: „Ist Borkum nicht auch ganz schön?“
Die Deutschen verreisen immer mehr, immer weiter. Selbst das Coronavirus wird die Reiselust nur kurzfristig bremsen, sagt der Tourismusforscher Martin Lohmann. Auch wenn die gesellschaftliche Reaktion auf das Virus erstaunlich sei
Interview Edith Kresta
taz am wochenende: Herr Lohmann, 26 Prozent der Deutschen, so die Reiseanalyse der Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen e. V., machten 2019 Urlaub im eigenen Land. Werden wir uns diesen Sommer unter eingeschränkten Reisemöglichkeiten an der Ostsee tottrampeln?
Martin Lohmann: Wenn man rein rechnerisch davon ausgeht, dass von den 70 Millionen Urlaubsreisen, die die Deutschen machen, nicht 19 Millionen wie jetzt in Deutschland bleiben, sondern 45 Millionen, dann würde das schon ganz schön voll werden.
Wohin mit unseren Reisewünschen?
Der Urlaub im Jahr 2020 wird weniger durch die Reisewünsche geprägt als durch die Möglichkeiten. Und momentan sind die gleich null. Man kann sich vorstellen, dass es langsam eine „Befreiung“ geben wird und zuerst Reisen im eigenen Land möglich werden. Die Nachfrage für Deutschland wird da klar steigen.
Viele Angebote in Deutschland wie Wander- und Fahrradwege und Nationalparks, die zur Verfügung stehen, sind bis auf wenige Hotspots kaum genutzt.
Ja, das ist das typische „Hotelschwimmbad-Problem“. Es gibt viel Angebote, aber sie werden nicht stark genutzt. Das gilt auch für manche Wanderwege, Museen und dergleichen. Aber der Deutschlandtourismus hat sehr an Angebotsumfang und Qualität gewonnen. Das gibt jetzt Spielraum für eine stärkere Nachfrage.
Wie reisen die Deutschen?
Sie reisen gern und viel. Der Anteil der Urlaubsreisenden in der Bevölkerung war 2019 auf einem Höchststand, auch die Zahl der Reisen. Das Reisen ist eine sehr wichtige gesellschaftliche Erscheinung. Wie die Leute mit dem Nichtreisenkönnen fertig werden, müssen wir sehen.
Sind wir urlaubsversessen?
Die meisten Menschen machen nur eine Urlaubsreise, manche dazu noch Kurzurlaubsreisen. Es ist durchaus nicht so, dass alle ständig unterwegs sind. Aber sehr viele sind ab und zu unterwegs. Dabei stehen immer mehr Auslandsziele im Vordergrund, trotz aller Beliebtheit des Inlands.
Fernreisen nehmen also zu?
Ja, insgesamt nehmen die Distanzen zu. Also die Flugreisen gingen bis 2019 zu immer weiter entfernt liegenden Zielen. Etwa Ägypten statt Mallorca, die Türkei statt Italien. Hinzu kommt: Die Wünsche überwiegen die Möglichkeiten. Wir haben den multioptionalen Konsumenten. Man findet sehr viel interessant, was man an Urlaubsreisen machen könnte, vielmehr als man in einem Jahr zu bewerkstelligen in der Lage ist. Das führt zu einer hohen Flexibilität. Wenn das Reiseziel A wegen Terror nicht verfügbar ist, dann fahre ich eben nach B, das hat mich auch schon immer interessiert. Es ist wie ein Kind mit dem Legokatalog, es wird alles angekreuzt, weil eigentlich alles interessant ist.
Reiseanalyse
Dafür werden jährlich mehr als 12.000 Interviews geführt. 2019 sind die Deutschen häufiger und teurer in den Urlaub gefahren als noch im Vorjahr. Die Zahl der längeren Urlaubstrips mit einer Dauer von mindestens fünf Tagen stieg laut der Studie im Auftrag der Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen e. V. (FUR) im Vorjahresvergleich leicht auf geschätzt 71 Millionen, die Gesamtausgaben für diese Reisen um 3 Prozent auf rund 73 Milliarden Euro. Dazu gab es noch etwa 92 Millionen Kurzurlaubsreisen mit einer Dauer von 2 bis 4 Tagen für rund 25 Milliarden Euro. Die Kreuzfahrtbranche verzeichnete rund 9 Prozent mehr Buchungen, die Flughäfen rund 2 Prozent mehr Passagiere. Das Top-Reiseziel der Deutschen 2019 war das eigene Land, rund 30 Prozent der Urlauber wollen innerhalb der Bundesrepublik verreisen. Dahinter lagen Spanien, Italien, die Türkei und Österreich als weitere Top-Ziele.
Buchtipp für Deutschland
Kein Angst vor Urlaub in Deutschland, es ist ein attraktives Reiseland. Unsere taz-Autor*innen erzählen ihre Geschichten aus Deutschland in der überarbeiteten Neuauflage unseres Reiseführers „Deutschland für Eigensinnige[2]“. Das Bauhaus kommt aus Weimar, Chemnitz war eine der interessantesten Industriestädte Deutschlands, und das Ruhrgebiet hat seine Bergbauhalden künstlerisch aufgehübscht. Wir entdecken die älteste Kunst der Menschheit, führen mit Rad und Boot durch die Natur und verschmähen keinen kulinarischen Genuss am Wegesrand.
„Deutschland für Eigensinnige[2]“, herausgegeben von Edith Kresta und Brigitte Marquardt, Berlin 2019, 199 Seiten, 14 Euro
Die Ziele sind also völlig austauschbar?
Natürlich sind sie nicht identisch, im Hinblick auf das Interesse ist die Antwort aber: ja. Diese Flexibilität ist vielleicht auch ein Segen, wenn in diesem Jahr nicht so viel Auswahl zur Verfügung steht.
Wie ist das Verhältnis von Pauschal- zu Individualreisen?
Das Verhältnis ist undurchsichtiger geworden, weil sich die Reisen nicht mehr so unterscheiden lassen. Fakt ist: Die Pauschalreisen sind im vergangenen Jahr nicht zurückgegangen trotz Thomas-Cook-Pleite und dem wachsenden Trend, sich die Reise nicht vorsetzen zu lassen. Das liegt daran, dass die Reiseveranstalter ihre Angebote immer mehr zuschneiden auf die individuellen Bedürfnisse. Der Reisende ist als Pauschalreisender nicht mehr erkennbar.
Sehen Sie das Reisen durch den Corona-Stillstand bedroht?
Nein, nicht durch Corona. Wenn, dann durch die gesellschaftliche Reaktion auf das Virus. Es wird jetzt als ungeheuer bedrohlich wahrgenommen, und wir haben in Deutschland und anderswo Maßnahmen akzeptiert, die bis vor wenigen Monaten völlig undenkbar gewesen wären. Das hinterlässt natürlich Spuren. Aber wegen der vielen positiven Wirkungen des Reisens werden wir auf Tourismus nicht verzichten. Und neben den persönlichen positiven Aspekten für die Reisenden gibt es natürlich auch die wirtschaftlichen Effekt in den Zielländern, was deren Entwicklung und vor allem den Arbeitsmarkt angeht.
Flugreisen haben kontinuierlich zugenommen, ebenso die Kritik daran. In welchem Spannungsverhältnis steht das?
Wir hatten im letzten Jahr trotz der Kritik an der Klimaschädlichkeit des Fliegens mehr Flugreisen als je zuvor. Viele Touristen haben zwar ein ungutes Gefühl beim Fliegen, aber das führt nicht dazu, dass das Verhalten über Bord geworfen wird.
Nach ihren Erhebung sagen 38 Prozent der Befragten, sie hätten eine positive Einstellung zu ökologischen und sozialverträglichen Urlaubsreisen.
Ja, aber andere Dinge sind auch wichtig: in die Sonne kommen, Zeit mit der Familie genießen, etwas anderes erleben, sich erholen. Wenn ich nur eine Einstellungen abfrage, dann gibt es meistens einen Graben zwischen Einstellung und Verhalten. Das sehen wir eben auch bei der Nachhaltigkeit.
Die Menschen handeln also gegen ihre Überzeugung?
Ja und nein; sie sind im Konflikt, da sie unterschiedliche Einstellungen haben und am Ende nur ein Verhalten zeigen können. Das fällt bei der Nachhaltigkeit besonders auf, ist aber nicht auf Nachhaltigkeit begrenzt. Ich reise, um Spaß zu haben, um mich zu erholen, neue Länder kennenzulernen, meine Neugierde zu befriedigen; dann ist Nachhaltigkeit nur eine Bedingung.
Wer ist für die Nachhaltigkeit verantwortlich?
Alle, die an der Kette beteiligt sind. In erster Linie der Anbieter, also etwa das Hotel und wie es mit Müll, Wasser, Essen und Transport umgeht.
Ändert sich das Reiseverhalten bei jüngeren Menschen?
Nein. Dass es bei jungen Erwachsenen heute eine Struktur gibt, die anders wäre als bei den Erwachsenen vor 20 Jahren, ist nicht sichtbar. Sie reisen eher weiter weg.
Haben die letzten Wochen nicht gezeigt, dass wir zu erstaunlichen Verhaltensänderungen fähig sind?
Martin Lohmann
63, ist seit 1991 Leiter des Kieler Instituts für Bäder- und Tourismusforschung in Nordeuropa (NIT) und Professor für Wirtschaftspsychologie an der Leuphana Universität in Lüneburg. Der Diplom-Psychologe und sein NIT-Team erstellen im Auftrag der Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen (FUR) jedes Jahr die Reiseanalyse. Sie gibt Auskunft über das Reiseverhalten in Deutschland.
Ja. Es hat Jahrzehnte nicht funktioniert mit der Nachhaltigkeit. Diese Diskussion im Tourismus begleitet uns ja schon seit den 80er Jahren. Plötzlich scheint es mit den Verhaltensänderungen zu funktionieren, wenn man zunächst Angst vor einer großen Gefahr aufbaut und dann amtliche Regeln zur Verminderung der Gefahr aufstellt.
Wäre eine Regelung denkbar, nur alle drei Jahre eine Fernreise zu buchen?
Wenn man von amtlicher Seite auf die Gefahren der Klimakrise mit demselben Druck hinweisen würde wie auf die Gefahren des Coronavirus, dann träfe das sicherlich auf eine gewisse Akzeptanz. Die aktuellen Entwicklungen lassen das wahrscheinlich klingen. Ob das politisch wünschenswert ist, ist eine andere Frage.
Es gibt Fridays for Future und ein Unbehagen am Reisen – wird das unser expansives Reiseverhalten ändern?
Wie gesagt, bis zum Ende des vergangenen Jahres war in dieser Hinsicht keine Hoffnung – trotz des Einhämmerns, Reisen umweltfreundlicher zu gestalten oder sogar ganz zu unterlassen. Im Gegenteil, alle Anstrengungen um Nachhaltigkeit wurden aufgefressen, weil Menschen immer mehr reisten. Für die Zeit nach Corona kann ich mir vorstellen, dass es so eine Art Besinnungseffekt gibt. Kann ich meinen Strandaufenthalt nicht auf Borkum machen statt auf Tahiti? Und ist Borkum nicht auch ganz schön? So könnte das Reisen klimaschonender und naturnäher werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen