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Instrumentalisiertes Auschwitz-GedenkenBizarre Interpreta­tio­nen

Kommentar von Klaus Hillenbrand

75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz werden die Opfer zur Manövriermasse. So wird das Gedenken zur Staffage.

Das Erinnern an die Ermordeten sollte sich nur um sie drehen Foto: Ammar Awad/reuters

S ie sind noch am Leben, die letzten Zeitzeugen von Konzentrations- und Vernichtungslagern der Nazis. Aber ihre Stimmen werden leiser. Und mit jedem Überlebenden, der verstirbt, verschwindet auch ein Stück der Erinnerung an diese Menschheitskatastrophe. Die Zahl der Dokumente über die Verbrechen und der Interviews mit den Opfern mag gewaltig sein, die Beweislast gegen die deutschen Täter erdrückend – aber nichts kann die Stimmen derjenigen ersetzen, die aus eigenem Erleben von den Gräueltaten berichten.

Parallel zum Tod der letzten Zeugen aber ist zu beobachten, dass der Massenmord an Juden, Sinti und Roma zunehmend dazu benutzt wird, um daraus eigene Legenden zu entwickeln. Der Holocaust wird als bloße Oberfläche für nationale Narrative missbraucht, um den eigenen Staat als Inkarnation des Guten darzustellen, anderen Völkern aber eine Kollaboration mit den Nazis zu unterstellen, um sie so zum bösen Feind abzustempeln.

Nichts anderes geschieht derzeit zwischen Russland und Polen. Wenn Wladimir Putin Polen unterstellt, unter ihnen hätten sich die schlimmsten Antisemiten befunden, dann geschieht dies, um die eigene historische Verantwortung zu leugnen. Wenn die polnische Regierung als Reaktion mit dem Hinweis auf die verheerenden Folgen des Hitler-Stalin-Pakts antwortet, hat sie recht. Aber sie minimiert auch die Bedeutung der sowjetischen Streitkräfte für die Befreiung Europas, wobei diese wiederum für viele Menschen den Beginn einer neuen Diktatur bedeutete.

Mit einer Aufarbeitung von Geschichte hat all das nichts zu tun. Natürlich gab es in Polen starke antisemitische Tendenzen. Selbstverständlich hatte Stalins Pakt zur Folge, dass Polen als erstes Opfer zweier Diktaturen von der Landkarte verschwand. In diesen Erzählungen ist kein Platz für Differenzierungen. Tatsache aber ist: Es gibt keine „guten“ und „bösen“ Nationen, und keine Bevölkerung – auch nicht in den deutsch besetzten Gebieten – ist gänzlich frei von Schuld.

Die europäischen Juden sind von den Nazis aber nicht ermordet worden, weil sie den Pass dieses oder jenes Staates besaßen, sondern ausschließlich, weil sie Juden waren

Zu den bizarren nationalen Interpreta­tio­nen zählt, wenn Staaten jeweils für sich die höchste Zahl an jüdischen Opfer reklamieren, um damit den eigenen Opferstatus zu erhöhen. Die europäischen Juden sind von den Nazis aber nicht ermordet worden, weil sie den Pass dieses oder jenes Staates besaßen, sondern ausschließlich, weil sie Juden waren.

So werden die Millionen Opfer 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz umstandslos zur Manövriermasse für Versuche, die eigene Politik im 21. Jahrhundert zu rechtfertigen und der jeweils eigenen Nation einen historischen Heiligenschein zu verleihen. Und auch in Deutschland fehlt es nicht an Versuchen, die Ermordeten für eigene Zwecke zu instrumentalisieren – was praktisch ist, denn diese können sich nicht mehr wehren. Dass das vor dem Hintergrund eines wachsenden Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus in ganz Europa geschieht, ist kein Zufall, sondern Programm. Dass das Gedenken an die Ermordeten damit zur Staffage wird, ist eine Schande.

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taz-Autor
Jahrgang 1957, ist Mitarbeiter der taz und Buchautor. Seine Themenschwerpunkte sind Zeitgeschichte und der Nahe Osten. Hillenbrand ist Autor mehrerer Bücher zur NS-Geschichte und Judenverfolgung. Zuletzt erschien von ihm: "Die geschützte Insel. Das jüdische Auerbach'sche Waisenhaus in Berlin", Hentrich & Hentrich 2024
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19 Kommentare

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  • Diese Formen von Opferkonkurrenz sind ein wichtiges sozialpsychologisches Problem und sie sollten bearbeitet werden - mit Geduld und Anerkennung.



