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Wert und Werte der EU in KrisenzeitenIn der Pathosfalle

Georg Löwisch
Kommentar von Georg Löwisch

Nicht träumen, kümmern: Die EU-Fans müssen zu einem neuen Selbstbild finden. Gerade Corona zeigt, was ohne sie vermisst würde: Freiheit, Gemeinschaft.

Europa muss sich kümmern, konkret, schnell, findig Foto: reuters

E s tut weh, die Straßburger Rede von Ursula von der Leyen heute nachzulesen. Sie trat damals, am 27. November 2019, als Präsidentin der Europäischen Kommission an. Sie erinnerte an die Samtene Revolution in der Tschechoslowakei, wo die Glocken leuteten, die Sirenen heulten und wo die Menschen tanzten. Sie spannte den Bogen von den Sehnsüchten, dem Mut und dem Schmerz über Freiheit und Gerechtigkeit bis zu den konkreten Projekten: dem Kampf gegen den Klimawandel, aber auch gegen den Krebs. Die Freundschaft zwischen den Völkern Europas sei unzerbrechlich, sagte von der Leyen. Ihre Rede vor dem Europaparlament hatte Pathos, sie endete dreisprachig: „Vive l’Europe, es lebe Europa, long live Europe.“

Von der Leyen hat schön geredet. Aber heute kann man nicht anders, als festzustellen: Sie hat Europa schöngeredet.

Vier Monate später schockt den Kontinent die Coronakrise. Brüssel hat erst gar nicht gehandelt, dann schwerfällig wie ein rostiger Traktor. Deutschland verbot vorübergehend sogar den Export medizinischer Geräte in andere Länder des Binnenmarktes. Wohlhabendere EU-Mitglieder drückten sich vor der Zusage, zur Not für andere finanziell einzuspringen. Im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos leben mehr als 20.000 Menschen im Morast, obwohl es für 3.000 errichtet wurde; dass das Coronaviurs dort noch nicht grassiert: Glück. In Ungarn kürt das Parlament den Autoritärdemokraten Victor Orbán zum Herrscher. Notstandsgesetze erlauben ihm das Regieren per Dekret. Wer in der Presse berichtet, was Orbán missfällt, dem drohen bis zu fünf Jahren Haft.

Die Enttäuschung über Europa ist groß. Mit dem Grund dafür sollten sich die Fans der EU befassen: Die Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Der Kontrast zwischen Traum und Albtraum ist krass. Und nein: Das Problem haben nicht nur Politikerinnen, es ist auch eines der proeuropäischen Öffentlichkeit.

taz am wochenende

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Aber von der Leyens Rede und die Coronakrise: Dieser Absturz zeigt drastisch, dass Verfechter der EU immer wieder in die eine Falle laufen. Sie reden von Werten und Visionen, als seien die Vereinigten Staaten von Europa nicht weit.

Die Versuchung ist verständlich: Je mehr Klein-Klein im Europäischen Rat, desto mehr möchte man gegenhalten mit großer Gemeinsamkeit. Je grauer der Alltag, desto leuchtender die Ziele. Die EU erhöht sich – und bleibt dann wieder unter Niveau. Tragisch.

Ja, es ist ein Dilemma. Was passiert, wenn du zugibst, ein Technokrat zu sein? Dann bist du’s auch ganz und gar. Wäre nicht trotzdem weniger mehr? Wenn die EU nicht mit Versprechungen im Stil eines Markenartiklers aufträte, sondern im Bewusstsein einer Genossenschaft, die ihren Mitgliedern bei dem hilft, was sie nicht selbst können, und in der Einzelne nicht alles bestimmen.

Vielleicht sind auch die alten Europäer ein Vorbild. Sie sahen im Kleinen das Große, statt das Kleine riesigzureden. Das war schon sehr viel, wie wir heute feststellen, wenn Grenzübergänge schließen, die es gar nicht mehr gab. Und die Integration der einstigen Diktaturen in Osteuropa ist doch im Grunde eine erstaunliche Erfolgsgeschichte.

Auch Ungarn ist nicht Orbán, selbst wenn er genug Vollidioten gefunden hat, die ihn wählen. Die EU muss mit ihm ringen, statt sich nur an einer Empörung zu berauschen, bei der einen der Verdacht beschleicht, Westeuropa spreche nur zu sich selbst. Erst diese Woche hat doch der Europäische Gerichtshof geurteilt, dass Polen, Ungarn und Tschechien 2015 gegen EU-Recht verstoßen haben, als sie sich weigerten, Flüchtlinge aufzunehmen. Im zweiten Schritt muss die EU nun Geldstrafen durchsetzen.

Dass Covid-19-Kranke aus Frankreich und Italien nach Deutschland geflogen wurden, ist gut, Brüssel könnte viel mehr davon organisieren

Europa muss sich kümmern, konkret, schnell, findig. Dass Covid-19-Kranke aus Frankreich und Italien nach Deutschland geflogen wurden, ist gut, Brüssel könnte viel mehr davon organisieren. Und auch von der Leyens Plan, mit Kurzarbeitergeld europaweit Arbeitsplätze zu sichern, ist doch gut.

Corona zeigt, was vermisst würde, wenn es dauerhaft fehlte: Die Freiheit. Die Arbeit. Die Gemeinschaft. Die Gesundheit. Europa sollte sich um das bemühen, was wir haben.

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Georg Löwisch
Autor
Viele Jahre bei der taz als Volontär, Redakteur, Reporter und Chefredakteur.
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14 Kommentare

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  • 8G
    82286 (Profil gelöscht)

    UVW z.B. erwähnt Frieden nicht einmal in seiner langen Liste.

    Und er scheint auich nicht zu wissen (oder vergessen?) wer "Die Griechen" zum Schimpfwort gemacht.

    Mit meiner Erfahrung darf ich behaupten:



    je EU-kritischer (feindlich) die Haltung,



    je rechter die Gesinnung.

    • @82286 (Profil gelöscht):

      "je EU-kritischer (feindlich) die Haltung, je rechter die Gesinnung."

      Sorry, das ist eine dumme Aussage.

      Kritik an der EU aus der Sicht eines Rechtsnationalisten ist völlig anders als Kritik aus der Sicht eine Demokraten, der die sozialen Verhältnisse im Blick hat und die völlig undemokratischen Strukturen.

      Ich bin sogar davon überzeugt, dass eine unkritische Haltung gegenüber dieser EU auf mangelndes Demokratieverständnis schließen lässt.

  • Schöne Worte und richtige Worte!



    Aber ich wundere mich immer wieder über die übersteigerte Erwartungshaltung der EU gegenüber. Die primären Aufgaben- Erhalt des Friedens und Steigerung des Wohlstands- erfüllt die EU für alle Mitgliedstaaten (ansonsten gäbe es mehr Fluktuation bei den Mitgliedstaaten)



    Für alles andere wird noch sehr viel Zeit und Geduld erforderlich sein - denn die Mitglieder sind sehr, sehr heterogen und keinesfalls jenseits der Frieden und Wohlstand kompatibel.

    • @alterego:

      ....jenseits der Ziele...

  • 7G
    76530 (Profil gelöscht)

    Zur Reduktion unnötiger Komplexität:



    Ent-täuschung kann immer nur dort aufkommen, wo eine Täuschung vorliegt.

    Wer die EU seit Anbeginn an mit wachen Sinnen begleitet, weiß, was er zu erwarten hat - und was nicht.

    Papa Staat,



    Mama EU



    - und aus bist Du.

    • @76530 (Profil gelöscht):

      Wer Nutznießer der EU ist (und dazu zähle ich auch alle, die mit oder durch die EU Geld verdienen), kann keine wirklich kritische Haltung haben, zumal es ein Heer von Claqueuren gibt, die uns beständig einreden, wie toll der Verein ist. Wahrscheinlich bin ich der einzige Europäer, der immer noch nicht begriffen hat, dass ich froh sein kann, wenn die EU Verbraucherschutz verhindert oder sich sogar auf eine Militarisierung vorbereitet.

      Es ist wie mit den Religionen. Ich fühle mich als Christ und brauche keine Religion und auch als Europäer brauche ich keine EU. Meine Freunde in Italien, NL oder Frankreich habe ich trotz EU.



      Ich feire mit den Franzosen den 14. Juli und freue mich, dass sie sich im Gegensatz zum deutschen Michel als kritische Gesellschaft bemerkbar machen. Bis heute weiß ich z.B. nicht, warum das in Deutschland Zivilgesellschaft heißt. Wahrscheinlich, weil es hier so zivilisiert und harmlos zugeht. (Grins)

      • 7G
        76530 (Profil gelöscht)
        @Rolf B.:

        Olala, SignoreMinheerMonsieur.

        Ja, ja, die Franzosen haben aus der Sicht eines widerspenstigen Menschen auch Gründe zum Feiern. In Deutschland ist der 03. Oktober (früher auch schon der 17. Juni) Trauertag. In jüngeren Jahren von mir als 'Bus- und Betttag' genutzt.

        Zivilisation wäre gut, wenn sie denn endlich begänne. Andere sprechen von 'harmloser Bräsigkeit'. Gähn!

  • Wer vermisst schon die EU? Da kommen doch nur dem Bürger lästige Klein-Klein-Regelungen wie Staubsaugerstärke und Duschköpfe. Für wichtige Themen ist sie schon lange nicht mehr fähig Konsens zu erzielen. Es bleibt nur Geld auszugeben, solange noch eins da ist!

  • Das Ganze kann nicht solidarischer sein, als die Summe seiner Teile. Da helfen auch die Sonntagsreden der Politiker nicht weiter. In einer durch und durch egoistischen Konkurrenz-Gesellschaft ist neben Augenwischerei kein zusätzliches Solidaritäts-Plus zu erwarten.

  • Jetzt dämmert es auch den letzten Optimisten, dass die EU noch nie etwas anderes war als ein bürokratischer Selbstbedienungsladen.

    Na los, jetzt noch schnell Eurobonds einführen, damit uns Salvini nächstes Jahr völlig die Hosen ausziehen kann.

    .. .und wer von der Von der Leyen etwas Ehrliches erwartet hat, dem ist nicht zu helfen. Jahrelang nicht hingesehen in Niedersachsen oder in der Bundesregierung? Die hat noch nie was anderes interessiert, als ihr eigenes Ego. Damit ist sie DIE Idealbesetzung in der EU.

  • Ich habe die Hoffnung aufgegeben, dass die EU eines Tages wirklich eine Gemeinschaft der Europäer ist und nicht ein Verein konkurrierender Länder, deren Zusammenhalt nur darin besteht, irgendeinen ökonomischen Nutzen zu ziehen, der möglichst die Interessen der Bürger ignoriert. Siehe Verbraucherschutz oder Harmonisierung sozialer Standards. Und jetzt das Versagen bei der Bewältigung der Coronakrise. Nicht zu vergessen der Offenbarungseid bei der Flüchtlings- und Asylpolitik.

    Dass aus Angst vor den Rechtsnationalisten Kritik an den demokratischen Strukturen der EU nur halbherzig erfolgt, ist ein Skandal, denn der Rechtsnationalismus scheint mir Vorwand zu sein, nichts ändern zu wollen.

  • Ja.



    Was soll sie denn machen, die EU?



    Jenseits ihrer Zuständigkeiten dürfen die Nationalstaaten national agieren.



    Und wenn schon keiner so genau weiß, was er tun soll, aber gleichzeitig schnell handeln muss, dann ist das Interesse an internationalen Arbeitskreisen eben gering.



    Wenn es überall Mangel an Material gibt - wer soll dann etwas abgeben?



    Soll die Bundesregierung ihrer Bevölkerung erklären, dass im Altenheim X nur 15 Masken für 40 Leute geliefert werden, aber gleichzeitig Tausend nach Italien?



    Das ist nicht solidarisch, das ist völlig unrealistisch.



    Es ist schade, dass Italien sein eigenes Versagen in eine Wut auf Dritte umlenkt, aber normal. Würden wir sicher auch machen. Da kann die EU nun gar nix für.



    Die Schlussfolgerung des Artikels teile ich aber: Bekennt euch, nur Teilverantwortliche Bürokraten zu sein, liebe EU. Das reduziert die Enttäuschung.

  • Nochmal: Die EU ist nicht Europa. Sie hat erheblich dazu beigetragen, dass es in Europa so schlecht ist, wie es ist.

    Wo waren denn die "EU-Fans"

    - als Griechenland hohnlachend gedemütigt und dann geplündert wurde?



    - als Italien und Griechenland mit den Flüchtlingen allein gelassen wurden?



    - als in Spanien die Jugendarbeitslosigkeit bei 50% lag und in Italien etwas darunter.



    - als die massive Steuerflucht der Konzerne bekannt wurde, durch die EU erst ermöglicht?



    - als klar wurde, dass die EU erst den Rahmen schafft, in dem die einflussreichen oder skrupellosen Regierungen ihre jeweiligen Egoismen ausleben können?

    Liberté: siehe Freiheit



    Égalité: vergiss es



    Fraternité: siehe Gemeinschaft



    Einigkeit: vergiss es



    Recht: wird schrittweise abgeschafft



    Freiheit: zu bezahlen



    Arbeit: macht jemand Billigeres



    Gemeinschaft: Was? Durch die EU??



    Gesundheit: Sehen wir gerade

  • "Die Enttäuschung über Europa ist groß"



    sie wird noch grösser werden..