piwik no script img

Negativitätseffekt des GehirnsTagebuch der guten Dinge

Unser Gehirn neigt dazu, sich auf Negatives zu konzentrieren, das Positive aber zu vergessen. Unsere Kolumnistin hat eine Strategie dagegen.

Ein „Dankbarkeitstagebuch“ kann helfen aus der negativen Gedankenspirale auszubrechen Foto: daboost/imago

E s gibt Zeiten, da fühlt sich vieles dunkel an, in diesem Jahr besonders. Menschen haben Angehörige verloren und erleben dadurch eine Dunkelheit, die sich so dicht und schwer anfühlen muss, dass sie unendlich erscheint. Menschen haben Existenzen verloren und werden noch lange damit beschäftigt sein, sich wieder an die Oberfläche zu kämpfen. Menschen haben Strukturen verloren, an denen sie sich festhalten können, Menschen mit Depressionen, von Gewalt Betroffene, Eltern, Schüler*innen – die Liste ist lang. Nach einem solchen Jahr frage ich mich: Wenn so viel verloren wurde, was bleibt?

Ich führe seit einem Jahr ein besonderes Tagebuch. Ich schreibe alles hinein, was mich an diesem Tag beschäftigt hat, was ich erlebt, gesehen, gefühlt habe. Meine Einträge erfüllen eine Bedingung: Sie müssen positiv sein. Das heißt nicht, dass ich nur die guten Dinge aufschreibe und die schlechten weglasse; ich erkläre mir, Abend für Abend, was Gutes aus dem folgt, was ich als schlecht erlebt habe. Und ich halte jede positive Erfahrung fest, so klein sie auch sein mag.

Anfang des Jahres erholte ich mich langsam von langer, schwerer Krankheit; ich notierte in meinem Tagebuch nicht, dass ich noch immer nicht so leicht joggen konnte wie früher, sondern wie glücklich ich war, jeden Tag ein bisschen länger joggen zu können. Ich schrieb jenen Moment auf, in dem ich mich wieder im Spiegel anschaute, ohne Angst und Krankheit zu sehen, sondern ein Lächeln. Ich schrieb zu jedem Spaziergang, zu jedem Gespräch mit Freund*innen und Familie ein paar Worte auf.

Ich tue das, nicht weil ich mich abends neben meinen Traumfänger setze und mit Duftkerzen und mit Gong irgendein Ritual einleite (nichts gegen Traumfänger, Duftkerzen und Gong). Sondern ich tue das, weil ich mich schon länger mit dem Gehirn beschäftige und weiß, dass das Gehirn einer Art Wahrnehmungsstörung unterliegt: dem Negativitätseffekt.

Das Gute vergilbt

Das Gehirn hält an allem fest, das schlecht ist, das Angst macht. Aber es vergisst jene Dinge, die gut sind. Es wirkt auf Negatives wie Klett, auf Positives wie Teflon. Wir wissen noch Jahre später, was uns jemand Böses angetan hat, oft in erstaunlichem Detail, aber die zahlreicheren guten Momente, die wir mit dieser Person hatten, vergilben wie Fotos im Fotoalbum. Wir erinnern uns an das, was wir verloren haben, nicht an das, was bleibt.

Nein, Menschen, die Angehörige verloren haben, Existenzen und so vieles andere, kommen mit einem Tagebuch der guten Dinge nicht einfach aus dem Dunkel hinaus. Das Leid, das sie erleben, ist schwer und fest, es hebt sich nicht leicht. Sie brauchen Hilfe, sie brauchen Zeit, Zuneigung und Zuwendung. Dennoch sollten wir nicht vergessen: Wir haben dem Schlechten immer etwas entgegenzusetzen, so klein es auch ist. Wir haben zwar leider oft keine Kontrolle darüber, ob wir fallen. Aber wir entscheiden, wie wir landen. Wir entscheiden, was bleibt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Gilda Sahebi
Ausgebildet als Ärztin und Politikwissenschaftlerin, dann den Weg in den Journalismus gefunden. Beschäftigt sich mit Rassismus, Antisemitismus, Medizin und Wissenschaft, Naher Osten.
Mehr zum Thema

6 Kommentare

 / 
  • "Unser Gehirn neigt dazu, sich auf Negatives zu konzentrieren, das Positive aber zu vergessen."

    Wo kommt denn diese Weisheit her? Wenn überhaupt, dann stellt sich die Vergangenheit für Viele eher positiv dar.

  • Ich finde den Artikel gerade deshalb so interessant, da ich im Laufe des Lebens genau die gegenteilige Erfahrung gemacht habe. Schlimme oder schlechte Erfahrungen, negative Ereignisse verblassen, man erinnert sich zwar noch aber die Gefühle, die man zu der Zeit des Ereignisses hatte, sind nicht mehr nachvollziehbar. Mögen es Trennungen von Liebhabern oder Partnern sein, oder auch der Verlust von geliebten Menschen. Andere Erlebnisse, wie ein Sprung aus einem kleinen Segelboot, Schwimmen in 2-m-hohen Wellen, sind mir nach fast 50 Jahren noch so präsent und "nachfühlbar" wie damals. Und sobald ein Kind geboren ist, sind die Wehen - zum Glück - fast umgehend vergessen. Natürlich kann es oft 2-3 Jahre oder länger dauern, bis eine schlimme Erfahrung verblasst, aber je älter man ist, desto kürzer scheinen 2-3 Jahre. Es würde mich interessieren, ob die Tatsache, ob man sich eher an schöne oder an negative Erfahrungen erinnert, etwas mit dem Alter zu tun hat? Ich bin 63 und die Autorin scheint sehr viel jünger zu sein.