    Das gilt auch für den Holomodor in der Ukraine.

  • Ein nicht seltenes Ereignis, daß der kranke Wahnsinn in den Köpfen nicht entwicklungsfähiger Spinner regelmäßig aufschäumt, wenn es nicht zur Allmacht schreiten kann. Diese Anfälligkeit der menschlichen Gesellschaft haben wir selbst nach dem WW II nicht beseitigen können. Ein Grund, über Auffälligkeiten der Demokratie nachzudenken, welche das Problem ermöglichen und nicht die Lösung.

  • "Wenn Wladimir Putin Polen unterstellt, unter ihnen hätten sich die schlimmsten Antisemiten befunden, dann geschieht dies, um die eigene historische Verantwortung zu leugnen. "

    Die Sowjetunion und der Rechtsnachfolger Russland hat keine historische Verantwortung für den vom Deutschen Reich organisierten Holocaust. Insofern gibt es da auch von Putin nichts leugnen. Die Sowjetunion hat Auschwitz befreit.

    "Wenn die polnische Regierung als Reaktion mit dem Hinweis auf die verheerenden Folgen des Hitler-Stalin-Pakts antwortet..."

    Es war anders herum, erst hat Polen auf den Hitler-Stalin-Pakt verwiesen, dann kam die Retourkutsche von Putin. Ein Nichtangriffspakt hat auch zwischen Hitlerdeutschland und Polen, ebenso mit zahlreichen anderen Staaten Europas bestanden. Der Hitler-Stalin-Pakt war nicht der Auslöser für den zweiten Weltkrieg und er hat auch die Sowjetunion nicht vor einen Überfall bewahrt.

    "Die europäischen Juden sind von den Nazis aber nicht ermordet worden, weil sie den Pass dieses oder jenes Staates besaßen, sondern ausschließlich, weil sie Juden waren."

    Ja, aber in der Sowjetunion kam hinzu dass der Staat als Träger des "Jüdischen Bolschewismus" in seiner Gesamtheit vernichtet werden sollte und natürlich der Pass seiner Bewohner dabei eine Rolle gespielt hat. (Etwa 26 Millionen Tote Zivilisten)

    • @Sandor Krasna:

      Danke für die Klarstellung. Hinzufügen möchte ich die Tatsache, dass russische Soldaten für die Befreiung von Auschwitz ihr Leben ließen. Heute "vergisst" man dies zu erwähnen. Es ist schlicht nur noch von der Befreiung (von wem auch immer) die Rede. Ich befürchte, dass man die Befreier demnächst prinzipiell gar nicht mehr erwähnt. Passt ja auch besser zur Dämonisierung eines Landes, das trotz deutscher Besatzungskriege immer noch der alten Feindbildtradition unterliegt.

      • @Rolf B.:

        Die Gefahr sehe ich auch. Es fehlt nicht mehr viel. Hier wird so lange an den historischen Tatsachen geschraubt bis es heißt: "Die Nato hat das russische Gulag Auschwitz befreit."

    • @Sandor Krasna:

      "Ein Nichtangriffspakt hat auch zwischen Hitlerdeutschland und Polen, ebenso mit zahlreichen anderen Staaten Europas bestanden."

      Das geheime Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt (www.ns-archiv.de/k...tangriffspakt.php) hatte durchaus verheerende Folgen für Mittel-/Osteuropa, z.B. die Auslöschung des polnischen Staates und physische Liquidierung des polnischen Bildungsbürgertums in Palmiry und Katyn.

      "Insofern gibt es da auch von Putin nichts [zu] leugnen."

      Doch. Etwa die Tatsache, dass sich zahlreiche Polen jüdischer Abstammung unter den oben genannten Eliten befanden. Die Massenmörder von Katyn haben zumindest 500 jüdische Offiziere in den Tod geschickt:



      sztetl.org.pl/de/n...assakers-von-katyn

      • @Wasserman:

        „Doch. Etwa die Tatsache, dass sich zahlreiche Polen jüdischer Abstammung unter den oben genannten Eliten befanden…“

        Die Ermordung dieser Menschen in Katyn geschah weil sie zur Elite Polens gehörten, nicht weil sie Juden waren. Stalins Ziel war es die militärischen und administrativen Fähigkeiten Polens nachhaltig zu schwächen. Sie wurden nicht wegen ihrer jüdischen Herkunft getötet. Es waren die Nazis, die Juden töteten weil sie Juden waren.

