Bundesgesundheitsminister Jens Spahn: Der Zuvielversprecher
Offene Läden, Impfungen, Schnelltests: Jens Spahn kündigt viel an. Nicht alles kann er halten. Von einem Konservativen, der beliebt sein möchte.
A n einem Freitagmorgen Anfang Februar sitzt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn vor der blauen Wand der Bundespressekonferenz, die Chefs vom Robert-Koch- und Paul-Ehrlich-Institut in angemessenem Abstand neben sich. Die drei Männer beantworten Fragen zur aktuellen Lage der Coronapandemie, das machen sie in diesen Wochen regelmäßig. Wer Spahn noch aus früheren Zeiten kennt, findet hier einen veränderten Politiker vor, und das nicht nur, weil das etwas längere Haar und die rundere Brille ihn weicher erscheinen lassen als früher.
Spahn redet von Vertrauen, davon, dass er sich nicht an gegenseitigen Schuldzuweisungen beteiligen will und die Gesellschaft zusammenbleiben muss. Er spricht in freundlichem Ton, sucht Augenkontakt zu den JournalistInnen im Saal, lächelt zwischendurch immer wieder. Er macht genau das, was ihm seine Kommunikationsberater seit Langem raten, damit er sympathischer rüberkommt. Denn ein Sympathieträger war Spahn in der Vergangenheit nicht unbedingt.
Als sich die Pressekonferenz dem Ende zuneigt, erhält ein ZDF-Journalist das Wort. Der fragt in Anspielung auf eine frühere Äußerung Spahns, ob die Angehörigen derer, die jetzt noch sterben, weil nicht genug Impfstoff vorhanden ist, den Verantwortlichen wohl verzeihen könnten. Da ist es plötzlich mit Spahns freundlicher Zugewandtheit vorbei. „Wenn Sie so fragen, dann ist das es Ende jeder Debatte“, sagt der Minister. Dann eiert er einen Moment herum, schließlich fängt er sich wieder. Das alles dauert nur Sekunden. Doch für einen Moment ist der alte Jens Spahn wieder da. Der Mann, von dem man nur einen Modus kennt: Attacke. Und von dem es stets hieß: Er habe viel Ehrgeiz und wenig Geduld.
Bloß weg vom Negativimage
Die Pandemie hat aus dem schwulen, katholischen Konservativen mit Negativimage einen beliebten Politiker gemacht, Ende Dezember war er nach einer Umfrage sogar der beliebteste Deutschlands. Einen Prozentpunkt lag Spahn damals vor der Kanzlerin. Über die Hälfte der Befragten erhofften sich künftig eine „möglichst große Wirkung“ des Christdemokraten. Seit dem verkorksten Impfstart allerdings sinken seine Werte. Dass die kostenlosen Coronaschnelltests nun verschoben werden, könnte diesen Trend verstärken.
Eine möglichst große Wirkung – die könnte Spahn wohl als Kanzler erzielen. Im politischen Berlin zweifelt seit vielen Jahren niemand daran, dass Spahn diesen Job haben will. Als oberster Pandemie-Bekämpfer könnte er sich endgültig für Höheres qualifizieren. Auch deshalb will Spahn erfolgreich sein. Zumindest aber darf nichts an ihm hängen bleiben, wenn Fehler gemacht werden.
Das hat lange geklappt. Egal ob beim Online-Bürgertalk des Ministeriums, als Interviewpartner in den Hauptnachrichten oder beim regelmäßigen Auftritt in der Bundespressekonferenz – Spahn, der im Oktober selbst mit dem Coronavirus infiziert war, glänzt mit großer Detailkenntnis und präsentiert sich als oberster Problemlöser. Das lässt leicht vergessen, wie viel seit Beginn der Krise in seinem Haus schiefgegangen ist.
Viele Ankündigungen, wenige Ergebnisse
Die Verschiebung der kostenlosen Schnelltests ist dabei nur ein weiteres Beispiel für nicht erfüllte Ankündigungen. Auch bei den klassischen Coronatests im Labor läuft es nicht nach Plan. „Testen, testen, testen“, hatte Spahn im April als Motto ausgegeben, um die Krise unter Kontrolle zu halten. Das hat zunächst geklappt: Über den Sommer wurde die Zahl der wöchentlichen PCR-Tests etwa verdreifacht. Trotzdem waren die Labore überlastet, als im Herbst die zweite Welle anrollte. Statt die Kapazität erneut zu erhöhen, wie es andere Länder taten, verschärfte der deutsche Gesundheitsminister die Kriterien für den Test – mit dem Ergebnis, dass die Zahl um ein Drittel einbrach und sich bis heute nicht erholt hat.