  • Unser Netzwerk an Freundys, die wir normalerweise mehrfach im Jahr zu langen, kuscheligen Treffen sehen, wo wir alle emotional auftanken - ist seit März auch abgeschottet. Wir sind über D, A, DK verteilt und geben uns online Support so gut wie möglich. Vor einigen Tagen wurde eine Liste zusammengetragen von persönlichen Rezepten gegen dunkle Stimmung. Da gehört(e) die Positivliste definitiv dazu.

  • Wenn Menschen das Negative eher registrieren als das Positive, so dürften die Ursachen dafür vielschichtig, und in ihrer Komposition und Gewichtung von Individuum zu Individuum verschieden sein, und von einer genuinen Selektivität des Gehirns bis zu Auswirkungen der typischen Mediennachrichten reichen, die eben nicht berichten: "Heute wieder 83 Mio. gut durch den Tag gekommen", sondern: "Bei Flugzeugabsturz 200 Menschen getötet."

    Ein nicht zu unterschätzender Faktor dürfte auch die Weltanschauung eines Menschen sein, die bestimmen kann, ob wir das Glas eher als halbvoll oder eher als halbleer sehen.

    'Verelendungsdiskurse' (Alles wird ständig schlimmer', 'Die internationale Lage nimmt ständig zu') sind weit verbreitet, und am dramatischsten am rechten und linken politischen Rand.

    Ein Gegenmittel gegen solche 'ideologisch verordneten' Depressionen: den eigenen Horizont erweitern, historisch, faktisch, komparatistisch, und nicht nur das zu sehen, was verbesserungswürdig ist, sondern auch das, was sich (im Laufe der Jahrhunderte) verbessert hat - und das ist nicht wenig.

    Verlendungsdiskurse können verführerisch sein, weil sie kurzfristig scheinbar gut tun: wie alle Schwarz-Weiß-Ideologien, Komplexität ÜBEReduzieren, klare Feindbilder (Sündenböcke) liefern, und es erlauben, sich sich selbst auf der Seite des eindeutig Guten gegen das eindeutig Böse oder als Zugehöriger zu einer identitätsstiftenden Opfergruppe zu wähnen. Dagegen hilft: Schattierungen sehen, Vielschichtigkeit, Uneindeutigkeit und Ambiguität lernen auszuhalten.

    Wer zu sehr in einem 'Verelendungsdiskurs' gefangen ist, könnte als Therapeutikum z.B. einen Blick in einige Arbeiten Steven Pinkers werfen. So präsentiert sein Opus Magnum: 'Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit.' auf 1200 eine konzentrierte Vielzahl von hoffnungsvoll stimmenden Daten.

    Der weitaus optimistischer Titel der englischen Fassung lautet: 'The better angels of our nature. Why violence has declined.'

  • Zitat: „Wir haben dem Schlechten immer etwas entgegenzusetzen, so klein es auch ist. Wir haben zwar leider oft keine Kontrolle darüber, ob wir fallen. Aber wir entscheiden, wie wir landen. Wir entscheiden, was bleibt.“

    Ach ja, ist das so? Na dann...

    Dann schau’n wir doch mal, was positiv ist an der angeblichen „Wahrnehmungsstörung“ unseres Gehirns. Müssen wir uns wirklich selbst austricksen, weil die Evolution irgendwie versagt hat, als unser Gehirn geformt wurde? Oder hat es womöglich einen tieferen Sinn, wenn unser Gehirn „auf Negatives wie Klett, auf Positives wie Teflon [wirkt]“?

    Der Mensch an sich ist faul. Nicht, weil er böse wäre, sondern weil Aktivitäten Energie verbrauchen und diese Energie andere Lebewesen liefern müssen. Tiere und Pflanzen müssen sterben, damit wir Menschen leben können. Mutter Natur hat sich also etwas gedacht, als sie das Energiesparen erfunden hat. Ihr sind all ihre „Kinder“ gleich wichtig.

    Weil Menschen Energie sparen, schieben sie Dinge auf. Auch wichtige Dinge. Vor allem solche, die irgendwie gefährlich sind. Würden wir schlechte Erlebnisse genau so leicht vergessen wie positive, wäre das ein Problem. Wir würden uns nämlich vor lauter Faulheit selbst ruinieren. Weil wir Dinge, die uns schaden, nicht mehr aktiv angehen würden. Wir würden versuchen, sie zu verdrängen, „auszusitzen“.

    Was also würde passieren, wenn wir uns einbilden würden, wir wären schlauer als die Evolution? Genau! Wir würden uns ständig an positiven Erinnerungen glücklich saufen. Leider nicht alle. Manch einer würde unsere Untätigkeit nutzen, um uns zu schaden. Weil auch er glaubt, er wäre klüger als Mutter Natur (und als wir anderen).

    Ich möchte nicht all meine schlimmen Erlebnisse vergessen. Ich möchte, dass einige davon Anlass zur Veränderung sind. Besteht nicht mehr die Gefahr, dass andere auch so leiden wie ich gelitten habe, werd‘ ich vergessen. Vorher allerdings nicht. Denn ich entscheide, was bleibt, auch von mir - und wie andere landen.

  • In der Erinnerung neigt das Gehirn eher das Positive zu behalten und die negativen Erfahrungen zu verdrängen oder abzuschwächen. Deshalb scheint früher auch alles besser gewesen zu sein. Das sollte eine Ärztin eigentlich wissen können.