        Relativierungen wie: „Ja, aber die Sowjets waren auch schlimm…“ halte ich im Zuge des Gedenkens an den Holocaust für absolut daneben.

        Sie Sowjetunion trägt nicht die Schuld am Holocaust. Die Sowjetunion hat den Holocaust beendet.

        • @Sandor Krasna:

          "Die Ermordung dieser Menschen in Katyn geschah weil sie zur Elite Polens gehörten, nicht weil sie Juden waren".

          Völlig richtig. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass sie jüdische Opfer sind. Deswegen wird bei Gedenkveranstaltungen im Warschauer Katyn-Museum (jährlich am 13. April) das Kaddisch gesprochen.

          Zugleich gilt: Den Holocaust hat das Deutsche Reich zu verantworten. Die Rote Armee hat ihn aufgehalten und Auschwitz befreit.

          Das Letztere wird durch das Erstere nicht relativiert.

          Der Autor schreibt zu Recht: "Wenn Wladimir Putin Polen unterstellt, unter ihnen hätten sich die schlimmsten Antisemiten befunden, dann geschieht dies, um die eigene historische Verantwortung zu leugnen".

          • @Wasserman:

            "Völlig richtig. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass sie jüdische Opfer sind. Deswegen wird bei Gedenkveranstaltungen im Warschauer Katyn-Museum (jährlich am 13. April) das Kaddisch gesprochen."

            Das mag sein, doch unter den sowjetischen Tätern gab es ebenfalls Juden. Katyn war gewiss schrecklich aber es eignet sich nicht als Beleg für eine Mitschuld der Sowjetunion am Holocaust. Ebenso wenig wie Hiroshima, Churchills Hungertote in Bengalen, die Bombardierung Dresdens, oder die Polnische Besetzung des Teschener Landes, eine Mitschuld der anderen Alliierten bedeuten.Beim Holocaust sollte es in erster Linie um die Deutsche Schuld gehen.

            • @Sandor Krasna:

              "Katyn war gewiss schrecklich aber es eignet sich nicht als Beleg für eine Mitschuld der Sowjetunion am Holocaust."

              Nirgendwo habe ich behauptet, dass die Sowjetunion für den Holocaust schuldig oder mitschuldig sei. Ich habe vielmehr geschrieben:

              "Den Holocaust hat das Deutsche Reich zu verantworten."

              Ich habe (im Kontext der Putinschen Antisemitismus-Vorwürfe gegenüber Polen) darauf hingewiesen, dass es jüdische Opfer des Stalinismus gibt. Wenn ich das Katyn-Museum in Warschau besuche, gedenke ich meinem jüdischen Urgroßonkel Dr. Jerzy Edward Luxemburg. Hier ein Monographie-Abschnitt (S. 30-31):

              "Viele Mitglieder der Familie Luxemburg wurden nach 1939 in Konzentrationslagern ermordet oder von den Nationalsozialisten als Angehörige des polnischen Widerstands hingerichtet. Die Familie geriet nach dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt von 1939 auch in die Mühlen der stalinistischen Vernichtungsmaschinerie. Luxemburgs Neffe Jerzy Luxemburg wurde 1940 von den Sowjets in Katyn erschossen, andere Mitglieder der Familie wurden als Angehörige der Bourgeoisie nach Sibirien deportiert."



              www.randomhouse.de..._9783896675408.pdf

              Das sollte jetzt reichen.

              • @Wasserman:

                "Der Autor schreibt zu Recht: "Wenn Wladimir Putin Polen unterstellt, unter ihnen hätten sich die schlimmsten Antisemiten befunden, dann geschieht dies, um die eigene historische Verantwortung zu leugnen"."



                Wenn also ein amerikanischer Präsident auf den Kooperationswillen des Vichy-Regimes in der Verfolgung und Ermordung von Juden hinweist, ist dies auch nur ein Mittel um vor der historischen Schuld/Verantwortung abzulenken? Immerhin haben amerikanische Soldaten ja auch Massaker an deutschen Soldaten begannen. Oder soll die besondere Schuld in Katyn daran liegen, dass Juden unter den polnischen Offizieren waren? Dann nochmal, es war den Sowjets egal das sie als Juden galten, sie wurden dieser Zuschreibung wegen nicht ermordet. Manche Dinge miteinander zu vergleichen nur, weil sie im Ergebnis gleich wirken (tote Juden dort, tote Juden hier) macht wenig Sinn, man sollte herausarbeiten was vergleichbar ist, auf ähnlichen Ursachen beruht und was auf unterschiedlichen. Und nochmal ganz dumpf allgemein, weil immer wieder auf das jüdisch sein der Offiziere herumgeritten wird. Das ermorden von Menschen ist grausam, ob man diesen jüdische, polnische, deutsche oder andere volskörperbeschaffenheiten zuschreibt ist ziemlich egal, machts nicht mehr, weniger grausam.

