Abgeriegeltes Mietshaus in Göttingen: Flucht, Ohnmacht, Sucht
In Göttingen wird ein Wohnblock wegen Corona abgeriegelt. Es ist der Tiefpunkt einer langen Kette von Diskriminierungen in der Uni-Stadt.
D ie Göttinger Punkband „Hund Kaputt“ hat einen Wohnblock in der Stadt („Haus 9a bis c“) einmal so besungen: „Wenige Quadratmeter / viele Menschen und eine Menge zerplatzter Träume / in dieser Enge / Flucht, Ohnmacht, Sucht“. Weiter brüllt der Sänger, dass „euch das Leid dahinter einen Dreck“ interessiere – beim „Skandalisieren des äußeren Schmutzes“.
Das Lied ist von beklemmender Aktualität. Vorige Woche hat die Stadt wegen Corona genau dieses Haus unter Quarantäne gestellt. In dem Block, in dem 700 Menschen wohnen, wurden 102 auf das Virus positiv getestet. Alle BewohnerInnen dürfen den Wohnkomplex nicht verlassen – die Stadt hat ihn sogar mit Bauzäunen verbarrikadiert. Am Wochenende versuchten BewohnerInnen, aus ihrem unfreiwilligen Gefängnis zu entkommen; lokale Medien berichten von Steinen und Autoreifen, die auf die Polizei heruntergeworfen wurden.
Es ist unwahrscheinlich, dass eine Stadtregierung gediegene Wohnviertel mit Zäunen zusperren würde. Eine Masseninfektion in diesen Vierteln ist eher ausgeschlossen, weil es sich dort luftiger wohnt. Aber selbst wenn es dort viele Infizierte gäbe: Eine Stadt würde sich nie trauen, solche BewohnerInnen einzusperren, und wenn doch, würden diese sich per Anwalt wehren; mit geworfenen Autoreifen müssen sie sich nicht die Hände schmutzig machen.
Jede größere Stadt hat so ein „Haus 9a bis c“. In den 60er und 70er Jahren hochgezogen, sind diese Häuser irgendwann zum Notaufnahmelager für all jene geworden, die die Mehrheitsgesellschaft in ihren Reihen nicht haben will: dauerhafte Hartz-IV-EmpfängerInnen, mittellose MigrantInnen, im Göttinger Fall viele Sinti und Roma.
Wutausbruch als Hilfeschrei
Göttingen hat im Stadtrat seit Jahrzehnten eine linke Mehrheit, der Oberbürgermeister ist von der SPD. Die Sozialdezernentin der Stadt sagte im schönsten SozialarbeiterInnensprech, man wolle die Situation „nicht gegen die Menschen gestalten, sondern mit ihnen“. Ein schöner Witz: Es ist die lokale Politik, die den Wutausbruch der BewohnerInnen, der eigentlich ein Hilfeschrei ist, zu verantworten hat.
Über Jahre hat sie wenig bis nichts getan, um für menschenwürdige Wohnbedingungen zu sorgen – was auch im Interesse der Gesundheit der BewohnerInnen wäre. Es ist bitter nötig, gegen auch nur latenten Rassismus und Ungerechtigkeiten vorzugehen. Doch sollten nicht nur „die Anderen“ im Blick stehen: Es lohnt sich, auch bei den politisch Verantwortlichen im eigenen Milieu, in linken Uni-Städten etwa, genauer hinzuschauen.
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