Coronapandemie in der Provinz: Die Lage auf dem Land
Der brandenburgische Landkreis Märkisch-Oderland kämpft gegen Corona – und bleibt dabei gelassen.
V ier Wochen ist es her, dass die globale Seuche auch über Seelow hereinbrach. Die Kleinstadt liegt im Osten Brandenburgs und gehört zum Landkreis Märkisch-Oderland (MOL), der sich von Berlin bis nach Polen zieht. Als hier die ersten 26 Fälle gezählt wurden, schaltete MOL in den Krisenmodus. Das war am 17. März.
Einer der wichtigsten Menschen im Landkreis ist seitdem Martin Zohles. Der leitet das Zivil-, Brand- und Katastrophenschutzamt, für das sich in normalen Zeiten niemand interessiert. Aber die normalen Zeiten sind vorbei. Zohles ist 33, hochaufgeschossen, trägt Seitenscheitel. Er war lange Jahre Amtsbrandmeister und auch mal Linken-Fraktionsvorsitzender in der Nachbargemeinde Neuhardenberg. Jetzt koordiniert den Notfall. Zohles Büro liegt in einem modernen Mehrzweckgebäude im Gewerbegebiet von Seelow. Die Freiwillige Feuerwehr ist direkt nebenan. 13 Mitarbeiter*innen arbeiten für Zohles Katastrophenamt.
„Wir könnten hier übernachten, falls wir in Quarantäne müssen. Ein Bett für jeden ist da, Zahnbürsten auch“, sagt er. Aber noch ist das nicht nötig. Im ersten Stock befindet sich der Lageraum, drei große Leinwände zeigen, was wichtig für die Lage ist: Rettungsfahrten, Intensivbetten, Quarantänefälle, Coronakranke. 68 sind es an diesem Tag. „Die Kurve geht nicht mehr hoch“, sagt Zohles. „Das hat sich halbwegs eingependelt, wir versuchen das so zu halten.“
Auch sonst ist die Lage eher unkritisch. Rund 5.000 Einwohner*innen leben in Seelow, in ganz Märkisch-Oderland sind es knapp 200.000. 29 Intensivbetten gibt es im Kreis, 21 sind frei. Zehn Krankenhausmitarbeiter*innen und zwei Feuerwehrleute haben sich infiziert. Selbst bei einem Waldbrand wären noch genug übrig, um zu löschen, versichert Martin Zohles. Auch die Notfallausstattung sei gesichert.
36.000 Schutzmasken warten im Katastrophenschutzlager des Landkreises auf ihren Einsatz. „Die meisten haben wir noch von der Geflügelpest und Sars übrig behalten, und dann immer mal so ein bisschen was dazu gekauft, wird ja nicht schlecht“, sagt Martin Zohles.
Die Viruskrise erschüttert Großmächte und Weltkonzerne, die meisten traf sie unerwartet. Sie hatte Folgen, die noch vor sechs Wochen völlig unvorstellbar waren. Wie geht ein Landkreis, dessen schlimmste Katastrophe bislang das Oderhochwasser war, mit einer solch historischen Herausforderung um? Lässt sich hier im Kleinen beobachten, wie eine Krise bewältigt werden kann? Und lassen sich daraus Rückschlüsse für andere Regionen ziehen?
Vier Tage, in der Osterwoche, waren die taz-Reporter*innen, allein oder zu zweit, in Märkisch-Oderland unterwegs, und blieben dabei auf Abstand. Fuhren morgens nach MOL und am Abend wieder zurück nach Berlin. Sie begleiteten einen Landrat und eine Krankenschwester, besuchten Behörden, saßen in Sitzungen des Krisenstabs und beobachteten im Detail, wie sich ein Landkreis auf den Ausnahmezustand vorbereitet.
Der Koordinator
Gelbe Punkte zeigen die Corona-Verdachtsfälle auf einer digitalen Karte. Grün sind die Genesenen, rot die aktuell Kranken. „Die Leute wollen dauernd wissen, wo die Kranken wohnen“, sagt er. „Das machen wir nicht.“ Veröffentlicht wird nur eine geclusterte Karte, die zeigt, wo sich Fälle häufen. Der Westen des Landkreises, der hinter der Stadtgrenze Berlins beginnt, ist eine einzige gelbe Fläche. Eine Theorie dazu: Angestellte expandierender Berliner Firmen waren zum Skifahren in Österreich und Südtirol.
Über die Verwaltung, Behörden, Beamte haben sich vor allem zwei Befunde im öffentlichen Bewusstsein abgelagert. Der eine: Sie seien behäbig und ineffizient, wenn nicht gar korrupt, abgewandt vom Bürger und in ihrer Paragrafenfixiertheit irrational. Der andere: Durch Neoliberalismus und Schuldenbremse sei der Staat kaputt gespart und nicht mehr leistungsfähig. Sollte dem so sein, müsste dies in dieser Krise voll durchschlagen. Doch das Gegenteil ist der Fall.
Martin Zohles
Um alle Verdachtsfälle ausfindig zu machen, hat der Landkreis das Gesundheitsamt von 12 auf über 80 Mitarbeiter*innen aufgestockt. Lebensmittelkontrolleure, die sonst Restaurants überprüfen, telefonieren jetzt Verdachtsfällen hinterher. Bei 80 Prozent aller Kranken ist es ihnen gelungen, durch schnelles Eingreifen den Infektionsweg nachzuvollziehen.
Wächst die Verwaltung im Ernstfall über sich hinaus? Wurde nur der Katastrophenschutz als ein Krieg und Militär verwandter Bereich von Sparmaßnahmen immer ausgenommen und funktioniert deshalb so gut? Oder zeigt sich hier, dass der öffentliche Dienst viel besser ist als sein Ruf?
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Zahlen, Excel-Tabellen, Karten: Die Seuche, ihre Auswirkungen und Entwicklung, gerinnen im Lageraum des Katastrophenschutzes zu konkretem Wissen. Und je mehr es davon gibt, desto eher scheint Aufregung routiniertem Pragmatismus zu weichen.
Martin Zohles reicht zur Begrüßung die Hand, der Kreis hat nicht den Katastrophenfall ausgerufen, sondern nur den „Stabsfall“, ein Kaliber darunter. Zohles hat seinen Leuten auch keine Urlaubssperre verpasst. Corona werde sie noch eine Weile begleiten, sagt er, „da braucht man auch mal frei.“ Denn dass die Lage heute entspannt ist, heißt nicht, dass das so bleibt. „60 Erkrankte sind nicht viel. Aber es darf keinen sprunghaften Anstieg geben.“
Zohles geht davon aus, dass der Ernstfall noch kommen könnte. Und dann? Der Kreis hat mit den Krankenhäusern beraten, wie die Bettenzahl erhöht werden könnten. Zu den „Worst-Case-Szenarien“ gehört auch, ein Flüchtlingsheim wegen Corona dichtmachen zu müssen. Dann bräuchte es sofort einen neuen Ort, um die Menschen in Quarantäne unterzubringen. „Zur Not akquirieren wir Turnhallen“, sagt Zohles.
Reicht das? „Meine Frau fragt jeden Abend, warum es keine komplette Ausgangssperre gibt“, sagt Martin Zohles. Hat sie recht? „Ich schätze, dass das, was getan worden ist, schon was gebracht hat.“
Der Landrat
Gernot Schmidt, 58, gelernter Agrartechniker und SPD-Mitglied, ist seit 2005 Landrat von Märkisch-Oderland. Er ist oberster Dienstherr des Landkreises MOL und damit auch Kopf von kreiseigenen Einrichtungen wie Rettungsdiensten und des Katastrophenschutzes. Schmidt ist weisungsbefugt, „aber auch persönlich haftbar, anders als in Berlin“, wie er betont. Wenn Gernot Schmidt etwas verbockt, könnten Geschädigte Rechtsansprüche geltend machen.
Könnten. Schmidt gibt sich hemdsärmelig und selbstbewusst. Ein Provinzregent, der sich auch schon mal quer zur Landesregierung stellt.
„Der Buschkowsky Brandenburgs“ nannte ihn die Märkische Allgemeine Zeitung (MAZ), der in der sogenannten Flüchtlingskrise striktere Regelungen einführte, als die Landesregierung vorschrieb.
„Wir grenzen niemanden aus“, sagt Schmidt und spielt damit auf die Entscheidung anderer Landkreise an, Berliner*innen den Ausflug ins Umland zu verbieten. Wies Märkisch-Oderland anfangs die höchste Quote an Coronakranken in Brandenburg auf, rangiert der Landkreis mittlerweile auf Platz vier oder fünf.
Wie erklärt sich Schmidt dies? „Weil wir eine eigene kommunale Struktur haben, können wir anders durchgreifen.“ Der Landkreis hat in den letzten Jahren in die Daseinsvorsorge investiert. In eigene Krankenhäuser, Rettungsdienste und medizinische Versorgungszentren. Für den Notfall sei der Landkreis gut aufgestellt, sagt Schmidt.
Bereits Mitte Februar hat er einen Krisenstab einberufen, jeden Morgen gibt es eine Telefonkonferenz. Was müsste passieren, damit der Katastrophenfall ausgerufen wird? „Wenn wir nicht mehr in der Lage sind, mit den jetzigen Ressourcen die Lage zu steuern“, sagt Schmidt. Sein Referent präzisiert: „Unser Bestreben ist es, möglichst vor der Lage zu sein.“
Der Krisenstab
Mittwochs tagt der Krisenstab in persona. Ein knappes Dutzend Mitarbeiter des Landkreises, der Polizei und des kreiseigenen Rettungsdienstes warten im obersten Stockwerk des Landratsamts Seelow. Martin Zohles, der Katastrophenschützer, sitzt mit Landrat Schmidt am Kopfende. Die Vertreter der Polizeiinspektion in Strausberg sind noch nicht da. Angela Krug, die Leiterin der kreiseigenen Krankenhausgesellschaft, kommt herein. „Ihr tragt ja alle gar keine Masken“, sagt sie. Sie ist die Einzige im Raum mit Mundschutz vor dem Gesicht.
„Wir haben keine“, sagt Landrat Schmidt.
„Aber ich“, sagt Krug. 55.000 Masken sind am Vortag im Krankenhaus angekommen.
Auch Friedemann Hanke sitzt mit am Tisch. Er leitet den Fachbereich Soziales des örtlichen Gesundheitsamt. „117 Fälle gegenüber 86 in der Vorwoche“, liest er vor. „Stetiger Zuwachs, aber nicht in beunruhigendem Maße.“ Problematisch ist eher, dass zwei der neuen Fälle in der Fachklinik und Moorbad Bad Freienwalde aufgetreten sind. Die 150 Patient*innen mussten nach Hause.
„Das Personal aus Bad Freienwalde werden wir heranziehen“, sagt Krankenhauschefin Krug. In der Nacht seien drei neue Beatmungspatienten eingeliefert worden. „Das springt jetzt nach oben.“ In den letzten Tagen hat Krug Stationen zu reinen Coronastationen umgewidmet. Deshalb fehlen ihr jetzt Schutzkittel.
„Wie lange reichen die Kittel noch?“, will der Landrat von Angela Krug wissen. „Bis Ostermontag jedenfalls nicht.“ Die Feuerwehr habe noch Kittel, wirft jemand aus der Runde ein. „Unpraktikabel, die sind extrem aufwendig zu desinfizieren“, sagt Krug. „Bevor die Leute da ungeschützt reingehen, müsstet ihr die im Feuerwehrtechnischen Zentrum desinfizieren“, sagt der Landrat zu Martin Zohles. Der nickt.
