Antislawischer Rassismus in Deutschland: Täter, Opfer, Twitterer
Auch weiße Menschen werden hierzulande Opfer von Rassismus – die aus Osteuropa. Doch gibt es Platz für sie im aktuellen antirassistischen Diskurs?
Antirassistische Proteste und Debatten, unter anderem zur kolonialen Vergangenheit Deutschlands, erleben einen Aufschwung. Das ist gut und wichtig. Aufarbeitung findet statt, wenn auch langsam. Es gibt aber eine entscheidende Leerstelle in diesem antirassistischen Diskurs: die Auseinandersetzung mit antiosteuropäischem und antislawischem Rassismus.
Dass seit 1945 versäumt wurde, die Verbrechen der Nationalsozialisten, und allen voran der Wehrmacht in Osteuropa lückenlos aufzuarbeiten, aber auch eine historische Kontinuität von antislawischem Rassismus aufzuzeigen, zeigt sich in heutigen Rassismusdiskussionen.
Es gibt sie, die lange Tradition von antislawischem und antiosteuropäischem Rassismus in Deutschland. Das sagt Jannis Panagiotidis, Migrationsforscher und Leiter des Recet-Zentrums für Transformationsgeschichte an der Universität Wien. Die aktuelle Debatte zur Frage, ob weiße Menschen Rassismus in Deutschland erleben könnten, hält er für unterkomplex.
Menschen aus Osteuropa erleben Rassismus, nicht weil sie weiß sind, sondern trotzdem. Die Täterperspektive sei dabei entscheidend, sagt Panagiotidis.
Kein schwarz-weiß binäres Schema
Das Problem sei, dass oft so getan werde, als sei Rassismus ein ausschließlich schwarz-weiß binäres Schema, sagt er. Dabei basierte Rassismus besonders in Europa nie ausschließlich auf der Unterscheidung nach Hautfarben. Die sogenannte „Rassentheorie“, wie es sie im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab, hat die Menschheit nicht nur in Weiße und Schwarze unterteilt, sagt Panagiotidis. Sondern in „zivilisierte“ Westeuropäer:innen und „barbarische, rückständige“ Menschen im Osten. Seinen Höhepunkt fand diese Kategorisierung später unter den Nationalsozialisten, die von „slawischen Untermenschen“ sprachen. Auch das antisemitische Bild der „Ostjuden“ hängt historisch damit zusammen.
Seit der Aufklärung ist Osteuropa aus westlicher Sicht ein Ort der Rückständigkeit. Wo zuvor die gedankliche Grenze noch zwischen Nord und Süd verlief, zwischen dem „gebildeten Süden“ und dem „barbarischen Norden“, verschob sich das ab der Aufklärung: Bald blickte „der Westen“, der sich als zivilisiert verstand, auf den „rückständigen Osten“.
Im deutschen Kontext hat dieser ausgeprägte Antislawismus eine besondere „ungute Tradition“, sagt Hans-Christian Petersen. Er lehrt am Institut für Geschichte der Universität Oldenburg, unter anderem mit Schwerpunkt auf die Geschichte Russlands und der Sowjetunion. „Seit dem 18. Jahrhundert findet man in den Quellen immer wieder die Vorstellung von sogenannten ‚deutschen Kulturträgern‘, die das Licht der Kultur in den ‚dunklen Osten‘ bringen würden“, sagt er. Reisebeschreibungen seien das vorrangig, die davon erzählten, „wie unzivilisiert und rückständig alles sei“, dort im Osten. Ein kolonialistischer Blick auf den Osten lasse sich darin durchaus erkennen. Es greift also zu kurz, den deutschen Kolonialismus ausschließlich auf die Jahre zwischen 1884 und dem Ende der Ersten Weltkriegs zu begrenzen.
Diese deutsche Tradition findet ihren Ausdruck in dem Begriff des „deutschen Ostens“. Der wird damals als ein zur freien Verfügung stehender Raum imaginiert, ein „im Grunde kulturell leerer Raum, den man komplett neu aufbauen und mit der eigenen Kultur und Höherwertigkeit füllen könnte“, sagt Petersen. Seinen negativen Höhepunkt findet das später unter den Nationalsozialisten und dem im kollektiven Wissen kaum verankerten „Generalplan Ost“.
Hitlers verbrecherischer Plan
Mit dem Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion träumte Hitler 1941 vom Idealbild des „Ostraums“, der bis zum Ural als deutsches Siedlungs- und Versorgungsgebiet in Besitz genommen werden sollte. Hitlers verbrecherischer Plan war es, fünf Millionen Deutsche im annektierten Polen und im Westen der Sowjetunion anzusiedeln. 31 Millionen Menschen sollten insgesamt deportiert oder ermordet werden. 14 Millionen „Fremdvölkische“ sollten Arbeitssklaven werden. Das Leben der slawischen und jüdischen Bevölkerung auf diesen Gebieten war bedroht durch Hunger, Ausbeutung, Deportation und Tod. Einzig der Verlauf des Krieges hat dem mörderischen Plan ein Ende gesetzt. Antislawischer Rassismus war im deutschen Kontext genozidal, sagt Migrationsforscher Panagiotidis.
