesem Themenkomplex: Es gibt eine Hierarchie der Opfer. Sexuell aktive Frauen oder gar eine migrantische Sexarbeiterin? Da wird man als erstes einmal anzweifeln, ob das überhaupt eine „richtige“ Vergewaltigung war. Die haben ihr sexuelles Selbstbestimmungsrecht ja quasi schon vorher aufgegeben.

Auch im Fall Sarah Everard wiesen einige schwarze Ak­ti­vis­t:in­nen darauf hin, dass die öffentliche Empörung viel damit zu tun haben könnte, dass sie weiß war und aus der Mittelschicht stammte, und der Täter Polizist. Eine schwarze Frau hätte Gewalt durch Polizisten nicht so überraschend gefunden, und ob ihr Verschwinden aus einem ärmeren Stadtteil die Nation so sehr in Atem gehalten hätte, ist fraglich.

Die konfektionierte Angstfantasie hat ein paar Haken

Im wirklichen Leben funktioniert das Täter-Opfer-Schema ja oft nicht so klar. Auch deshalb hat diese konfektionierte Angstfantasie ein paar Haken.

Das fängt schon damit an, dass der Täter selten der Fremde aus der Dunkelheit ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass du von demjenigen vergewaltigt wirst, der dich abends durch die dunklen Straßen nach Hause begleitet, ist um ein Vielfaches höher.

Die meisten Vergewaltiger sind ­Bekannte, Freunde, Kollegen, Vorgesetzte, Nachbarn, Liebhaber oder Ehemänner. Gegen die hilft kein Pfefferspray, kein Schnellergehen, kein Dunkle-Ecken-Meiden und auch kein Gender-Mainstreaming in der Stadtplanung. Auch wenn natürlich prinzipiell nichts dagegen spricht, Städte so zu gestalten, dass sie für alle Menschen angenehmer sind.

Was aber schlimmer ist: Wenn es passiert ist, wenn einer dieser Männer in deinem Leben dich vergewaltigt – dann fügt er sich oft einfach nicht ein in diese Fantasie-Erzählung vom Raubtier aus der Dunkelheit. Du kanntest den doch. Warum hast du nichts gemerkt, welches Signal hast du missdeutet oder falsch gesendet? Das sind die Schuldgefühle, mit denen sich Vergewaltigungsopfer herumschlagen müssen. Das ist einer der Gründe, warum viele zögern, Anzeige zu erstatten, warum sich das Umfeld so oft weigert, einem Opfer zu glauben.

Und gleichzeitig ist die Erzählung vom Raubtier in der Dunkelheit ein wirksames Mittel, um die Bewegungsfreiheit von Frauen einzuschränken. Ein braves Mädchen, eine anständige Frau bleibt eben besser zu Hause – oder bewegt sich nur im Rudel oder mit schützender männlicher Begleitung im gefährlichen Draußen. Damit ist dann praktischerweise auch die soziale Kontrolle sichergestellt.

Und wenn sie darauf pfeift und sich einbildet, sie habe ein Recht, sich einfach so frei zu bewegen? Tja, dann hat sie Pech gehabt, wenn doch was passiert, sie ist das Risiko ja eingegangen.

Gewonnen ist der Kampf erst, wenn Frauenkörper nicht länger als Verfügungsmasse angesehen werden

Absurderweise unterschätzen Männer chronisch ihr eigenes Risiko, zum Opfer von Gewalt zu werden. Statistisch betrachtet laufen sie viel eher Gefahr, in eine Schlägerei verwickelt oder zum Opfer eines Raubes zu werden. Aber nahezu jede Umfrage ergibt, dass sie sich nachts auf der Straße viel weniger unsicher fühlen als Frauen. Auch über sexuellen Missbrauch von Jungen wird ganz anders berichtet als bei Mädchen.

Aber anders als Mädchen wachsen Jungs ja auch nicht mit Opfer-, sondern mit Heldenerzählungen auf. Sie wiegen sich in dem Glauben, sie hätten das im Griff und wüssten, wie zu reagieren sei. Kick, Box, Peng. Mit der Erfahrung von Ohnmacht und Ausgeliefertsein umzugehen, lernen sie selten.

Belästigungen am helllichten Tag

Für die meisten Frauen ist die Bedrohung auf der Straße eine andere. Sie endet – statistisch betrachtet – seltener in Vergewaltigung und Mord als die meisten Krimis uns glauben machen wollen, dafür ist diese Bedrohung viel alltäglicher und widerlicher: die permanente Belästigung.

