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Abgeriegeltes Mietshaus in GöttingenFlucht, ­Ohnmacht, Sucht

Kommentar von Gunnar Hinck

In Göttingen wird ein Wohnblock wegen Corona abgeriegelt. Es ist der Tiefpunkt einer langen Kette von Diskriminierungen in der Uni-Stadt.

Abgeriegelt: der Wohnblock in Göttingen Foto: Sven Pförtner/dpa

D ie Göttinger Punkband „Hund Kaputt“ hat einen Wohnblock in der Stadt („Haus 9a bis c“) einmal so besungen: „Wenige Quadratmeter / viele Menschen und eine Menge zerplatzter Träume / in dieser Enge / Flucht, Ohnmacht, Sucht“. Weiter brüllt der Sänger, dass „euch das Leid dahinter einen Dreck“ interessiere – beim „Skandalisieren des äußeren Schmutzes“.

Das Lied ist von beklemmender Aktualität. Vorige Woche hat die Stadt wegen Corona genau dieses Haus unter Quarantäne gestellt. In dem Block, in dem 700 Menschen wohnen, wurden 102 auf das Virus positiv getestet. Alle BewohnerInnen dürfen den Wohnkomplex nicht verlassen – die Stadt hat ihn sogar mit Bauzäunen verbarrikadiert. Am Wochenende versuchten BewohnerInnen, aus ihrem unfreiwilligen Gefängnis zu entkommen; lokale Medien berichten von Steinen und Autoreifen, die auf die Polizei heruntergeworfen wurden.

Es ist unwahrscheinlich, dass eine Stadtregierung gediegene Wohnviertel mit Zäunen zusperren würde. Eine Masseninfektion in diesen Vierteln ist eher ausgeschlossen, weil es sich dort luftiger wohnt. Aber selbst wenn es dort viele Infizierte gäbe: Eine Stadt würde sich nie trauen, solche BewohnerInnen einzusperren, und wenn doch, würden diese sich per Anwalt wehren; mit geworfenen Autoreifen müssen sie sich nicht die Hände schmutzig machen.

Jede größere Stadt hat so ein „Haus 9a bis c“. In den 60er und 70er Jahren hochgezogen, sind diese Häuser irgendwann zum Notaufnahmelager für all jene geworden, die die Mehrheitsgesellschaft in ihren Reihen nicht haben will: dauerhafte Hartz-IV-EmpfängerInnen, mittellose MigrantInnen, im Göttinger Fall viele Sinti und Roma.

Wutausbruch als Hilfeschrei

Göttingen hat im Stadtrat seit Jahrzehnten eine linke Mehrheit, der Oberbürgermeister ist von der SPD. Die Sozialdezernentin der Stadt sagte im schönsten SozialarbeiterInnensprech, man wolle die Situation „nicht gegen die Menschen gestalten, sondern mit ihnen“. Ein schöner Witz: Es ist die lokale Politik, die den Wutausbruch der BewohnerInnen, der eigentlich ein Hilfeschrei ist, zu verantworten hat.

Über Jahre hat sie wenig bis nichts getan, um für menschenwürdige Wohnbedingungen zu sorgen – was auch im Interesse der Gesundheit der BewohnerInnen wäre. Es ist bitter nötig, gegen auch nur latenten Rassismus und Ungerechtigkeiten vorzugehen. Doch sollten nicht nur „die Anderen“ im Blick stehen: Es lohnt sich, auch bei den politisch Verantwortlichen im eigenen Milieu, in linken Uni-Städten etwa, genauer hinzuschauen.

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ist Redakteur im taz-Ressort Meinung.
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13 Kommentare

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  • Trotzdem ist die Abriegelung sinnvoll. Das Virus an sich interessiert sich leider nicht für Politik

    • @Vincent Braun:

      Nur... so nicht.

  • Habe selbst in dem Viertel gewohnt und kann mich Heinrich Heine nur anschließen, der in seiner Harzreise über Göttingen schreibt: „Die Stadt selbst ist schön und gefällt einem am besten, wenn man sie mit dem Rücken ansieht.“ (Furchtbar inkompetente Stadtplanung und Stadtverwaltung, der die Bedürfnisse ihrer Bewohner völlig egal zu sein scheinen.)

  • Zitat: „Es lohnt sich, auch bei den politisch Verantwortlichen im eigenen Milieu, in linken Uni-Städten etwa, genauer hinzuschauen.“

    Steile These, die Gunnar Hinck da aufstellt! Fragt sich vor allem: Für wen kann es sich lohnen?

    Das sind zunächst mal die in „ihrem“ Wohnblock Internierten. Was hätten die davon, „genauer hinzuschauen“? Was könnten denn nachher anfangen mit den eventuellen Erkenntnissen? Vermutlich nichts. Sie haben keine Mittel an der Hand, mit denen sich gewaltfrei etwas ändern ließe. Und für Gewalt würden sie einfach weggesperrt.

    Wie also sieht es mit der sogenannten Mehrheitsgesellschaft aus? Welchen Anlass etwa hätten Bewohner eines “Spekulantenhügels“, das eigene Corona-Risiko zu vergrößern, in dem sie gleiches Recht für alle fordern von Leuten, die sie grade fein in Frieden lassen? Ich fürchte: keinen, den sie sehen müssen.

    Was aber hätten die politisch Verantwortlichen von Selbstkritik? Sie tun vermutlich jetzt schon alles, was sie tun können. Was besseres ist ihnen offenbar nicht eingefallen. Sie könnten also nur zurücktreten - von wegen Unfähigkeit. Und was wär‘ dann? Dann wären sie womöglich morgen nicht mehr ganz so wichtig, dafür aber gefährdeter.

    Kann die Justiz von sich aus vielleicht aktiv handeln? Oder eine Verwaltung, die das bisher unterlassen hat? Sie könnte, sicher, doch zu welchem Preis?

    Bleibt letztlich nur die „Freie Presse“. Und die wird sich auch ganz schwer hüten, fürchte ich. Sie hat gerade jede Menge eigne Sorgen. Die Konkurrenz verdient mit Populismus Geld, der Kunde möchte gerne König sein und alle Machthaber sind ohnehin schon lange überzeugt, sie würden ganz zu Unrecht ständig angegriffen.

    Ich sehe also derzeit grade niemanden, für den ein Blick nach oben sich rentiert. Außer natürlich Gunnar Hinck. Und mich. Aber wir zwei sind höchstwahrscheinlich nicht genug.

    • @mowgli:

      Zuständig sind die Gesundheitsämter. Diese hätten ihre Kapazitäten (etwa über Verträge mit niedergelassenen Instituten) erweitern können. Hingegen darf die Justiz von sich aus nicht tätig werden: zu "Kann die Justiz von sich aus vielleicht aktiv handeln?"

  • Danke für diesen klaren und besonnenen Artikel.

    • @Crisanto:

      Wieso?

      Es ist die übliche Aufmachung. Von einem Ereignis wird über Heranziehen von anderen Bilder zu einem generellen Ende gekommen, ohne dass die Einzelpunkte direkt miteinander verküpft sind.

      So sind auch schon Einfamilienhäuser unter Quarantäre gestellt worden. Nichts mit Anwalt.

      Was soll die Stadt an der Wohnsituation machen? Im Privateigentum eingreifen und Wohnungen sanieren? Eigentum beschlafnahmen? Was könnte dafür ein rechtsfester Grund sein?

      Eine Stadt kann Diskriminierungen vorbeugen. Aber was ist an der Quarantäre diskrininierend?

      • @fly:

        Was daran diskriminierend ist?



        Dass es eben nicht ein einzelnes Einfamilienhaus mit Garten ist, sondern ein ganzer Häuserblock.



        Dass die Quarantäne sich nicht auf das erforderliche Maß reduziert sondern alle Bewohner des Quartiers betroffen sind.



        Dass eben nicht ein gesamtes Wohngebiet mit Eigenheimen durch Zäune abgeriegelt werden würde.



        Dass im Eigenheim-Setting sowohl innerhalb als auch außerhalb des Hauses bedeutend mehr Raum für die Eingeschlossenen bestünde.



        Dass die in Göttingen eingesperrten Menschen offensichtlich schlecht mit Lebensmittel versorgt sind und sich nicht selbst versorgen können.



        Ich bin ganz sicher, dass man so mit ihnen umgeht, weil sie eben kaum Möglichkeiten haben, ihre Rechte einzufordern.



        Wenn, dass Sie sowas für sich auch nicht akzeptieren würden?

      • @fly:

        "Was könnte dafür ein rechtsfester Grund sein?"



        - Artikel 1 des Grundgesetzes

        • @Christoph Buck:

          Inwiefern kann der Art. 1 GG hier die Rechtsgrundlage bieten? Das müssten sie mir dann doch erläutern.

          • @Vespasian:

            Artikle 1(1) GG: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. "

            In den Unterkünften in Göttingen Grone ist menschenwürdiges Wohnen nicht möglich. Ich habe bis 2013 selbst in der direkten Nachbarschaft gewohnt. Die Zustände spotten jeder Beschreibung! Es handelt sich hierbei um Elendsquartiere der übelsten Sorte. Mir sind in der BRD keine Häuser bekannt, die nur annähernd so schlimme Zustände herrschen. (was nicht heißen soll, dass es in anderen Städten kein ähnlichen Quartiere gibt)

      • @fly:

        Quarantäne ist ein sachliches Ereignis nach einer festgestellten Infektion. Das dauert 2 Wochen und gut ist. Wenn dieses Haus ein schlechter Ort zum Leben ist, so hat damit die Stadt nicht zu tun. Das Wort Diskriminierung passt hier überhaupt nicht.

        • @Monika Frommel :

          Wenn von allen dort Getesteten 20% infiziert sind und 80% nicht, dann rechtfertigt es m.E. nicht die Mehrheit der Gesunden für 2 Wochen einzusperren.

          Außerdem müsste die Behörde, die die Quarantäne anordnet, auch die Versorgung mit Lebensmitteln und Körperpflegeprodukten organisieren, auf Kosten der Behörde natürlich.

          Aktuell ist es aber so, dass die Leute in Quarantäne eingesperrt werden und sich selbst überlassen, ohne Versorgung.