Krautrock-Band Tangerine Dream: Die neben Kraftwerk
Tangerine Dream ist eine Berliner Band mit Legendenstatus, wenigstens im Ausland. Auf Museum aber haben ihre Mitglieder keine Lust.
Die Band Tangerine Dream existiert nun beinahe so lang wie die Rolling Stones. Aber wenn man deren Mitglieder trifft, wirken diese viel jünger als Mick Jagger und Co. Kenner der Berliner Band wissen natürlich gleich: Das liegt vor allem daran, dass sie auch viel jünger sind, allesamt zwischen Anfang und Mitte 40. Tangerine Dream stellen damit durchaus eine rockhistorische Besonderheit dar. Es fällt einem eigentlich keine andere Band ein, die über 50 Jahre lang ohne Unterbrechung existiert, auch wenn inzwischen keiner aus der Urbesetzung noch mit an Bord ist.
Man denke sich nur mal, Mick Jagger, Keith Richards, Ronnie Woods und Charlie Watts würden allesamt in Rente gehen, um nicht sagen zu müssen: wegsterben. Und ein paar Typen würden unter dem Namen Rolling Stones weiter Platten veröffentlichen und auf Tour gehen. Man kann sich das gar nicht vorstellen.
Und als dann im Jahr 2015 Edgar Froese starb, das absolute Mastermind hinter Tangerine Dream und fast von Beginn an einzige Konstante in der ständig wechselnden Bandbesetzung, dachten eigentlich auch die meisten: Das muss es jetzt gewesen sein. Tangerine Dream ohne Froese: undenkbar.
Doch es war dessen ausdrücklicher Wunsch, dass seine Band auch ohne ihn fortexistieren solle. Er übergab den Staffelstab und die musikalische Leitung an Thorsten Quaeschning, der zum Zeitpunkt seines Todes bereits seit zehn Jahren mit dabei war. „Es lag gar nicht in meinem Kompetenzbereich zu sagen: Okay, wir machen weiter. Das war Edgars Entscheidung“, sagt dieser heute. Und so ging es einfach weiter mit Tangerine Dream.
Edgar Froese:
Mit ihrer Pionierarbeit auf dem Gebiet der elektronischen Musik machten sich Tangerine Dream einen Namen. Mastermind der 1967 gegründeten Band war lange Edgar Froese, dessen Todestag sich am 20. Januar zum sechsten Mal jährt.
Das Werk:
Inzwischen gibt es über 200 Platten von Tangerine Dream. Der legendäre Radio-DJ John Peel verehrte vor allem deren Doppelalbum „Zeit“ aus dem Jahr 1973. Krautrock-Guru Julian Cope schwärmt von den ersten vier Platten der Band, schreibt aber in seinem „Krautrocksampler“: „Danach versumpften sie im Easy-Listening-Sound von ‚Phaedra‘.“ Für die meisten Fans der Band beginnt mit diesem 1974 erschienenen Album dagegen erst die klassische Phase von Tangerine Dream. Von deren vielen Soundtracks gilt der zu William Friedkins Film „Sorcerer“ als besonders legendär.
Man kann nun aber gar nicht sagen, dass man sich in Deutschland in den letzten Jahrzehnten besonders für die Geschicke der Elektronikband aus Berlin interessiert hätte. Selbst der Tod von Froese löste in der internationalen Presse ein größeres Echo aus als hierzulande.
Der Ruhm im Ausland
Tangerine Dream wurden in den frühen Siebzigern ziemlich schnell ziemlich erfolgreich. Aber vor allem im Ausland, besonders im angloamerikanischen Raum. Dort werden sie auch heute noch als wichtigste deutsche Elektronikband neben Kraftwerk verehrt. Selbst in ihrer deutschen Heimatstadt Berlin genießen sie dagegen kaum mehr als Legendenstatus. Edgar Froese packte dazu passend in seiner posthum erschienen Autobiografie eine Anekdote aus. Gemäß dieser wurde zum zweihundertjährigen Jubiläum der Städtepartnerschaft zwischen Berlin und Los Angeles 1980 vorab eine Delegation von Berlin nach Kalifornien gesandt. Die sollte ausloten, welcher künstlerische Beitrag aus Deutschland zu den Feierlichkeiten genehm wäre. Der Bürgermeister von Los Angeles kannte keinen der Vorschläge auf der Liste und sagte: Nehmt doch Tangerine Dream. Die kannten wiederum die Berliner nicht.
Woher diese Ignoranz rührt, darüber kann nur spekuliert werden. Die Berliner, so scheint es, überhäufen einen internationalen Star, der sich zu ihnen begibt, gerne mit all ihrer Liebe. Siehe David Bowie. Wer dagegen als Kind dieser Stadt glaubt, woanders könnte es vielleicht noch schöner sein als hier, wird abgestraft. So ist es etwa Marlene Dietrich ergangen. Und vielleicht auch Tangerine Dream. Die machten nie ein Geheimnis daraus, dass für sie die Welt größer war als Berlin. Richard Branson, der die Band ab deren fünfter Platte zu seinem eben erst gegründeten Label Virgin holte, sagte zu dieser: Pink Floyd waren gestern, die Zukunft gehört euch. Und stellte ihnen in England ein geräumiges Cottage zur Verfügung, in dem sie leben und arbeiten konnten. Später, als der große Ruhm in den USA kam, hielten sie sich immer öfter dort auf.
Auch die aktuelle Wiederentdeckung von Tangerine Dream geht vom Ausland aus. Es gab immer wieder Wellen, in denen die klassischen Tangerine Dream aus den Siebzigern von nachfolgenden Generationen neu rezipiert wurden. Deren epische Flokati-Teppiche aus schier endlosen sphärischen Sounds, zu denen man gerne die Lavalampe anwirft. Vor allem im Bereich der Ambientmusik bekennt man sich stark zu Tangerine Dream.
Bei den Soundtracks in der A-Liga
Doch die eigentliche Renaissance hat eher die amerikanische Unterhaltungsindustrie ausgelöst. Und die erinnert sich an die Berliner als die Soundtrack-Großmeister für Hollywood, die sie in den Achtzigern waren. Sie schrieben in der Zeit die Musik für Filme von Regisseuren wie Michael Mann, Ridley Scott und William Friedkin, also für Hollywoods A-Liga. Der effektvolle Elektronik-Score, heute gang und gäbe in Hollywood-Filmen, geht letztlich auch auf Tangerine Dream zurück, die damit neben Vangelis und Giorgio Moroder bahnbrechend waren. Und Hans Zimmer, der König des Hollywood-Film-Score, ist natürlich auch bekennender Fan der deutschen Synthie-Band.
Und so fragte die Firma Rockstar vor ein paar Jahren ausgerechnet beim längst über 60-jährigen Froese an, ob er sich vorstellen könne, auch den Soundtrack für ein mit dem Film verwandtes visuelles Medium zu schreiben. Und zwar für die fünfte Auflage ihres erfolgreichen Computerspieleklassikers „Grand Theft Auto“, die 2013 auf den Markt gebracht wurde. Froese wollte erst nicht, ließ sich das Spiel dann aber in den USA vorführen und war begeistert. Die Intro-Musik zu „GTA 5“ mit seinem lässig cheasigen Westcoast-Funksound schrieb er gemeinsam mit den Rappern und Hip-Hop-Produzenten The Alchemist und Oh No. Für den Score des Spiels spielte er mit Tangerine Dream dann ganze 36 Stunden Musik ein. Thorsten Quaeschning sagt beim Besuch der Band in einem ihrer beiden Studios in der Sonnenallee in Neukölln: „Das Spiel hat sich 76 Millionen Mal verkauft. Und die Leute verbringen je nach Spielglück gut ein Jahr mit unserer Musik. Auch wenn sie vielleicht nicht unbedingt wissen, dass diese von Tangerine Dream stammt.“
Auch viele Fans der erfolgreichen Mystery-Serie „Stranger Things“ des Streamingkanals Netflix dürften sich für die Elektronikband aus Berlin interessieren. Das Titelthema der Serie, die dafür gelobt wird, die Achtziger liebevoll detailliert nachzustellen, wurde von zwei Mitgliedern der Band Survive komponiert, devote Fans von Tangerine Dream. In einem Interview mit dem amerikanischen Rolling Stone sagten sie, in ihrer Lieblingsvideothek immer gezielt die Filme ausgeliehen zu haben, für die Tangerine Dream den Soundtrack komponiert hatten. Diese Verehrung der Berliner hört man ihrer „Stranger Things“-Erkennungsmelodie auch überdeutlich an.
Inzwischen haben Tangerine Dream die Hommage gecovert, das Original grüßt die Epigonen dankbar zurück. Was zeigt, dass die Band von heute nicht nur ihr jahrzehntealtes Erbe verwalten, sondern sehr gegenwärtig sein möchte.
Das zeigt sich auch am neuen Bandmitglied, das seit einem halben Jahr dabei ist: Paul Frick vom hippen Berliner Techno-Trio Brandt Brauer Frick. Und der sagt: „Ich bin ganz neu in der Band. Ich beschäftige mich weniger mit deren Vergangenheit, mich interessiert die Zukunft. Man kann aus so einer Sache auch ein Museum machen, aber das hat hier ja zum Glück niemand vor.“ Er glaubt auch, dass seine neue Band sowieso zeitgemäß klingt wie lange nicht. „Seit einer Weile boomt nun schon die sogenannte Neoklassik. Und in diesem Bereich klingt das ein oder andere Stück verdammt nach Tangerine Dream.“ Zu dem komme noch Corona. „Seit der Pandemie machen alle viel introspektivere Musik als vorher. Und Tangerine Dream waren schon immer ziemlich introspektiv.“
Nach Froeses Tod ging es erst einmal darum, neu zu klären, was man mit Tangerine Dream überhaupt noch will. Der Meister selbst hatte ja in den Jahren vor seinem Tod ein wenig den roten Faden verloren. Er holte Saxofonisten mit an Bord, trat live mit Percussion-Musikern auf, war mal ganz allein die Band, dann jahrelang nur mit seinem Sohn, irgendwann blickte da niemand mehr durch. Ständig wurden dabei neue Platten veröffentlicht, aber nur noch für eine überschaubare Anzahl beinharter Fans.
Ziel sei es nun, so Thorsten Quaeschning, die Band zurück zum symphonischen Synthiesound der Siebziger zu führen, aber dabei eben nicht nur retro zu sein. Es gibt also wieder wie in der klassischen Periode drei Männer – der in London lebende Ulrich Schnauss gehört noch mit zur Band – hinter ihren Geräten. Aber es dürfen auch mal Beats programmiert werden. Und die Violinistin Hoshiko Yamane, die seit zehn Jahren festes Mitglied ist, wird weiterhin dafür sorgen, dass Tangerine Dream mehr ist als ein reines Reenactment längst vergangener Tage.
Spätestens im Sommer soll dann das erste gemeinsam produzierte Studioalbum in der neuen Bandbesetzung erscheinen. Derweil wird auch daran gearbeitet, dass Tangerine Dream in Berlin doch noch ihre verdiente Aufmerksamkeit bekommen. In London ist gerade eine Ausstellung über die Band im Barbican zu sehen, die allerdings wegen Corona unterbrochen werden musste. Kuratiert wurde diese von Froeses zweiter und letzter Ehefrau Bianca Froese-Acquaye, die auch Managerin von Tangerine Dream ist. Sie sagt am Telefon, sie sei gerade mit mehreren Berliner Institutionen im Gespräch, um die Ausstellung auch hierher bringen zu können.
Es würde sich lohnen. Man würde etwa den von John Peel geschriebenen Brief zu sehen bekommen, den dieser 1973 an Tangerine Dream schickte. „Zeit“, das vierte Album der Band, war das Album des Jahres für den ikonischen Radio-DJ der BBC. Unter anderem wollte er den Berlinern unbedingt mitteilen, dass er mit seiner Frau jeden Abend vor dem Zubettgehen immer diese eine Platte auflegen würde.
Und man würde in der Ausstellung die Legende um Tangerine Dreams Konzert in der Kathedrale von Reims noch einmal erzählt bekommen, das regelrecht einen Kirchenstreit auslöste. Während des viel zu vollen Konzerts kifften die Zuschauer und pinkelten in die Ecken des Gotteshauses. Danach war die Empörung groß und sie erreichte sogar den Vatikan. Der erließ einen Bann und gab die offizielle Order an alle katholischen Kathedralen, die Band aus Deutschland niemals wieder in einer von diesen auftreten lassen zu dürfen. Woraufhin sich die anglikanische Kirche in England meldete und sagte: Dann tretet halt in unseren Kathedralen auf. Was diese dann auch mehrfach tat.
Kein Teil der Ausstellung ist dagegen die Geschichte über die Beziehung zwischen Froese und David Bowie. Die erzählt dann Froese-Acquaye nochmals am Telefon. Die beiden Musiker kannten sich schon, bevor Bowie nach Berlin übersiedelte, der Engländer war bekennender Fan von Froese. Als er dann mit Iggy Pop im Schlepptau hier ankam, lebte er erst ein paar Wochen in Froeses Wohnung in Schöneberg, bevor er in seine WG mit Pop um die Ecke zog.
Ohne Edgar Froese hätte es Bowie, der Liebling Berlins, also anfangs um einiges schwerer gehabt bei seinem Umzug in die Mauerstadt. Das sollte den Berlinern doch Grund genug sein, endlich auch mal Froeses angemessen zu gedenken.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um Termin für Bundestagswahl
Vor März wird das nichts
Bewertung aus dem Bundesinnenministerium
Auch Hamas-Dreiecke nun verboten
Solidaritätszuschlag in Karlsruhe
Soli oder Haushaltsloch
Wirbel um Berichterstattung in Amsterdam
Medien zeigen falsches Hetz-Video
Ringen um Termin für Neuwahl
Wann ist denn endlich wieder Wahltag?
Belästigung durch Hertha-BSC-Fans
Alkoholisierte Übergriffe im Zug