Wie die meisten Frauen habe auch ich eine lange Erfahrungsliste von mehr oder weniger heftigen Vorfällen dieser Art: die Erinnerung an Pfiffe und Sprüche, an Männer, die hinter oder neben mir her liefen, mir den Weg versperrten, unvermittelt zugrapschten, sich vor mir einen runterholten.

Es sind Machtdemonstrationen im öffentlichen Raum und oft auch am helllichten Tag. Ich habe meine Zweifel, dass man dagegen mit Straßenlaternen und Überwachungskameras ankommt, wie es auch in der Folge dieses Londoner Falls mal wieder diskutiert wurde.

Und es tröstet mich nicht wirklich, dass es unterprivilegierte Loser sind, die das nötig haben, weil die privilegierten Gewinner das anderswo und nur geringfügig subtiler austoben – #MeToo lässt grüßen.

Das schmerzhafte Gefühl der Verletzlichkeit kommt aus diesen zwei Quellen: zum einen dem Bewusstsein, in den meisten Fällen an Körperkraft unterlegen zu sein – egal wie fleißig du trainierst –, und zum anderen aus der Erfahrung, Verfügungsmasse zu sein, immer und überall zum Objekt von Blicken, Kommentaren oder unerwünschten Berührungen werden zu können. Das ist der Erfahrungshorizont, den Männer schwer nachvollziehen können.

Lange, zu lange wurden Mädchen darauf trainiert, möglichst wenig Zicken zu machen, kein Aufsehen zu erregen, unangenehme Situationen wegzulächeln. Mädchen sollen gefallen, für Harmonie und Ausgleich sorgen, Verständnis haben – das ist so tief in unserer Sozialisation verankert, dass es schwer herauszubekommen ist, bis heute.

Mühsam antrainierte Abwehrmechanismen

Wie die meisten Frauen habe ich irgendwann gelernt, blitzschnell die Lage abzuchecken – wie viele sind es, wie kräftig, wie schnell, gibt es Zeugen, Fluchtwege, wie laut und wütend kann ich jetzt werden, ohne allzu viel zu riskieren?

Es hat lange gedauert, sich das anzutrainieren und es war mühsam. Jetzt bin ich schon zu alt, um noch ins Beuteschema zu passen, es hat ja seinen Grund, warum so etwas vorzugsweise Mädchen und jungen Frauen passiert – die sind nicht nur attraktiver, sondern auch leichter zu verunsichern, jedenfalls konnten Täter das bisher so sehen.

Aber vielleicht dreht sich ja jetzt endlich etwas und all die Heimweg-Geschichten, die vor allem junge Frauen unter #reclaimthesestreets und #justwalkinghome erzählen, bewirken tatsächlich etwas. Immerhin wächst die Wut und Empörung und es sinkt die Bereitschaft hinzunehmen, dass immer wir Frauen diejenigen sind, die ihr Verhalten anpassen, sich einschränken und auf der Hut sein müssen.

Gute Kerle nützen nichts, wenn sie schweigen

Vielleicht dämmert es ja irgendwann auch denjenigen, die sich jetzt noch hinter der Parole #notallmen verstecken, dass es mehr braucht als nur die Behauptung „Ich mache so was ja nicht“. Gute Kerle nützen uns nichts, so lange sie schweigen.

Und so bitter das aus feministischer Perspektive sein mag: Sozial geächtet ist eine Verhaltensweise noch nicht, wenn eine empörte Frau darauf hinweist. Aber ganz sicher in dem Moment, in dem der Kumpel das Gesicht verzieht und sagt: „Alter, wie bist du denn drauf?“

Möglicherweise muss es schlimmer werden, bevor es besser wird. Die Pandemie hat vieles verschärft, die menschenleeren Straße auf dem Heimweg wie die häusliche Gewalt.

Noch ist der Kampf nicht entschieden

Gleichzeitig erfährt das Thema eine neue Aufmerksamkeit, und die Sammlungen unter diesem oder jenem Hashtag machen eindrücklich klar, wie verbreitet das Problem ist – und wie weit es über ein paar private Anekdoten hinausgeht. Natürlich formiert sich im Internet genauso eine radikale Gegenbewegung aus Männerrechtlern, Pick-up-Artists und Incels – aber bisher scheint diese eher laut als zahlreich zu sein.

So ganz entschieden ist dieser Kampf noch nicht. Gewonnen ist er erst, wenn Frauenkörper nicht länger als Verfügungsmasse angesehen werden – weder im öffentlichen noch im privaten Raum.

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Nadine Conti
Niedersachsen-Korrespondentin der taz in Hannover seit 2020
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