Oder die Masken: Die hatte Spahn zu Beginn der Pandemie als unsinnig bezeichnet. „Der klassische OP-Mundschutz, den viele tragen, schützt sehr überschaubar, um es so zu formulieren“, sagte er im März. Das mag durchaus verzeihlich sein – in dieser Frage hatte schließlich auch die Wissenschaft zunächst widersprüchliche Signale gesendet. Doch als der Nutzen erst einmal erwiesen war, gingen die Probleme erst richtig los.
Eine Großausschreibung, bei der das Gesundheitsministerium im März 4,50 Euro für eine FFP2-Maske bot, die zuvor meist einen Euro gekostet hatte, war völlig überzeichnet; viele Händler kämpften anschließend vor Gerichten um ihr Geld, das der Bund mit Verweis auf Qualitätsmängel nicht bezahlen wollte. In vielen Pflegeheimen und Krankenhäusern blieben die Masken trotz der Massenbestellung Mangelware. Auch die jüngste Aktion, bei der Senior*innen Gutscheine für verbilligte FFP2-Masken erhalten, nützt den Apotheken mehr als den Betroffenen: Für die Masken, die im Einzelhandel längst wieder für einen Euro erhältlich sind, bekommen sie sprichwörtliche Apothekerpreise von zunächst 6 Euro und mittlerweile 3,30 Euro brutto.
„Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen“, so sprach Spahn im vergangenen Frühjahr im Bundestag. Das klang nachdenklich und hat ihm Sympathien eingebracht – Spahn hat damit aber auch Kritik an der eigenen Arbeit vorgebaut. Dies lässt sich immer wieder beobachten. „Wir machen das ja auch alle zum ersten Mal“, sagt er am vergangenen Samstag beim Online-Talk seines Ministeriums als Antwort auf eine Bürger*innenfrage. Und auch: „Wir sind alle Lernende in diesem Prozess.“ Damit gesteht er Fehler ein, verteilt aber gleichzeitig die Verantwortung.
„Noch schöner wäre es, wenn wir uns in die Augen schauen könnten“, sagte Spahn dann an die virtuellen Zuhörer*innen gerichtet. Im wie immer gut geschnittenen Anzug sitzt er mit übergeschlagenen Beinen in einem Sessel zwischen Grünpflanzen und beantwortet ohne Notizen fast jede Frage mit verständlichen Sätzen und in freundlichem Ton.
Dem Gesundheitsminister kommt zugute, dass die Krise sich so dynamisch entwickelt, dass angesichts der jeweils aktuellen Herausforderungen der Misserfolg bei der Bewältigung der vorherigen schnell in den Hintergrund tritt. Und dass es für ihn nichts Neues ist, sich mit scheinbar übermächtigen Gegnern anzulegen. Im Gegenteil.
Ein Mann will nach oben
Mit 22 nahm Spahn einem altgedienten Parteifreund im Münsterland seinen Wahlkreis ab und zog als bis dahin jüngster Abgeordneter in den Bundestag ein. Mit 34 setzte er sich in einer Kampfabstimmung gegen den damaligen Gesundheitsminister Hermann Gröhe durch und eroberte gegen den Willen der Parteispitze einen Platz im CDU-Präsidium. Auf dem Parteitag 2016 kämpfte er erfolgreich einen Beschluss gegen die doppelte Staatsbürgerschaft durch – den Kanzlerin Angela Merkel unbedingt verhindern wollte.
In der Flüchtlingsfrage positioniert sich der Münsterländer in seiner Partei als Gegenpol zur Kanzlerin. „Wir schaffen das“, sagt sie, während er von „Staatsversagen“ spricht. Spahn äußert sich skeptisch über Zuwanderung, fordert die Ausweisung von Hasspredigern, will Burkas verbieten und ein Islamgesetz einführen. Das steigert Bekanntheit und bei manchen seine Popularität.
Im April 2017 gibt Spahn der taz ein Interview. Darin redet er über Clans und rechtsfreie Räume, über Mädchen, die nicht zum Schwimmunterricht dürften, und eine kulturell verankerte Machokultur, die nicht zu „unseren Werten“ passe. Er sagt: „Wir reden zu wenig über Probleme“, obwohl er und viele andere dauernd darüber sprechen. Spahn sei hochintelligent, aber demagogisch veranlagt: Zu dieser Einschätzung sei man damals im Kanzleramt gekommen, so hat es Spahns Biograf Michael Bröcker aufgeschrieben.
Auch dass sich Spahn mit denen trifft, die sich mit Populismus gut auskennen, wird im Kanzleramt nicht gut angekommen sein: in Washington mit Trumps Stabschef, seinem Schwiegersohn und Steve Bannon. Spahn postet Selfies mit dem damaligen US-Botschafter Richard Grenell. Als Sebastian Kurz in Österreich die Wahlen gewinnt, reist Spahn zur Party nach Wien. Kurz, der die österreichischen Konservativen umgekrempelt hat, ist ein Vorbild für Spahn.
Während Spahn sich in der Flüchtlingsfrage mit möglichst klaren Ansagen profilierte, legt er sich heute in der Coronakrise lieber nicht fest. Hält er die Schulöffnungen für vertretbar? „Die Frage ist ja, wie, unter welchen Bedingungen und mit welchen Konzepten“, weicht er vergangene Woche aus, als die taz das von ihm wissen will. Und überhaupt: „Ich meine, am Ende verantworten es die, die es entscheiden“ – also die Bundesländer.
Bloß nicht festlegen lassen
Auch einen konkreten Inzidenzwert, der erreicht sein muss, bevor Öffnungen möglich sind, nennt Spahn ausdrücklich nicht. Ist 50 die richtige Zahl? Oder doch eher die 35, die Bund und Länder beim jüngsten Gipfel genannt haben? Oder ein Wert von 10, den viele Wissenschaftler*innen fordern? Darauf antwortet Spahn, „dass man immer den Gesamtkontext sehen muss und nicht nur eine Zahl“.
Das mag auch daran liegen, dass er zuvor erlebt hatte, was für Folgen zu klare Aussagen haben können. „Man würde mit dem Wissen heute, das kann ich Ihnen sagen, keine Friseure mehr schließen und keinen Einzelhandel mehr schließen“, hat er im September verkündet. Und sich festgelegt: „Das wird nicht noch mal passieren.“ Die Zusage hielt keine drei Monate.
Im aktuellen Streit um das Tempo weiterer Öffnungen hält sich der zuständige Spahn nun vornehm zurück. Wenn der Druck zu groß wird, geht nicht etwa der Gesundheitsminister in die Talkshows, sondern Kanzleramtsminister Helge Braun oder Wirtschaftsminister Peter Altmaier. Der sollte zwar eigentlich die Interessen der Wirtschaft vertreten, sieht sich aber als Vertrauter von Kanzlerin Angela Merkel in der Pflicht, deren stärker von Vorsicht geprägten Kurs zu vertreten.
Spahns Verhältnis zu Angela Merkel gilt als zwiespältig. Zwar versichern beide, dass sie in der Krise gut zusammenarbeiten, aber in der Vergangenheit sah das schon anders aus. Schon 2013 will Spahn Minister werden, doch er geht leer aus. Nach der letzten Wahl kommt die Kanzlerin nicht mehr an ihm vorbei. Spahn besetzt das Gesundheitsressort – und will sich damit für Höheres qualifizieren. Doch er weiß: Mit Bekanntheit allein gewinnt man keine Wahlen. Im Frühjahr 2018, so schreibt es sein Biograf, sagt Spahn über sich selbst: „Bekannt bin ich jetzt, beliebt muss ich noch werden.“
Nicht an jedem Fehler ist Jens Spahn auch schuld
Dann kommt die Pandemie. Anfangs sieht es so aus, als würde Deutschland dank den Macherqualitäten seines Gesundheitsministers die Krise gut meistern. Zu kippen droht die Stimmung mit dem schleppenden Beginn der Impfungen.
In die hat Spahn von Anfang an große Hoffnung gesetzt. „Diese Impfkampagne ist ein Mammutprojekt“, sagt er im Dezember, als er zusammen mit Armin Laschet das neue, in einem Fußballstadion untergebrachte Impfzentrum in Düsseldorf besucht. Den Mitarbeiter*innen erläutern die Politiker die geplanten Abläufe. Innerhalb weniger Monate müssten mehrere zehn Millionen Menschen geimpft werden, sagt Spahn. „Das bedarf genauer Planung und guter Organisation.“ Und fügt optimistisch hinzu: „Das Beispiel Nordrhein-Westfalen zeigt, wie das gehen kann.“
Viele Menschen erleben allerdings das Gegenteil von genauer Planung und guter Organisation. Besetzte Hotlines, überlastete Internetportale, Wartelisten und fehlende Informationen überdecken vielerorts den Erfolg, dass überhaupt gleich drei Impfstoffe vorhanden sind. Für dieses Impfchaos trägt Spahn keine Schuld, denn die Organisation ist Ländersache. Aber es bleibt etwas hängen.
An der zögerlichen Beschaffung der Impfstoffe trifft Spahn allenfalls eine Teilschuld: Hier war er zunächst mit weiteren Minister-Kollegen vorgeprescht. Später übernahm die EU-Kommission die Verhandlungen, was die Sache nicht gerade beschleunigte. Doch komplett unbeteiligt war Spahn nicht: Im kleinen EU-Verhandlungsteam saß die ganze Zeit ein Abteilungsleiter seines Ministeriums.
Wie stark die Probleme beim Impfen am Ende auf Spahn zurückfallen werden, dürfte davon abhängen, wie es in den nächsten Monaten weitergeht. Denn auch da hat der Minister ein klares Versprechen gegeben: Noch im Sommer soll jeder Impfwillige hierzulande mindestens die erste Dosis erhalten haben. Diese Frist endet wenige Tage vor der Bundestagswahl. Wenn die Zusage nicht eingehalten wird, könnte sich das auf das Wahlergebnis auswirken – und damit auch auf seine künftige Rolle in der Partei.
Jens Spahn hat Zeit
Dort ist er zuletzt zum Parteivize aufgestiegen, auch wenn er sich ursprünglich mehr erhofft hatte. Als Merkel 2018 ankündigt, nicht mehr als CDU-Chefin anzutreten, wittert Spahn seine Chance. Er wirft seinen Hut in den Ring. Doch dann taucht Friederich Merz aus der Versenkung auf und macht ihm die Rolle als Hoffnungsträger der Parteirechten streitig. Dass Spahn im ersten Wahlgang ausscheidet, schadet ihm nicht. Er ist noch jung, er hat Zeit.
Als die damalige Siegerin Annegret Kramp-Karrenbauer nach nur gut einem Jahr hinschmeißt, entscheidet sich Spahn gegen eine erneute Kandidatur – möglicherweise erscheint ihm die Gefahr einer zweiten Niederlage zu groß. Dass er stattdessen im Team mit Armin Laschet als dessen Stellvertreter antritt, hat ihm in der CDU Respekt eingebracht. Endlich, so scheint es, stellt das Politiktalent seinen persönlichen Ehrgeiz hintan.
Doch dann lässt sich Spahn beim Gegenteil erwischen. Unter hochrangigen Parteifreunden soll er seine Chancen als Kanzlerkandidat eruiert haben. So haben es Spiegel und Bild gleichermaßen gemeldet, Spahn dementiert. Auch soll erwogen worden sein, schreiben die Blätter, ob man Laschet wegen seiner schlechten Umfragewerte nicht zum Rollentausch bewegen könne. Spahn würde dann als CDU-Chef, Laschet als Vize antreten. Doch Laschet hält an seiner Kandidatur fest.
Auf dem fast vollständig digitalen CDU-Parteitag haben sich Mitte Januar die drei Kandidaten – nun Laschet, Merz und Norbert Röttgen – vorgestellt, als eine kurze Aussprache auf der Tagesordnung steht. Dafür werden einige CDU-Delegierte eingeblendet, die zu Hause an ihren Computern sitzen. Plötzlich erscheint Jens Spahn auf dem Bildschirm. Er sagt gleich zu Beginn, er wolle „weniger eine Frage stellen als eine beantworten“ und spult dann einen Werbeblock für Laschet ab – und gleich auch für sich selbst. Viermal spricht er von „Armin und ich“. Viele Delegierte sind von Spahns PR-Stunt irritiert, manche empört. Da ist er wieder, der selbstbezogene und extrem ehrgeizige Münsterländer.
Doch der Coup geht nach hinten los: Später, als Laschet zum Parteichef gewählt und die Vizechefposten vergeben werden, erzielt Spahn das schlechteste Ergebnis aller Stellvertreter*innen. Dass sein Image als erfolgreicher Coronakrisenmanager zu diesem Zeitpunkt schon deutliche Risse bekommen hat, könnte dabei auch eine Rolle gespielt haben. Die Kandidatur für die Merkelnachfolge im Kanzleramt dürfte sich, sollte Spahn sie ernsthaft erwogen haben, spätestens mit diesem Parteitag erledigt haben.
Spahn bleibt unter den Christdemokrat*innen seiner Generation ein politisches Ausnahmetalent, das sehen auch jene so, die ihn kritisch beäugen. Inzwischen hat er sich so weit vorgekämpft, dass ihn alle mit einplanen. Daran dürften auch zahlreiche Fehler während der Pandemie nichts ändern – sollte die Krise am Ende noch halbwegs gut ausgehen. Dann wird Spahn wohl weiter aufsteigen, egal, ob der nächste Kanzler nun Armin Laschet oder Markus Söder heißt. Zum Finanzminister vielleicht oder zum Fraktionschef, Gerüchte hört man viele in Berlin. Auf das Kanzleramt kann Spahn noch warten. Er könnte 2025 nach der Macht greifen oder auch vier Jahre später. Dann ist er erst 48 Jahre alt. Spahn hat Zeit. Ob er die Geduld hat, muss sich noch zeigen.
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