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Grundsicherung in der CoronakriseSPD-Linke wollen 600 Euro Regelsatz

Die SPD tut sich noch immer schwer mit Hartz IV. Nach einem breiten Aufruf von Verbänden wächst in der Partei der Druck sich zu bewegen.

Die SPD-Parteivorsitzenden Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken in der Parteizentrale der SPD Foto: Stefan Boness/Ipon

Berlin taz | Es brauchte fast ein ganzes Jahr Pandemie, wiederholte Appelle und zuletzt einen gemeinsamen Aufruf von insgesamt 36 Verbänden und Gewerkschaften. Erst dann stellten sich die SPD-Granden hinter einen Coronazuschlag für arme Menschen, die Hartz IV beziehen.

„Angesichts der offenkundigen Not von Erwachsenen und Kindern in Grundsicherung erwarten wir von unserem Koalitionspartner im Bund, dass er da mitgeht“, sagte die Parteivorsitzende Saskia Esken am Montag dem Tagesspiegel. Sie will das Thema nun am Mittwoch beim Koalitionsausschuss auf den Tisch bringen.

Doch wer sich nur auf die 100 Euro Sofortzuschlag konzentriert, lässt den wichtigsten Punkt des Aufrufs der 36 Verbände und Gewerkschaften unter den Tisch fallen. Sie plädieren an allererster Stelle dafür, dass Hartz IV auf mindestens 600 Euro steigen muss – und zwar dauerhaft.

Es ist ein bemerkenswert breites Bündnis. Darunter – und das dürfte auch bei der SPD aufgefallen sein – sind die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und der SPD-nahe Wohlfahrtsverband AWO. Für die SPD wächst damit der Druck, sich in der Frage zu bewegen.

Kühnert signalisiert Entgegenkommen

Bisher war die Partei bei dem Thema sehr ruhig. Zwar will die Partei Hartz IV gerne hinter sich lassen. Doch das „Bürgergeld“, für das sich die SPD seit dem Parteitag 2019 ausspricht, würde dem heutigen Hartz IV beim regulären Regelsatz für Erwachsene fast aufs Haar gleichen. Nicht einmal wolkige Formulierungen, etwa, dass man die Sätze neuberechnen müsse, finden sich im Beschlusspapier. Linke und Grüne sind mit ihren Forderungen weiter.

Das Thema Sanktionen soll am Mittwoch im Koalitionsausschuss noch einmal auf den Tisch. Denn auch zwei Jahre nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, dass Kürzungen um mehr als 30 Prozent verfassungswidrig sind, wird dieses Urteil nur über Weisungen des Arbeitsministeriums und der Bundesagentur umgesetzt. Eine Gesetzesänderung fehlt.

Im gleichen Zuge will Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) die in der Pandemie eingeführten Erleichterungen für die Mietkosten und Vermögen in den ersten zwei Jahren der Grundsicherung festschreiben. Doch gerade gegen diese Punkte wehrt sich die Union vehement.

Der stellvertretende Parteivorsitzende und Ex-Jusochef Kevin Kühnert signalisierte am Wochenende, er sei beim Thema höhere Regelsätze offen. Er sagte bei einer digitalen Podiumsdiskussion: „Das, was derzeit an Regelsätzen gezahlt wird, ist zu wenig – um das zu sehen muss man nicht einmal links sein.“ Auf die 600 Euro wollte Kühnert sich nicht festlegen: „Die 600 Euro sind vielleicht medial wirksam, aber es geht ja im Endeffekt darum, nicht eine griffige Zahl, sondern einen richtigen Rechenweg zu haben.“

Die SPD-Linke ist erbost über parteiinterne Kritik

Kühnert machte Hoffnung, dass sich perspektivisch etwas ändern könnte: „Ich bin mir sicher, dass bei der Programmdebatte eine andere Berechnungsmethode rauskommen wird – und zwar eine, die am Ende zu einem höheren Satz führen muss.“

Die linke SPD-Plattform DL21 geht einen Schritt weiter. Sie hat sich am Freitag auf einer Vorstandskonferenz dem Appell der Verbände angeschlossen und fordert nun mindestens 600 Euro Regelsatz. Das bestätigte der stellvertretende DL21-Vorsitzende, Lino Leudesdorff, der taz. Es ist das erste Mal, dass sich eine SPD-Parteigliederung zu der konkreten Höhe von mindestens 600 Euro bekennt. Schon zuvor hatte die DL21 höhere Sätze gefordert, jedoch keine konkrete Zahl genannt.

„Die 600 Euro sind ein Betrag, der die echten Posten des Existenzminimums realistisch abbildet. Er lässt sich mit konkreten Berechnungen verschiedener Verbände, wie vom Paritätischen Wohlfahrtsverband, untermauern“, sagte Hilde Mattheis, Vorsitzende der DL21 und Bundestagsabgeordnete.

Allerdings: Trotz erster Signale gibt es in der Partei starken Widerstand gegen eine dauerhafte Erhöhung des Regelsatzes. Die Argumentation der Kritiker brachte der Chef der Bundesagentur für Arbeit, der SPD-Mann Detlef Scheele auf den Punkt: „Es darf nicht die Schlüsselfrage sein, wie man mit höheren Geldleistungen möglichst lange von Grundsicherung leben kann“, sagte er der FAZ. Man solle sich stattdessen darauf konzentrieren, dass der Bezug der Grundsicherung für jeden Betroffenen eine möglichst kurze Episode in seinem Erwerbsleben bleibe.

Das linke Lager in der SPD ärgert diese Haltung. Josef Parzinger, stellvertretender Juso-Bundesvorsitzender, sagte der taz: „Wir müssen endlich wieder zu einem Punkt, wo wir Arbeitslosigkeit als kollektives Problem wahrnehmen und nicht einem einzelnen in die Schuhe schieben – und ihn für Arbeitslosigkeit bestrafen, in dem wir den Regelsatz bewusst niedrig ansetzen.“

Lino Leudesdorff, stellvertretender Vorsitzender der DL 21, pocht auf die 600 Euro: „Wir brauchen höhere Regelsätze und wir brauchen sehr wohl eine konkrete Zahl. Die hatten und haben wir beim Mindestlohn – und die brauchen wir auch beim Regelsatz.“

Die letzte praktische Möglichkeit die Regelsätze deutlich zu erhöhen ließt die SPD im vergangenem Jahr liegen. Bei der Novelle des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes wurden nur die Ausgaben für Handys neu berücksichtigt. Appelle von Wohlfahrtsverbänden nach einer vollständigen Übernahme der Kosten von Strom, oder Sonderzahlungen für langlebige und teure Güter blieben unerfüllt.

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19 Kommentare

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  • Schämt euch einfach. Das ist dreist und unverschämt und zeigt die typische Ichbezogenheit dieser Bevölkerungsgruppe. Keine Leistung zeigen, aber fordern, fordern, fordern - und von der Politik tatsächlich eine Erhöhung um die andere erhalten.



    Und zur Klarstellung - ich meinte jetzt nicht die, die wegen der drei Euro undankbar sind.

    • @StefanMaria:

      Hatte ich vergessen, für ein bischen Jobcenter - Romantik am Abend mit Partner*in frisch von youtube ---)



      Lena Stoehrfaktor & Das Rattenkabinett - Der Letzte Dreck (live @ SO36)

  • Schlüsselfragen. Was muss man da noch Fragen? 1/2

    Ach der Vorstandsvorsitzende, der Detlef Scheele…Kein Wunder, wenn er sich zwecks geistig dezidiert anspruchsvoller Erläuterung einer arbeitsmarktpolitischen Schlüsselfrage gleich an die FAZ wendet. Deren Leserschaft wird ganz bestimmt intellektuell folgen können. Ich nicht. Ist ja auch nur meine bockige „Hartzer-Hängematten-Mentalität“, wenn es mir schon auf die Nerven geht, wenn da einer – in einem Interview! – ganz unhinterfragt festlegen darf, was als Schlüssel-Frage des abzuhandelnden Themas interviewmäßig und gesellschaftlich zu gelten habe und was nicht. Wer spricht da? Einer der laut BA mal Politik-, Sport- und Erziehungswissenschaften mit den Schwerpunkten Regierungslehre und Sportgeschichte studiert hat? Oder der Große Vorsitzende als väterlicher Lenker der BA-Massen? Oder der Aufklärer, der sich an das Bildungsbürgertum, die „geistige Mitte“ wendet, der allein zuzutrauen ist, die Geschicke des Sozialstaates zu begreifen und zu beurteilen, welche der Vorsitzende mit zu lenken befugt ist? Nö. Mit Verlaub, das ist nur die altbekannte Agenda-Leier von „Ich-der-Hartz 4-Versteher“, gern auch abgegeben im medial gehobenen Ambiente, die stinklangweilig wäre, wenn nicht so gefährlich.

    • @Moon:

      Schlüsselfragen. Was muss man da noch Fragen? 2/2

      Gut das der Artikel hier ihm so tatzig-krallig wie gescheit vor Augen führt/führen könnte, dass der analytisch derart trennende Ansatz ins Falsche hineinläuft, wenn da ein Zielkonflikt aufgemacht wird. Das also „höhere Geldleistung“ an die „Hartzer“ zwar irgendwie sozial wären aber eben prinzipiell dem Ziel im Wege stünden, die Verweildauer der „Hartzer“ in H 4 zu ihrem Wohle vermittels materieller Knappheit so gering wie möglich zu halten.



      Da sitzt einer einem doofen Märchen auf. Gebt dem hungrigen Mann am Strand bloß keinen Fisch zum Essen, denkt sich der Erziehungswissenschaftler Scheele. Lehrt ihm ein Fischerboot zu bauen und ein Netz zu flechten, damit er sich den fangen kann und nimmer mehr Hunger leidet. O.K. Unterrichtet mal einen hungrigen Mann. Er könnte verhungert sein, bevor ihr damit fertig werdet. Weil ihr wie der Bauer denkt, der um Kosten zu sparen seinem Pferden das Fressen abgewöhnen wollte und völlig verdattert war, dass die dummen Tiere immer starben, bevor es soweit war. Oder vorher das Weite suchten. Diese bösen Maßnahmenverweiger aber auch, die bösen. Die sind schuld.

  • 600 x 2 + Miete und dann noch die Vergünstigungen +



    das Geld für die Kids + legaler Zuverdienst + Schwarzarbeit....wer da als gering Qualifizierter noch normal arbeiten geht ist einfach nur blöd.

    • @Wombat:

      So kann nur wer schreiben der noch nie von ALG2 leben musste. Kindergeld ist btw extrem niedrig

  • Das ist gut für Hartz 4 aber was ist mit den Armen Menschen wie bzw.Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung die haben die gleichen Regelsätze und sorgen

  • Kommentar entfernt. Bitte beachten Sie die Netiquette.

    • @Maria Burger:

      "Ja, Geld ist da, nur eben woanders... "

      Bei den Reichen, Noch mehr Geld ist bei den Superreichen da!

  • Es st schon beinahe unredlich von der SPD jetzt im beginnenden Wahlkampf so zu tun als könnten in der aktuellen Situation die Transferleistungen erhöht werden. Bis zur Wahl passiert da nichts mehr und die SPD wird sicher nicht an der nächsten Regierung beteiligt sein. Jeder weiß zudem doch ganz genau was nach der BTW passieren wird. Da wird dann auf einmal ganz unerwartet das riesige coronabedingte Loch im Haushalt gefunden. Wer der SPD heute noch irgendein Wort glaubt dem ist sowieso nicht zu helfen.

  • Ich sach mal so, Geld ist woanders nur für en paar Monate vorhanden und an die kann man die Supermärkte der Aldi-Brüder dann nicht mehr verscherbeln.

  • Ich sach's mal so: Geld ist da - nur eben woanders.

  • Weg damit!

    Hartz IV endlich abschaffen!



    Ist das immer noch so schwer?



    Nicht nur davon reden, sondern machen.



    Hartz IV ist auch nicht reformierbar.

  • 600€ x 2, dann sind wir bei Menschenwürdig. Vorher ist alles nur Weltfremd und gewollte Ausgrenzung aus unserer Gemeinschaft.

    • @Longdongsilva:

      Die 600 Euro sind plus Miete, Heizkosten und Krankenversicherung.

  • Ist mit den herzlosen Christen von der Union sowieso nicht zu machen.



    Und das wissen die Sozen auch.

  • RS
    Ria Sauter

    Warum wird immer die Rente vergessen? Wäre Zeit für die SPD auch das Niveau endlich wieder anzuheben! Es ist so ärmlich und erbärmlich!



    Fasst beide Punkte zusammen ind bringt es endlich durch!

  • 600 Euro pro Haushalt klingen zwar erst mal nach einer Menge Geld, können aber hohe Folgekosten durch Obdachlosigkeit und Insolvenzen verhindern und teurere Subventionen ersetzen. Viele Hartz-IV-Empfänger erhalten heute deutlich mehr als 600 Euro im Monat. Durch kleinere Wohnungen auf dem Land und gemeinsame Unterbringung mehrerer Menschen in einer Wohnung würden sie auch mit deutlich weniger Geld zurecht kommen. Zusätzlich zu den 600 Euro sollte jedoch auch noch die Krankenversicherung bezahlt werden.

    • @VanessaH:

      600 € pro Person! Statt 442!



      Geht! Und ist lt



      Verfassung immer noch nicht genug. Davon sind weder 32 CT



      Strom und 6,5 CT Gas, noch soziale und kulturelle Teilhabe (incl. Mobilität = im Durchschnitt 90 €/mit) keine individuelle Weiterbildung und Qualifizierung und auch keine freie Arbeitsplatzwahl möglich. Vor der Einführung von Hartz 4 lag der Satz bei ca



      770 € (Durchschnitt von ALG 2 und war an die Realeinkommen der Tätigkeit gekoppelt!!!)



      Zur Zeit fallen hochqualifizierte Berufsgruppen mit Führungserfahrung in ALG 1, bei Daimler, Commerzbank, Thyssen, Siemens, u.u.u.u



      Und ohne Aussicht, sich vor dem Absturz in ALG 2 zu retten!



      Dazu kommt noch die Post-Corona-Insolvenzwelle!!!



      Aufwachen!!!