Nach Coronademos in Berlin: Die frustrierte Minderheit
Die Coronaproteste sind keine Demonstration von Stärke. Sie sind das letzte Aufbäumen einer gesamtgesellschaftlich in die Defensive geratenen Rechten.
A nlässlich der Treppenstürmung vor dem Reichstag und angesichts vorangegangener sowie noch zu befürchtender weiterer Demos dieser Art haben sich Timm Kuehn in der taz und Gerhard Hanloser im Neuen Deutschland mit der Rolle der Linken in diesem Zusammenhang beschäftigt.
Während Kuehn eine Krise der Linken darin erblickt, dass sie keine „eigene Erzählung“ anzubieten habe, sekundiert Hanloser, die Linke sehe Rechte auch da, wo keine seien, und beide Autoren meinen, dass „die Linke“ aus ihrer „Wohlfühlzone“ herauskommen und sich mehr um die „Versprengten“ bemühen müsse.
Bei genauerer Betrachtung haben Rechte allerdings weder „abgeräumt“ noch sind die jüngsten Darbietungen in Berlin irgendwie der Linken anzukreiden. Stattdessen bestätigen Umfragen, dass die Bereitschaft, die Pandemiemaßnahmen zu akzeptieren, in der Bevölkerung stabil auf hohem Niveau liegt. Zudem lehnen laut einer Forsa-Umfrage für n-tv und RTL 91 Prozent der Gesamtbevölkerung die Coronademos ab.
Wer aber, wie Hanloser, der Linken vorwirft, die Anliegen der „Proletarisierten, der Außerkursgesetzten und der sozial wie psychisch mit Lockdown-Folgen Überforderten“ nicht „in Worte gefasst“ zu haben, was die Rechtsradikalen aber schon getan hätten, dann ist das eine zumindest seltsame Deutung. Denn wenn 90 Prozent der Bevölkerung diese Demonstrationen ablehnen, dann hat sich aller Wahrscheinlichkeit nach auch der allergrößte Teil der „Strauchelnden, Unklaren und Suchenden“ gerade eben nicht von Maskenrebellen aufstacheln lassen.
schreibt als freier Autor unter anderem für Neues Deutschland, Konkret und Titanic. Er ist Mitherausgeber der anarcho-pazifistischen Zeitschrift Graswurzelrevolution.
Auch dass „der Neoliberalismus“ die Rechtsradikalen gewissermaßen automatisch produziere, wie Kuehn meint, ist angesichts dieser Zahlen kaum haltbar. Wer mit Nazis marschiert, begibt sich schon selbst in deren Nachbarschaft. Und: Nach Ausbruch der Pandemie wurden schnell Hilfsgruppen gebildet, Einkaufsdienste wurden organisiert, man übte sich in Solidarität. Diese auf Telegram organisierten Gruppen sind, wie etwa in Frankfurt am Main, teils bis heute aktiv und sammeln inzwischen auch Computer für arme Familien, um deren Kindern Online-Unterricht zu ermöglichen. Auch viele Linke engagieren sich in solchen Gruppen. Die Rechten haben in erster Linie das Internet vollgespammt, wie man hört.
Wenn also eine linke Erzählung gewünscht wird, wie wäre es mit dieser: Obwohl der bürgerlich-kapitalistische Staatsapparat nichts unversucht lässt, linke Politik zu erschweren, haben der linke Diskurs und Aktivismus erstaunlich viele Erfolge vorzuweisen. Ein Beispiel: Wer in den 1980ern und frühen 1990ern ein Bundesligastadion besuchte, wurde Zeuge allgegenwärtigen Rechtsradikalismus. Kaum ein Fanblock ohne Reichskriegsflagge, kein Ballkontakt eines schwarzen Spielers ohne „Uh-uh-uh“-Rufe, auch Homosexuellenfeindlichkeit bestimmte praktisch jeden Schlachtruf.
Das hat sich geändert, heute ist Derartiges in vielen Fangruppen verpönt. Es waren linke und liberale Gruppen, die sich innerhalb der Fangemeinden zu Ultragruppen zusammenschlossen und einen bestimmten Konsens durchsetzten. Das sind dicke Bretter, die linke Politik immer bohren muss.
Heute wird fast jedes politisch relevante Thema von linker Politik gesetzt und bestimmt. Der Atomausstieg: Ergebnis linker Diskurse; die Klima- und Klimagerechtigkeitsbewegung, Fridays for Future, Ende Gelände: bestimmt von linken und linksradikalen Gruppen. Derzeit wird im Arbeitsministerium über eine Viertagewoche nachgedacht, und eine Pilotstudie zum Grundeinkommen wird durchgeführt. Die Liste ließe sich verlängern.
Dort, wo sich ArbeiterInnen, SchülerInnen, KlimaaktivistInnen, SeenotretterInnen organisieren, findet linke Politik statt, wo immer Betriebsräte gegründet oder Streiks organisiert werden, wo immer Emanzipatorisches diskutiert wird, findet wirksame linke Politik statt.
Und neben all dem findet die politische Linke im Land noch Zeit dafür, Demonstrationen zu organisieren, wenn es symbolpolitisch notwendig oder erfolgversprechend scheint. Wenn ein paar linksradikale Punkrocker um Unterstützung in Chemnitz bitten, kommen 65.000 AntifaschistInnen. Nach Chemnitz! Während die Kaisertreuen schon vor Stolz platzen wegen der großzügig geschätzten 40.000 DemonstrantInnen in Berlin.
Zustimmung für Merkel auf Rekordniveau
Die politische Rechte musste mitansehen, wie sie bei fast allen politischen Themen in die Defensive geraten ist. Keine „Negerküsse“ und neuerdings auch keine „Zigeunersoße“ mehr, dafür heiraten jetzt Homosexuelle – harte Zeiten für Rechtskonservative. Sie mussten mitansehen, wie der bis dahin traditionelle Männerbund in der eigenen Partei von Angela Merkel und ihren MitstreiterInnen sozialdemokratisiert wurde. Und wie Merkel sich als Klima- und Flüchtlingsfreundin profilierte und dafür in Umfragen Rekordzustimmungswerte erntet.
Man könnte dies alles auch so lesen: Der Kapitalismus in seiner national-bürgerlichen Staatlichkeit ist moralisch am Ende, diese Gesellschaftsformation produziert nur noch Ungerechtigkeiten und die ökologische Zerstörung des Planeten. Laut dem Edelman Trust Barometer 2020 stimmen 55 Prozent der Bevölkerung der Aussage zu, der Kapitalismus sorge für mehr Schaden als Nutzen.
Die letzte Strategie der argumentativ in die Ecke Gedrängten: den völkischen Schrott wieder hervorkramen, eine parallele Realität erfinden mit Kindern, denen unterirdisch Blut abgezapft wird. Oder einfach behaupten, man verstehe mehr von Virologie als die Fachwelt und die Wissenschaft sei von Bill Gates gekauft.
Das Dümmste und Falsche wäre, sich als Linke auf dieses bemerkenswert hilflose Manöver der 10 Prozent Restrechten einzulassen und sich eine Krise einreden zu lassen.
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