Corona und die Wirtschaftsfolgen: Wider den Wachstumsfetisch
Corona lehrt uns, dass es politisch möglich ist, die Wirtschaft runterzufahren.
J etzt ist die Zahl raus: Die Wirtschaftsforschungsinstitute prognostizieren für das zweite Quartal 2020 einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts in Deutschland um 9,8 Prozent. Das ist der stärkste Quartalsrückgang seit Beginn dieser Messung im Jahr 1970 – und doppelt so viel wie während der Finanzkrise im ersten Quartal 2009. Anders als bei der Weltfinanzkrise handelt es sich dieses Mal um eine bewusste Wachstumsrücknahme:
Die Schrumpfung wurde politisch beschlossen für ein höheres Ziel als Wirtschaftswachstum, nämlich um Menschenleben zu retten. Eine große Mehrheit der Bevölkerung trägt diese Entscheidung unter Inkaufnahme hoher persönlicher Verluste mit. Ist das nun eine Postwachstumsökonomie? Im „Konzeptwerk Neue Ökonomie“ arbeiten wir seit Langem über Möglichkeiten einer Wirtschaft ohne Wachstum, einer Degrowth-Gesellschaft. Und wir müssen klar sagen:
Nein, was wir aktuell sehen, ist keine Postwachstumsgesellschaft. Denn eine Degrowth-Wirtschaft will ein gutes Leben für alle Menschen, ist krisenfest und ökologisch nachhaltig. Die aktuelle Situation ist eine kapitalistische Wirtschaftskrise. Sie verschärft Ungleichheiten und Ausgrenzung. Sie bedroht Millionen Menschen existenziell, weil die Sozialsysteme nicht vom Wachstum entkoppelt sind. Trotzdem zeigt die Coronakrise eines, das wir für die Zeit danach nicht vergessen sollten:
Es ist politisch möglich, für ein höheres Gut die Wirtschaft zurückzufahren. Niemand kann mehr sagen, eine Reduktion von Inlandsflügen, um dadurch das Klima zu schützen, sei unmöglich. Die Bedeutung von Sorgearbeit – im Gesundheitsbereich, in der Kinderbetreuung oder der Hausarbeit – wird gerade in dieser Krise vielen Menschen bewusst. Weil Sorgearbeit so zentral wichtig für ein gutes Leben für alle ist, steht sie in einer Postwachstumsgesellschaft im Zentrum.
Die Krise zeigt, dass radikale Veränderungen machbar sind
Dort ist sie besser bezahlt, gesellschaftlich anerkannt und geschlechtergerecht verteilt. Anerkennung von Sorgearbeit baut globale „Sorgeketten“ ab. Die Menschen sind dann lokal gut versorgt und nicht auf prekarisierte Arbeitsmigrant*innen angewiesen, die eine Lücke in ihren Familien und Herkunftsorten hinterlassen, um in reicheren Ländern zu arbeiten. Im Homeoffice stellen gerade viele Menschen fest, wie zeitintensiv Sorgearbeit ist.
Eine radikale Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich für untere und mittlere Lohngruppen ist deshalb eine Kernforderung von Degrowth. Sie verteilt das in Deutschland sehr ungleiche Einkommen und damit Macht um. Aus Degrowth-Perspektive ist Arbeitszeitverkürzung auch wünschenswert, um die Wirtschaft wachstumsunabhängiger und stabiler zu machen:
Wenn mehr Menschen weniger arbeiten und ressourcenintensive Maschinen, wo es sozialökologisch sinnvoll ist, zurückgebaut werden, dann müssen weniger Menschen entlassen werden, wenn die Wirtschaft schrumpft. Vermögen und Energieverbrauch müssen viel höher besteuert werden als Arbeit, damit es unattraktiv wird, viel Kapital in Maschinen zu investieren.
Diese Krise zeigt erneut, dass nur ein Rückgang des BIPs zu einem ausreichend schnellen Absinken der Umweltbelastungen und des CO2-Austoßes führt, um dem Klimawandel wirksam zu begegnen. Eine ausreichende Entkopplung von CO2-Verbrauch und BIP-Wachstum ist unmöglich. Deshalb fordert Degrowth einen umfassenden sozialökologischen Umbau der Wirtschaft, der auch mit einem Rückgang des BIPs in den Ländern des globalen Nordens einhergeht.
Wir dürfen nach der Krise nicht zur sozial ungerechten und ökologisch zerstörerischen Wachstumswirtschaft zurückkehren. In einem Degrowth-Szenario gibt es daher keine Rettungsaktionen für fossile Industrien. Stattdessen muss ein Investitionsprogramm für Klimagerechtigkeit gemeinwohlförderliche Wirtschaftsbereiche stärken. Diese sollen wachsen und im Sinne eines sozialökologischen Strukturwandels Arbeitskräfte aus schrumpfenden Wirtschaftszweigen aufnehmen.
Globale Produktions- und Lieferketten sind krisenanfällig
Die Corona-Wirtschaftskrise zeigt, dass globale Produktions- und Lieferketten nicht nur menschenrechtlich und ökologisch viele Probleme mit sich bringen, sie sind auch sehr krisenanfällig. Deshalb müssen sie lokaler gestaltet werden. Im Sinne eines offenen Lokalismus darf eine lokalere Wirtschaft jedoch nicht einen Nationalismus befeuern, wie die derzeitige Engführung des Solidaritätsbegriffs befürchten lässt.
In einer solidarischen Postwachstumsgesellschaft ist Bewegungsfreiheit für Menschen, egal in welchem Land sie geboren wurden, ein Grundrecht. „Entweder wir entscheiden uns für ein Projekt des Lebens und der Sorge umeinander oder für eines der beschleunigten gesellschaftlichen Zerstörung“, schreibt Raul Zelik in der WOZ.
Jetzt ist die Zeit, alles dafür tun, dass die Krise keinen autoritäreren Kapitalismus hervorbringt, der unsere Gesellschaften und Ökosysteme schneller destabilisiert und eine große Transformation zunehmend verunmöglicht. Jetzt ist die Zeit, eine breitere demokratische Beteiligung in einem transparenteren Corona-Krisenmanagement zu erkämpfen. Dieses wird nicht morgen vorbei sein.
Es ist die Zeit, Diskussionen über alternative Gesellschaftsentwürfe und Politikvorschläge wie Ernährungswende, Verkehrswende, Mobilitätswende und viele mehr zu vertiefen. Diese Krise macht deutlich, dass radikale Veränderungen unserer Lebens- und Produktionsweise möglich sind und von einer breiten Mehrheit getragen werden können. Bei einer sozialökologischen Transformation gibt es für die meisten Menschen viel zu gewinnen.
Die Klima- und Gerechtigkeitskrise auf diesem Planeten ist allein technisch nicht zu lösen: Das ist ein politisches und kulturelles Projekt. Jetzt ist die Zeit für den demokratischen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft im Sinne eines guten Lebens für alle.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Klimaziele der EU in weiter Ferne
Neue Klimaklage gegen Bundesregierung
Serpil Temiz-Unvar
„Seine Angriffe werden weitergehen“