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Gedenken an den Holocaust„Passen Sie auf auf unser Land“

Bei der Gedenkstunde für die Shoah-Opfer im Bundestag halten mehrere Frauen Reden. Mit Marina Weisband ist erstmals eine junge Jüdin dabei.

Marina Weisband spricht am Mittwoch im Bundestag Foto: Fabrizio Bensch/reuters

Berlin taz | Einfach nur Mensch sein, das sei eine schöne Vision, sagt Marina Weisband am Mittwochmorgen im Bundestag. Sie ist als Gastrednerin zur Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus eingeladen, vor 76 Jahren haben Soldaten der Roten Armee das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz befreit. „Aber einfach nur Mensch sein“, fährt Weisband fort, „ist Privileg derer, die nichts zu befürchten haben aufgrund ihrer Geburt“.

Verfolge man dieses Ziel ernsthaft, müsse man Strukturen von Unterdrückung benennen. „Denn jede Unterdrückung lebt davon, dass sie für die Nicht-Betroffenen unsichtbar ist.“ Das gelte für Antisemitismus, aber auch für jede andere Form.

Weisbands Rede ist ein Novum: Mit der 33-jährigen Publizistin, die früher Politikerin bei der Piratenpartei war und heute Mitglied der Grünen ist, spricht erstmals eine junge Jüdin bei der Gedenkstunde im Bundestag, eine Vertreterin der dritten Generation nach der Shoah. Weisband verweist darauf, dass es bald keine Zeitzeugen mehr gebe. Es sei Aufgabe der Nachkommen, das Gedenken weiterzutragen und Lehren für eine Zukunft zu ziehen.

Jüdin in Deutschland zu sein bedeute, die Shoah in sich zu tragen und mit den Traumata der Eltern und Großeltern zu leben. Anders als ihr Vater 1993 gehofft hatte, als die Familie beschloss, aus der Ukraine als Kontingentflüchtlinge nach Deutschland zu gehen, könnten Juden und Jüdinnen in Deutschland nicht „einfach als Menschen“ leben. Sie bekomme Morddrohungen, zum Gebet müsse sie durch Sicherheitskontrollen gehen, sagt Weisband. Sie sei dankbar für diesen Schutz. „Aber es macht was mit uns.“

Knobloch richtet sich direkt an die AfD

„Nur um es ganz klar zu sagen: Wir können den Anfängen nicht wehren, weil es ein stetiger Prozess ist.“ Antisemitismus beginne nicht, wo auf eine Synagoge geschossen werde, er beginne mit Verschwörungserzählungen, mit einer angeblichen jüdischen Opferrolle. „Umso schmerzhafter ist für mich diese Debatte um einen vermeintlichen Schlussstrich – solange wir keinen ziehen können“, sagt Weisband unter Beifall im Bundestag.

Vor ihr hatte bereits die 88-jährige Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch, gesprochen. „Ich stehe vor Ihnen als stolze Deutsche“, so hatte sie ihre Rede begonnen und von ihrer Kindheit im Nationalsozialismus und dem immer stärker werdenden Antisemitismus erzählt. Sie überlebte versteckt auf einem fränkischen Bauernhof. „Ich hatte eine Heimat verloren, ich habe für sie gekämpft, ich habe sie wiedergewonnen und werde sie verteidigen“, sagt Knobloch.

Auch sie warnt vor einem Erstarken des Judenhasses. „Das Phänomen Antisemitismus ist größer als das Offensichtliche“, mahnt Knobloch. „Wer Coronamaßnahmen mit der nationalsozialistischen Judenpolitik vergleicht, verharmlost den antisemitischen Staatsterror und die Shoah.“

Knobloch richtet sich im Bundestag auch ausdrücklich an die AfD. „Ich kann nicht so tun, als kümmerte es mich nicht, dass Sie hier sitzen“, sagt sie. Vielleicht sei der eine oder andere noch bereit zu erkennen, an welche Traditionen angeknüpft werde. Den „Übrigen in Ihrer Bewegung“ sage sie aber: „Sie werden weiter für Ihr Deutschland kämpfen, und wir werden weiter für unser Deutschland kämpfen – und ich sage Ihnen: Sie haben Ihren Kampf vor 76 Jahren verloren.“ An die anderen ZuhörerInnen appellierte Knobloch: „Ich bitte Sie: Passen Sie auf auf unser Land.“

Es sind zwei starke, kämpferische Reden von zwei starken, kämpferischen Frauen, die da an diesem Mittwochmorgen im Bundestag gehalten werden.

Zu Beginn der Gedankstunde hatte auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) davor gewarnt, dass sich Antisemitismus und Rassismus „wieder offen, hemmungslos, auch gewaltbereit“ in Deutschland zeigen würden. Und dazu eine wichtige Frage gestellt: „An Gedenktagen wird stets Verantwortung angemahnt“, so Schäuble. „Aber werden wir ihr auch gerecht?“

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4 Kommentare

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  • Wie steht die AfD zum Tag der Auschwitz Befreiung, der vor kurzem zu einer Gedenkstunde im Bundestag führte? Vor einem Jahr gab es unter der Leitung der Partei-Vorsitzenden Chrupalla und Meuthen nach einer Erklärung dieser beiden auf einer Facebook-Seite eine Diskussion dazu mit Sympathisanten. "Den Holocaust gab's doch gar nicht", "Es reicht", "Ich kann es nicht mehr hören"- in diese Richtung gingen die meisten Diskussionsbeiträge. Sie sind rechtsradikal und geschichtslos.

    Stefan Räpple, damals Landtagsabgeordneter der AfD in Baden-Württemberg, forderte damals einen „Schluss mit dem deutschen Schuldkult“. Ende September letzten Jahres rief er zu einem gewaltsamen Sturz der Regierung in Deutschland auf. Mittlerweile ist er aus der AfD-Fraktion ausgeschlossen worden und auch kein Parteimitglied mehr.

    Zur Gedenkstunde im sächsischen Landtag vor einem Jahr legte sich die AfD-Abgeordnete Gudrun Petzold (damals 68 Jahre) einen toten Fuchs um den Hals. In der Propaganda der NS-Zeit wurden Parallelen zwischen Juden und Füchsen gezogen – den Füchsen wird Listigkeit nachgesagt, den Juden auch. Frau Petzold kommt aus dem Milieu der sudetendeutschen Heimatvertriebenen.

    Distanz zu Rechtsaußen ist in dieser Partei nicht selten unauffindbar.

    Christian Schauer, Alzenau

    • @Christian Schauer:

      “ Distanz zu Rechtsaußen ist in dieser Partei nicht selten unauffindbar.”



      - Diese Partei IST rechtsaußen!

  • Frank Richter, ehemaliger Leiter der Landeszentrale für politische Bildung in Sachsen, vergleicht im MDR Sachsenspiegel "Gedenken an Opfer des Holocaust" Holocaust mit Corona ...

    • @#Sascha:

      Bleiben wir doch bei der Wahrheit: Herr Richter lässt sich über die Stimmung des Musikstücks "Quartett für das Ende der Zeit" von Olivier Messiaen aus, das zum Gedenken an die Opfer des Holocaust im sächsischen Landtag aufgeführt wurde. Er meint eine ähnliche Stimmung in der jetzigen Corona-Krise gefühlt zu haben. Das Musikstück ist nach Aussagen des Komponisten der Versuch der musikalischen Beschreibung der Apokalypse. Ein Vergleich der damaligen Stimmung, die vermutlich Olivier Messiaen inspirierte, mit der Stimmung heute, ist reichlich deplatziert, doch kann man wohl kaum einen Vergleich zwischen Holocaust und Corona-Pandemie daraus lesen. Nun mag einem der Herr Richter nicht besonders sympathisch erscheinen und sein Kommentar war mehr als fragwürdig: Aber kann es sein, dass es Ihnen eigentlich nur um Sachsenbashing geht?