Bis in die Nullerjahre hinein tauchten die NS-Verbrechen in Osteuropa im kollektiven deutschen Gedächtnis allerdings nur am Rande auf. Das änderte sich zum Teil mit der zweiten Wehrmachtsausstellung ab dem Jahr 2001, mit dem Beginn der Zwangsarbeiter:innendebatte und der Gründung der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft im Jahr 2000 sowie dem Beginn der Entschädigungszahlungen an ehemalige Zwangsarbeiter:innen aus Osteuropa.
In den vergangenen zwanzig Jahren lief die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen im Osten Europas gesellschaftlich dennoch schleppend. In der Wissenschaft finden sich hingegen umfassende Werke und Untersuchungen dazu. Verwunderlich also, dass es dieses Wissen kaum in den antirassistischen Diskurs geschafft hat.
Angst vor Opferkonkurrenz
Unwissen allein wäre ein Zustand, den man ändern könnte. Leider gesellt sich bei manchen Antirassist:innen auch ein Unwille dazu, Geschichte und Betroffenheit von Osteuropäer:innen anzuerkennen. Als gäbe es eine Angst vor Opferkonkurrenz oder einfach keinen Platz für diese Menschen im antirassistischen Diskurs.
Im vergangenen November regte sich der Journalist Hasnain Kazim auf Twitter darüber auf, wer im Zusammenhang mit der US-Präsidentschaftswahl als USA-Experte eingeladen werde. „Das ist wie mit der Helmut-Kohl-Regierung, wen die alles als ‚Russlanddeutschen‘ sah – da reichte auch der Besitz eines deutschen Schäferhunds vor 200 Jahren“, schrieb er. Sein Tweet löste Kritik aus. Das ignorierte Kazim zunächst, löschte seinen Tweet aber.
Kazim, der selbst immer wieder Opfer von rechten Hassnachrichten und Rassismus wird, trat also verbal gegen Menschen, die Ähnliches erlebten. Überrascht das? Nicht wirklich. Kazim offenbarte nicht nur, dass er unsensibel gegenüber der Geschichte der Russlanddeutschen war, er bediente sich auch einer plumpen Parole, die schon vor über zwanzig Jahren unter Rechten beliebt war.
Nach Tagen der Stille entschuldigte sich Kazim auf Facebook. Wobei er auch da erneut bewies, in seiner Auseinandersetzung mit dem Thema nicht weitergekommen zu sein. Er sprach von Russlanddeutschen als Einwanderern, die wegen ihres „deutschen Bluts“ eingebürgert worden wären, während nichtweiße Migrant:innen, die schon länger in Deutschland lebten, höhere Hürden überwinden mussten, wie beispielsweise Kazims Familie.
Gewalt gegen postsowjetische Migranten
Tatsächlich wurden Russlanddeutsche nie wegen ihres „deutschen Bluts“ eingebürgert. Grundlage war vielmehr die erlebte Vertreibung und Deportation während des Zweiten Weltkriegs. Nachweisen mussten Russlanddeutsche ihre „deutsche Volkszugehörigkeit“, also eine ethnische Zugehörigkeit. Von vielen Deutschen wurden sie aber pauschal als „Russen“ angesehen.
Kaum bekannt sind die postsowjetischen Migrant:innen, die Opfer rassistischer Gewalt wurden. Wahrscheinlich weil man sie schwer kategorisieren konnte. Waren sie nicht zu weiß, um Rassismus zu erleben? Migrationsforscher Panagiotidis schreibt in seinem aktuellen Buch „Postsowjetische Migration in Deutschland“ darüber.
Am 4. Mai 2002 attackierten Jugendliche den Aussiedler Kajrat Batesov und seinen Freund Maxim K. vor einer Disko und beschimpften sie als „Scheißrusse“. Batesov starb am 23. Mai 2002 an seinen Verletzungen. Ein „fremdenfeindliches Tatmotiv“ wollte das Gericht damals nicht erkennen.
In Heidenheim erstach ein Rechtsextremist am 19. Dezember 2003 Viktor Filimonov, Waldemar Ackert und Aleksander Schleicher, alle drei junge Spätaussiedler. In diesem Fall sah das Gericht ebenfalls keinen rassistischen Hintergrund.
Dass sich unter den Tätern rassistischer Gewalt auch postsowjetische Migranten finden, gehöre „zu den Paradoxien der deutschen Mehrheitsgesellschaft“, schreibt Panagiotidis.
Der Russlanddeutsche Alex W. erstach am 1. Juli 2009 die im dritten Monat schwangere Ägypterin Marwa El-Sherbini in einem Dresdner Gericht. Das rassistische Tatmotiv war hier eindeutig.
Was illustriert das?
Wohl dass die Grenzen zwischen Tätern und Opfern nicht immer so eindeutig verlaufen wie manche es gerne hätten. Die Realität ist eben komplexer als bislang noch oft im antirassistischen Diskurs dargestellt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Resolution gegen Antisemitismus
Nicht komplex genug
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Strategien gegen Fake-News
Das Dilemma der freien Rede