Auch bei den Rettungsdiensten macht Corona sich jetzt bemerkbar. 15 Mitarbeiter*innen sind entweder infiziert oder stehen unter häuslicher Quarantäne. Eine Urlaubssperre gebe es noch nicht, aber Fortbildungen seien ausgesetzt und Rettungsassistenten-Azubis im zweiten Lehrjahr für den regulären Dienst eingeteilt, sagt der Leiter des Rettungsdienstes.
Sorgen macht ihm, dass viele der Corona-Einsätze nicht bezahlt werden. „Die Krankenkassen bezahlen den Rettungswagen nur, wenn er Kranke transportiert.“ Die meisten Coronapatienten aber bleiben erst mal in häuslicher Isolation. „Wenn das so weitergeht, machen wir in diesem Monat rund 250.000 Euro Verlust.“ Fachbereichsleiter Friedemann Hanke vom Gesundheitsamt will das Problem bei der Landesregierung ansprechen.
Mittlerweile ist die Polizei da. „Kaum ’ne Lage“ gebe es, sagt der Inspektionsleiter, kaum jemand verstoße gegen die Vorschriften.
Alle, die in diesem Raum sitzen, haben Macht. Der „Stabsfall“ hat diese noch erweitert. Um die Seuche zu bekämpfen, kann die Verwaltung Anordnungen und Verbote erlassen, die erst nachträglich gerichtlich überprüft werden können. Die Pandemie, der Schutz von Menschenleben, ist dafür eine starke Legitimation.
Manche im Land fürchten, diese könnte missbraucht werden, um durchzuregieren. Von „Totalitarismus“ und „Diktatur“ oder deren Vorbereitung ist in den sozialen Medien die Rede. Die Diskussionen im Landratsamt von Märkisch-Oderland haben mit diesen Debatten wenig zu tun.
Friedemann Hanke hat einen Bußgeldkatalog vorbereitet. „Aber wir müssen zusehen, dass wir damit nicht Denunziantentum Vorschub leisten“, sagt er in Richtung der Polizisten. „Die Ordnungsämter sind angehalten, mit Augenmaß zu agieren.“ Ob er eine Maskenpflicht in der Öffentlichkeit für angebracht halte, will jemand wissen. „Wie in Jena?“, fragt Hanke. „Wir können den Leuten das nicht vorschreiben, wenn wir nicht mal eine rudimentäre Versorgung mit Material anbieten können.“
Er schlägt dem Krisenstab vor, sich parallel schon mal auf die afrikanische Schweinepest vorzubereiten. Die stehe bald ins Haus. „Die Welt steht ja wegen Corona nicht still. Da werden wir Zäune ziehen müssen.“
Die Oberschwester
Das Abstrichzentrum ist ein Provisorium, untergebracht im Oberstufenzentrum Strausberg. Von außen ein Backsteinbau, innen hängen noch Winkelmesser und Zirkel für den Geometrieunterricht an der Wand. Das Abstrichzentrum war die Idee zweier Ärzt*innen, die lernten, wie aufwendig es ist, potenziell Infizierte in der eigenen Praxis zu testen.
Das mit der Feuerleiter war die Idee des zuständigen Hausmeisters. Dort steigt nun eine Frau hinauf, ein paar Stufen sind es, von dort beugt sie sich über die Fensterbank in das Klassenzimmer hinein, sie atmet schlecht. Die Ärztin wartet schon. Neben ihr steht Oberschwester Steffi Lindenau. Die Patientin keucht, als sie vom Asthma erzählt. Vom Sauerstoff, den sie zu Hause hat und täglich braucht.
Diese unsichtbare Coronagefahr bekommt auf der Feuerleiter von Haus 4 des Berufsschulzentrums ein Gesicht – ein Gesicht, dem Lindenau und ihre Kolleg*innen mit Schutzanzug und Gesichtsmaske, mit Handschuhen und viel Desinfektionsmittel gegenüberstehen.
