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OstdeutschlandWo warst du am 18. März 1990?

Kommentar von Andreas Willisch

Wir Ostler*innen haben die Anpassung an den Westen selbst gewählt. Statt unbequeme Fragen zu stellen, beklagen wir uns über zu wenig Spitzenjobs.

Wahl der DDR-Volkskammer am 18.03.1990: Übertragungswagen vor dem Palast der Republik in Ost-Berlin Foto: Karlheinz Schindler/dpa

I m Spätherbst 89 wurde an der Berliner Humboldt-Universität über den ersten freien Studentenrat abgestimmt. Der Wahl waren unzählige Diskussionen vorausgegangen, wer daran teilnehmen können sollte, welche Rolle die FDJ-Grundorganisation spielen und wie so ein Studentenrat überhaupt arbeiten sollte. Die Aufregung war riesig. Wir saßen in einem Raum der Universität.

Nach meiner Erinnerung wurde die Euphorie darüber, hier etwas ganz Neues, Urdemokratisches angestoßen zu haben, mehr und mehr von einem bangen Gefühl verdrängt. Immer weniger Leute kamen dazu, immer weniger war auszuzählen. Bald machte die Vermutung die Runde, ein großer Teil der Stimmberechtigten war irgendwo im Westen unterwegs. Statt Abstimmen hatten sie Besseres zu tun. Einkaufen zum Beispiel.

30 Jahre später ist das demokratische Grundverhalten im Osten offenbar noch immer nicht weiter. Statt die Demokratie zu ignorieren, wird sie nun ausgehöhlt. Das Maß an Freiheit wird daran festgemacht, ob wir Masken tragen müssen. Zum Gelingen der Einheit fehlt nur noch, dass auch die Ostler*innen in Elitenpositionen beim Militär etwa oder den Öffentlich-Rechtlichen aufrücken können.

Für alles, was im Osten schief- oder auch nur anders läuft, müssen die diktatorischen Verhältnisse in der DDR herhalten. Unter dieser diktatorischen Fuchtel stehen nicht nur die, die in der Diktatur gelebt haben, sondern auch deren Kinder, mitunter deren Enkel.

Wie lange wollen wir das so weitererzählen? Machen wir Diktatursozialisierten das, weil wir die Alt- und Neurechten nicht mit dem neuen politischen System in Verbindung bringen wollen? Wer sind „wir“ eigentlich? Vorwende-, Nachwende-, dritte Generation, 89er? Wieso lasten wir die Teile des Scheiterns der letzten 30 Jahre der Diktatur an und die des Gelingens dem System der Freiheit und des Wohlstands? Dichten wir nicht die Geschichte der „blühenden Landschaften“ weiter? Steckt uns der diktatorische Staat so in den Gliedern, dass wir Gewalt und Verwahrlosung nur in der abgeschlossenen Vergangenheit und nicht in den politischen Kämpfen liberaler Gesellschaften sehen können?

Keine Verengung auf Gewaltapparat

Wir sollten uns freimachen davon, uns am Gewaltapparat schaurig zu berauschen. Das Leben in der DDR war nicht nur Stasi, Ausreise und Neonazis. Zum Leben in der DDR gehörte auch das Angepasste, das es vielen Leuten erlaubte, ein gar nicht so schlechtes Leben zu führen, und das alltäglich Eigensinnige, Widerständige jenseits der bekannten Oppositionsgruppen.

Wie wäre es sonst möglich gewesen, dass Student*innen demokratische Wahlen abhalten konnten? Woher kam der Antrieb? Woher wussten die, dass sie nicht die Einzigen waren? Wir wissen wenig, ein paar empirische Studien, aber kein Stolz, keine Erzählung, dass das auch der Osten auch ist. Die Demokratie ist 89 scheinbar vom Himmel gefallen.

Im Osten gab es schon damals nicht nur den politischen Kampf mit den Erben der Diktatur, sondern auch den über den „richtigen“ Weg zum Aufbau einer Gesellschaft der freien Bürger. „Wir sind das Volk“ oder „Wir sind ein Volk“ hieß es damals – der emanzipatorische Weg, der behauptet, „das“ sind wir, und der anpassende „wir sind eins“. Die Vertreter und Anhänger des „Einheitsvolks“ haben gewonnen, über die anderen wurde drübergebügelt.

Es ist an der Zeit, sich mit dem richtigen Weg gesellschaftlicher Veränderungen auseinander­zusetzen

Was sie an Diktaturerfahrungen für eine Demokratie einzubringen hatten, fand keinen Platz im Instrumentenkasten der alten Bundesrepublik. Die Freiheit kam, dahin gehen zu können, wo man wollte, nur zum Bleiben brauchte man sich nicht zu entscheiden. Dort hatte man nichts zu sagen. In den 90er Jahren wurden die Posten verteilt, die die Einheitskommission 30 Jahre später noch einmal anders verteilen will. Statt des Versprechens „blühender Landschaften“ gibt es jetzt die vage Aussicht auf Aufstieg in die Eliten. Damit wird die Politik des Verwaltens aber nur fortgesetzt. Es wäre an der Zeit, sich endlich in eine politische Auseinandersetzung um den richtigen Weg gesellschaftlicher Veränderungen zu begeben.

1990 war ein Schockjahr. Von diesem Schock haben wir uns bis heute nicht erholt. Freiheit sollte nicht nur individuelle Freiheit sein, sondern auch die Freiheit, an einer neuen Gesellschaft mitbauen zu können. Freiheit wurde dann aber, sich in der Bundesrepublik seinen Platz suchen zu dürfen. Nichts war etwas wert, in die neue Bundesrepublik übernommen zu werden.

Das „Einheitsvolk“ zieht jetzt wieder durch die Straßen. Bis in die Parlamente haben sie es geschafft, um die Demokraten zu jagen. Und was tun wir? Wir beklagen, dass wir keine öffentlichen Positionen abbekommen haben und dass der Anteil derer, die sich noch immer nicht von autoritären Vorstellungen lösen können, riesig ist. Wann machen wir die Rechnung auf, was uns der schnelle Weg zur staatlichen Einheit im Osten gekostet hat? Wann sagen wir denen, die die D-Mark wiederhaben wollen, Geflüchteten ein Recht auf Asyl verwehren und Masketragen mit Diktatur verwechseln, dass Freiheit auf der Solidarität mit den Anderen beruht, dass Freiheit nichts mit Eigennutz, sondern mit Verantwortung zu tun hat? Wann sagen wir laut, dass die Konservativen einen Geist aus der Flasche gelassen haben, der ihnen lange eine verlogene Form von Zustimmung gewährt hat und sich jetzt gegen uns alle wendet?

Wenn wir fragen, was wir alle in der Diktatur gemacht haben, müssen wir zugleich fragen, wo wir am 18. März 1990 waren, als die letzte DDR-Volkskammer frei gewählt wurde. Wer hat gewählt und wer hat sich für welchen Weg warum entschieden? Das müssen wir unseren Kindern heute erklären, damit sie lernen können, das persönliche politische Entscheidungen lange Wirkungen haben können; damit sie sehen, dass sich Eltern gerade in der Demokratie auch falsch verhalten können, damit sie verstehen, dass die Geschichte nach 89 nicht einfach aufgehört hat; damit die Kinder ihren Eltern vielleicht verzeihen können.

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5 Kommentare

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  • Erstaunlicherweise kommt mir in diesem Text Vieles auch aus dem Westen sehr bekannt vor.

    Natürlich haben die westlichen Eliten vielfach ihre zweite oder dritte Garde in den Osten entsorgt. Das bedeutet aber nicht, das alle Westler damals tolle Jobs bekommen hätte (ich zum Beispiel :-| ).



    Ebenso gibt es zwar immer noch zu viele Westler in Ost-Spitzenpositionen (Bernd Höcke z.B.) aber letztlich ist die unfaire und vielfach korrupte Verteilung solcher Jobs ein bundesdeutsches Ärgernis.

    Letztlich betreffen die Fragen nach den Alternativen also eigentlich uns alle.

  • Danke für den Text. Dieses raunenden, murrenden "Einheitler" habe ich sowohl von den Demos Ende 89 (Dezember), 1990 bei Kohls Wiederwahl 1994 und später an Wahlkampfständen immer wieder erlebt. Gerade treten sie immer offener auf, nachdem die CDU ihnen nur noch zum Teil das Wort redet (was sie bisher auch nur aus Machtgründen taten und in SA immer noch tun).



    Noch einige Anmerkungen:



    - Auch wir in Jena hatten Mitte November 89 über den Studentenrat abgestimmt (mit 70% Wahlbeteiligung ;-)). Das interessante ist, dass DDR-weit dieses Rätemodell unabhängig voneinander an den Uni zum Tragen kam: keine politischen Listenverbindungen, sondern quasi Direktmandate aus den Fakultäten / Fachbereichen (damals noch Sektionen genannt). Dies führte dann 1990 auch zum Konflikt beim Begegnen mit den westdeutschen zersplitterten ASTen. Im Rückblick (!) war dieses Modell aber eine Entpolitisierung (was wir damals brüsk zurückgewiesen hätten), in Konsequenz auch eine Entpolitisierung zukünftiger (zumindest akademischer) Eliten.



    - Der 18. März war ein Schock (Ein Freund von mir erklärte am Tag darauf, das Wort "Volk" nicht mehr zu benutzen) Es hatte aber auch zur Folge, dass sich viele alternative Menschen aus der Politikgestaltung zurückzogen. Aus Arroganz dem "Pöbel" gegenüber, aus egozentrischen, wenn auch oft nachvollziehbaren Interesse (endlich Auslandstudium, beruflicher Neuanfang, etc.), auch aus dem Nichtvorhandensein politischer Jobs für sie (die Posten hatten ja jetzt die Konserativen). Die wenigen, die weitermachten, waren eben oft zu wenig. Dabei gab es - so habe ich es als StuRa-Vorsitzender und später Stadtrat kennengelernt - durch aus Spielräume, um eigenes zu gestalten und schlimmeres zu verhindern.



    - Die westeuropäische "Linke" hat 1990 nicht die Dimension des Umbruches in der DDR und Osteuropa nicht kapiert, zusammengefasst in den grünen Bundestagswahlslogan "Alle reden von der Einheit, wir reden vom Wetter", und damit 1990 den Leuten im Osten kein Angebot gemacht.

    • 1G
      164 (Profil gelöscht)
      @Hans aus Jena:

      In meiner (West-) Erinnerung war das so, dass alle, die gegen Kohls schnellen Anschluss argumentiert haben als vaterlandslose Gesellen weggeputzt wurden. Das z.B. Lafontaine mit seiner damaligen Skepsis zumindest in Teilen recht hatte, konnte so gar nicht zum Tragen kommen. Vielleicht wollten die, die Kohl dann zu seinem gesamtdeutschen Wahlsieg getragen haben, auch gar kein Angebot von Linken oder Grünen...

      • 9G
        96177 (Profil gelöscht)
        @164 (Profil gelöscht):

        Vielleicht wollten die, die Kohl dann zu seinem gesamtdeutschen Wahlsieg getragen haben, auch gar kein Angebot von Linken oder Grünen...

        eben, die wollten die Westmark 1:1 und sich keene Gedangen mochen

    • @Hans aus Jena:

      - Und noch eins zuletzt: Die "Linke" hat die Pervetierung ihrer Theorie in den sozialistischen Staaten und damit ihr Scheitern 1989/90 in den 90er und 2000er Jahren nicht aufgearbeitet, auch nicht aufarbeiten wollen. Sie haben nicht überprüft, was in ihren ideologischen System angelegt war und ist, so benutzt zu werden. Das Pflegen alter Analysen und Feindbilder war bequemer als eine radikale Selbstbeschäftigung mit ihren eigenen Wurzeln und damit eine neue Erzählung zu schaffen. Bis heute kann man dies auch in den Kommentarspalten der taz nachlesen. Ich hatte 1989 als Blochianer bitter festgestellt, nun ist auch die Hoffnung durch die Parteibonzen geschändet und ermordet worden war. Es gab in den Jahren danach wenig Anlass über eine auch theoretische Erneuerung alternativer politischer Systeme zu lesen. Vielleicht schaffen es jetzt die neuen Bewegungen...