              • @Wasserman:

                Ich habe nicht bezweifelt, dass es auch Juden unter den Ermordeten in Katyn gab. Doch es erfolgte wie gesagt diese Ermordung nicht aus antisemitischen Gründen. Putins Antisemitismusvorwürfe gegenüber einigen polnischen Politikern der 1930er Jahre sind historisch richtig, falsch wäre es Polen die Schuld am Holocaust zu zu schieben, so wie es eben falsch ist aufgrund von Katyn der Sowjetunion eine Schuld an Auschwitz zu geben.

      • @Wasserman:

        "Doch. Etwa die Tatsache, dass sich zahlreiche Polen jüdischer Abstammung unter den oben genannten Eliten befanden. Die Massenmörder von Katyn haben zumindest 500 jüdische Offiziere in den Tod geschickt"

        Die Offiziere in Katyn wurden nicht ermordet, weil sie Juden waren, sondern weil sie zur militärischen Elite des Landes gehörten. Stalin wollte somit die militärischen Fähigkeiten Polens nachhaltig schwächen, die Nazis dagegen wollten Juden töten, weil sie sie wahnhaft für alles Übel auf der Welt verantwortlich hielten. Da besteht schon ein großer Unterschied. Die versuchte Absicht deines Vergleichs ist eine Relativierung des von den Nazis begangenen Massenmordens, aller: "Ja, die anderen haben doch auch..."

        Der Hitler-Stalin Pakt hatte mitnichten verheerende Folgen für Mittel-/Osteuropa. Die Nazis haben ihre Kriege geführt und die Sowjets die ihrigen. Verantwortlich für Katyn ist nicht Hitler und der Pakt mit den Sowjets, sondern Stalin und die Rote Armee. Andersherum trägt die Rote Armee auch keine Verantwortung für den Krieg, den die Nazis gegen sie begonnen haben. Ganz simpel.

        • @Colonel Ernesto Bella:

          "Der Hitler-Stalin Pakt hatte mitnichten verheerende Folgen für Mittel-/Osteuropa. Die Nazis haben ihre Kriege geführt und die Sowjets die ihrigen."

          Die deutsch-sowjetische Beutepartnerschaft (1939 –1941) hatte viele Facetten. Nach dem Überfall auf Polen feierten deutsche und sowjetische Panzereinheiten am 22. September 1939 in Brest-Litowsk eine gemeinsame Militärparade:



          libmod.de/militaer...ft-der-diktatoren/

          Zwischen September 1939 und März 1940 fanden gemeinsame s.g. NKWD-Gestapo-Konferenzen statt. Dabei war gegenseitige Unterrichtung über antipolnische Maßnahmen, wie bereits im geheimen Zusatzprotokoll vereinbart, ein wesentlicher Agendapunkt.

          Ich empfehle das aktuelle Buch von Claudia Weber: "Der Pakt: Stalin, Hitler und die Geschichte einer mörderischen Allianz" (C.H.Beck, 2019).

          • @Wasserman:

            Interessanter Link. So klar war mit das bis jetzt nicht.

          • @Wasserman:

            Es geht um den Holocaust. Wenn Ihnen bei Auschwitz als erstes der Hitler-Stalin-Pakt und vielleicht noch die Vergewaltigungen deutscher Frauen einfällt, dann stehen sie gedanklich näher bei denen die den WW2 als Fliegenschiss bezeichnen, als Ihnen vielleicht lieb ist.

            • @Sandor Krasna:

              In diesem Kommentar ging es um die Aussage von @COLONEL ERNESTO BELLA: "Der Hitler-Stalin Pakt hatte mitnichten verheerende Folgen für Mittel-/Osteuropa." Eine atemberaubende Unwahrheit.

    • 6G
      61321 (Profil gelöscht)
      @Sandor Krasna:

      .



      Bitte den Hitler-Stalin-Pakt nicht als gewöhnlichen Nichtangriffspakt bezeichnen, bzw. ihn mit anderen Verträgen aus dieser Zeit auf eine Stufe stellen. Sie wissen ja, was in den geheimen Zusatzprotokollen stand