20 Personen haben sie heute zusammen getestet, ob positiv oder negativ, dass erfährt Steffi Lindenau nicht. Warum sie das alles macht? „Man muss doch mit bestem Beispiel vorangehen“, sagt sie, und: „Vielleicht gibt es ja doch das Bundesverdienstkreuz.“ Darüber lacht sie.
Noch ist Corona nicht überstanden. Was passiert, wenn die Zahlen auch in Märkisch-Oderland wieder exponentiell steigen, wenn es wirklich eine Lage gibt?
„Von unserer Seite wird es keine Triage geben“, sagt der Landrat Schmidt. Für den Fall der Fälle haben sie ein Team rekrutiert, das aus einem Mediziner, einem katholischen und einem evangelischen Pfarrer besteht. Und wie um das mögliche moralische Dilemma angemessen zu beschreiben, fährt Schmidt mit großer Geste fort: „Wir sind der Meinung, dass man in der Katastrophe einen philosophischen Leitfaden braucht. Wir werden uns ihren Weisungen unterwerfen.“
Der Amtsarzt
Das Gesundheitsamt ist zum wichtigsten Teil der Kreisverwaltung aufgestiegen. Publikumsverkehr gibt es nicht, trotzdem herrscht auf dem Gang Betrieb, die Bürotüren sind geöffnet. Zwei Mitarbeiterinnen mit Laptops geben die Meldungen in eine Maske ein – Verdachts- und Infektionsfälle, genesene Kranke. Sie werden ans Landesamt für Gesundheit und von dort ans Robert-Koch-Institut weitergeleitet.
Die beiden arbeiten sonst in anderen Abteilungen der Kreisverwaltung. Ein Amt, das jetzt im Krisenmodus läuft. Auf einem Tisch an der Wand stehen Getränke, mitgebrachte Kuchenstücke und Süßigkeiten. Sie sorgen für sich und für einander.
Steffen Hampel
„Es ist toll, wie sich die Mitarbeiter reinknien“, sagt Amtsarzt Steffen Hampel. „Klar, ist das ein Stresstest.“ Die Anfänge seien holprig gewesen. Ständig hätten sich die Vorgaben von Bund und Land geändert, aber „inzwischen haben sich die Abläufe eingespielt“, sagt Hampel, der lange als Kinder- und Jugendarzt gearbeitet hat und seit 12 Jahren als Amtsarzt tätig ist. „Routine im positiven Sinn.“
Jetzt, da die Kurve nur noch linear ansteige, habe er Zeit, sich um „die besonderen Fälle“ zu kümmern, wie er sagt. „Die ganzen Verästelungen, die sich in einzelnen Fällen ergeben.“ Im Fall eines erkrankten Arztes waren es 150 Kontaktpersonen, die es aufzuspüren galt.
Die Krankenhäuser der Region, im Besitz des Landkreises oder freier Träger, arbeiten eigenverantwortlich – der Krisenstab steuert. Gerade wird in Rüdersdorf das vierte Abstrichzentrum eröffnet: Der Landkreis stellt die Schutzausrüstungen, das Krankenhaus das Personal. „Das funktioniert nur, wenn man Kontaktpflege betreibt“, sagt Hampel.
Wie viele Verantwortliche im Landkreis beklagt auch er das Fehlen von Schutzausrüstung. „An Anfang haben die Krankenschwestern mit Regencapes gearbeitet“, erzählt er. „Das ist mein größter Kritikpunkt, dass wir es in Deutschland nicht hingekriegt haben, selber Schutzkleidung zu produzieren.“
Wären zentralistische Strukturen hilfreich? „Per se ist Zentralismus in solchen Situationen günstiger“, sagt der Amtsarzt, „umso erstaunlicher, dass trotz föderaler Strukturen rechtzeitig der Schalter umgelegt werden konnte.“
Der Polizist
Polizeipräsidium Strausberg. Inspektionsleiter Sven Brandau ist am Vortag beim der Krisenstab in Seelow dabei gewesen. Wenn auch etwas spät. Auch er reicht zur Begrüßung die Hand. Kekse liegen auf dem Besprechungstisch. Seine Polizei arbeitet viel von zu Hause aus – es sei „ja nicht wie im,Tatort'.“ Es gibt viel Papierarbeit, und das geht auch zu Hause am Computer. Was wegfällt, sind Sprechstunden. Und Präventionsarbeit: Fahrradunterricht für Kinder, Besuche in Schulen.
Tatsächlich ändert sich die Polizeiarbeit durchaus. Einerseits durch andere Anforderungen – die Polizei leistet Amtshilfe für die Ordnungsämter, um die Coronaverordnung durchzusetzen. Derzeit mühen sich viele Bürger*innen ab, diese neuen Verordnungen zu verstehen: Was darf man und was nicht? Wie gehen die Polizisten damit um, mit Menschen, die im Verordnungswirrwarr nicht durchsehen? „Es geht um eine Umsetzung mit Augenmaß“, antwortet Brandau.
Und es treten andere Formen der Kriminalität auf: weniger Wohnungseinbrüche, weniger Verkehrsunfälle, dafür mehr Einbrüche in Unternehmen, um Werkzeuge zu stehlen beispielsweise.
Besonders ist auch: Die Polizei wird üblicherweise eingesetzt, um offene Haftbefehle zu vollstrecken. Die sind aber gerade auch ausgesetzt. Stattdessen kontrollieren die Polizisten nun, ob die Positivfälle ihre Quarantäne einhalten, wenn auch stichprobenartig – jede*r Betroffene wird nur einmal besucht.
Die Durchsetzung des Infektionsschutzgesetzes ist Sache des Gesundheitsamts, das wiederum das Ordnungsamt nutzen darf. Die Polizei unterstützt nur dabei. „Machen wir uns nicht vor“, sagt Brandau, „wir haben keine Lage. Ich wüsste auch nicht, welche Lage auf die Polizei zukommen sollte.“ Einzig denkbares Szenario wären für ihn Unruhen. „Aber dann ist nicht nur die Polizei gefragt, sondern in erster Linie die Politik.“
Die Amtsdirektorin
Roswitha Thiede ist Amtsdirektorin von Seelow-Land, einem Verwaltungsverbund von fünf kleinen Gemeinden mit insgesamt 4.800 Einwohner*innen. Wenn Gernot Schmidt ein Landrat im Großen ist, ist sie eine im Kleinen. „Die Zusammenarbeit mit dem Landkreis ist gut“, sagt sie „wir sind ja die letzten in der Kette.“ Thiede, 60, hat ihr Büro in einem Neubau gleich neben dem Rathaus von Seelow. „Unsere Bevölkerung ist gehorsam und sehr diszipliniert“, sagt sie. „Letztes Wochenende mussten wir keine einzige Verwarnung aussprechen.“
Könnte es daran liegen, dass die soziale Kontrolle auf dem Land größer ist? Soziale Distanz schließt schließlich soziale Kontrolle nicht aus. „Wir müssen die gleichen Regeln einhalten wie in den Städten“, sagt Thiede. „Aber in den Dörfern geht es nicht so anonym zu. Manche sind fast ein bisschen übereifrig.“
Die These von der Vereinsamung auf dem Land teilt Thiede nicht. Viele alte Menschen lebten noch zu Hause, und in den letzten zwei, drei Jahren seien viele junge Familien hergezogen. „Das Ländliche kriegt wieder Aufwind“, sagt sie. Seelow-Land leistet sich den Luxus von fünf kleinen Kitas – „das ist finanziell viel aufwendiger als eine große“, sagt Thiede. Jetzt ist sie froh darüber. „Vielleicht lehrt uns diese Geschichte, umzudenken und nicht alles zu zentralisieren.“
Die Kita
Im Sandkasten der Kita „Märchenland“, im Zentrum von Seelow, spielen an diesem Morgen nur drei Kinder. Cordula Töpfer sitzt etwas abseits und schaut zu. Töpfer ist Geschäftsführerin des DRK-Kreisverbands Märkisch-Oderland Ost, dem Träger der Kindertagesstätte. „Uns hat das ziemlich überrannt“, sagt Töpfer. Für die Notbetreuung versuchen sie, den Kindern ein „gewohntes Umfeld“ zu bieten.
Masken möchten die Erzieher*innen im Kindergarten aber nicht tragen, sagt Töpfer. „Da kriegen die Kinder doch Angst!“ 4,5 Prozent der Kitakinder beanspruchen die Notbetreuung. Eltern, die nicht in systemrelevanten Berufen arbeiten, können sich für eine Einzelfallentscheidung an den Landkreis wenden. „Der entscheidet das dann“, sagt Töpfer.
Familien, die keinen Anspruch auf eine Notbetreuung haben, müssen ab April vorerst keine Kitabeiträge zahlen, bestimmte die Landesregierung. „Uns standen wirklich Schweißperlen auf der Stirn“, sagt Töpfer. Zum Glück wolle das Land nun für die Beiträge aufkommen. Voraussichtlich 14 Millionen Euro pro Monat werden das es landesweit sein.
Ansonsten hätten die Erzieher*innen in Kurzarbeit gehen müssen. Jetzt können sie stattdessen Sachen anpacken, die normalerweise auf der Strecke bleiben – an der Homepage der Kita arbeiten zum Beispiel. Den daheim gebliebenen Kindern haben sie Osterüberraschungsbriefe geschickt. Und Osterüberraschungen für Senior*innen im Pflegeheim gebastelt.
Die Hotelwirtin
Das Waldhotel in Vierlinden außerhalb von Seelow hat immer noch geöffnet – auch wenn touristische Übernachtungen verboten sind. Seit 1992 ist das Hotel in Familienbesitz, 38 Zimmer, ein flaches langgestrecktes Gebäude, das auf einem ehemaligen NVA-Gelände liegt. Es seien einige wenige deutsche Monteure da, sagt Geschäftsführerin Antje Beer. „Viele kommen seit Jahren schon.“
Im Foyer sind die Barhocker zur Seite geräumt, am Tresen können sich die Übernachtungsgäste Frühstück und Essen abholen und mit aufs Zimmer nehmen. Amt und Polizei seien kontrollieren gekommen, sagt Beer. Jeder Neuankömmling müsse sich mit einem Schreiben seiner Firma ausweisen, oft für Erneuerbare Energien oder Breitbandinternet, die in der Region stark ausgebaut werden.
Beer bangt um die Zukunft ihre Betriebs. Ihre neun Mitarbeiter*innen hat sie in Kurzarbeit geschickt, die Zusage für staatliche Beihilfen eben heute erhalten. „Ein Tropfen auf dem heißen Stein.“ Für das Wochenende und die Woche nach Ostern liegt keine Reservierung mehr vor, „wir haben Stornierungen bis in den September hinein“, sagt Beer. Was kommt nach der akuten Pandemiephase? „Das Danach fängt man nicht mehr auf“, sagt sie. „Die Hilfen müsste es auch später noch geben.“
Die Gelassenheit
Landrat Schmidt sagt: „Wir haben schon einiges durchlebt.“ Märkisch-Oderland hat Erfahrung mit kleineren und größeren Katastrophen. Schmidt zählt auf: Eishochwasser, dreimal die Vogelgrippe, das legendäre Oderhochwasser.
Die nächste Katastrophe ist rein geografisch nicht fern: die afrikanische Schweinepest, die nur 80 Kilometer östlich, in Polen, bereits angekommen ist. „Unsere Leute sind erfahren“, sagt Schmidt. Vielleicht rührt daher die Gelassenheit, der pragmatische Umgang mit einem Virus, das keine Grenzen und keine Autoritäten akzeptiert, dem man aber mit Engagement und Vorausschau begegnen kann.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin