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Saisonauftakt am Thalia-TheaterDas große Schweigen

Von der Verwüstung moralischer Urteilsfähigkeit: Jette Steckel inszeniert Nino Haratischwilis Roman „Die Katze und der General“.

Verstörende Bilder: Angst vor Pathos hat Regisseurin Jette Steckel nicht Foto: Armin Smailovic

Hamburg taz | Ach, der menschliche Wunsch nach Erkenntnis, wie Philosophie-trunken erstrebt er eine Ahnung von Wirklichkeit an sich. Einen Fussel Wahrheit! Und versteht das Leben doch immer nur so, wie es uns erscheint und wie wir es interpretieren. Zur Ersatzbefriedigung der unerfüllten Sehnsucht hat die Kulturindustrie den Krimi und seinen rabiat-coolen Bruder, den Thriller, erfunden. Wird in diesen Genres doch erkundet, wie etwas tatsächlich war. Wenn ein Detektiv so lange einem unverständlichen Mord hinterherrecherchiert, bis klar ist, wer warum der Täter war.

Mit dieser wissen machenden und dadurch beruhigenden Dramaturgie beglückt jetzt auch die Saisoneröffnungspremiere des Thalia-Theaters. Nach ihrem großen Publikumserfolg mit der Dramatisierung von Nino Haratischwilis 1.300-seitiger Familiensaga „Das achte Leben (Für Brilka)“ hat Jette Steckel nun den neuen, 760 Seiten schweren Roman der deutsch-georgischen, in Hamburg lebenden Autorin inszeniert: „Die Katze und der General“.

Die ausufernde Narration wird dabei geschickt konzentriert auf die zentrale Geschichte um Schuld und Sühne, die einer wahren Begebenheit nachgebildet ist. In prägnanten Miniaturszenen werden Information um Information, Erinnerung um Erinnerung zu einem Kriegsverbrechen gesammelt.

Trotz rasanter Zeitsprünge packt die Aufklärungsarbeit die Zuschaueraufmerksamkeit, ist dabei aber nie Selbstzweck, sondern sanft empathisch den Wahrheitssuchern gegenüber und mit deutlichem Impetus gegen die russische Demokratur Putins ausgestattet.

Eine Menschenrechtlerin, die der 2006 ermordeten Anna Politkowskaja nachempfunden ist, wie auch ein deutscher Journalist und die Katze aus dem Stücktitel – Spitzname einer Schauspielerin – erforschen auf der Bühne die Hintergründe der beiden Tschetschenien-Kriege und flechten sie beiläufig in die Handlung ein.

Vernarbte Biografien

Dass Russland den Kaukasus seit dem 18. Jahrhundert kolonisiert, ist zu erfahren. Bereits Stalin habe Tschetschenen deportiert und Russen in ihrem Land angesiedelt, heißt es. Die Heimgekehrten seien in den 1990er Jahren von der militärischen Aggression teilweise zur Flucht gezwungen und das Land im russischen Staatsverband gehalten worden – wider eine Separatistenbewegung, die sich vornehmlich aus der islamischen Bevölkerungsmehrheit rekrutierte.

Da ihr niemand zu Hilfe kam, spricht Haratischwili vom „globalen Verrat an Menschenrechten“. Zudem porträtiert sie mit der zweiten Titelfigur, dem General, ein Musterbeispiel der heute scheel beäugten Oligarchen, die während des ökonomischen Perestroika-Chaos wie aus dem Nichts der zerfallenden sowjetischen Großmacht als Selfmade-Multimillionäre auftauchten.

Anfangs ist der General (Jirka Zett) ein liebenswürdig verzagter Soldat der russischen Besatzer. Abseits der grausamen Kämpfe in Grosny urlaubt er mit seiner Einheit in einem märchenhaft illuminierten Nebelort. Ländlich archaische Menschen geistern umher. Gottlose Sozialisten streiten mit denjenigen, die Allah als Hoffnung gegen die gehasste russische Okkupation preisen. Gegenseitig bezeichnet man sich als „Kakerlaken“ oder „Abschaum“.

Pause – und das Premierenpublikum sitzt schweigend betroffen da. Unfähig zu applaudieren

Nach und nach überlagern Kriegsvideos die Szenerie. Der General und seine Kameraden machen derweil heimlich Geschäfte mit der örtlichen Bevölkerung. Kaufen Eier, aber auch Hühner – wollen noch einmal wie ein König Coq au Vin speisen, bevor der Tod auf dem Schlachtfeld ihnen auflauert.

Geradezu beispielhaft nähern sich dabei die Kriegsfeinde über ihre Geschäftsbeziehungen auch menschlich an. Allesamt Figuren, die mit vernarbten Biografien inmitten einer Wirklichkeit aus Schrecken ihr kleines privates Glück suchen. Was der unberechenbare Kommandeur nicht akzeptieren kann. Auf sein Geheiß hin wird die junge Bäuerin Nura (Lisa Hagmeister) als Terroristin festgenommen, verhört, gefoltert und vergewaltigt, schließlich ermordet.

Verstörende Choreografie

Steckel hat fast zwei Stunden lang das Stückpersonal facettenreich entwickelt, die gruppendynamischen Situationen, den psychologischen und sozialen Hintergrund nachvollziehbar gemacht – bis sie den Ausbruch des Gewaltexzesses in eine angemessen verstörende Choreografie übersetzt. Dann ist Pause – und das Premierenpublikum sitzt schweigend betroffen da. Unfähig zu applaudieren.

Mit zunehmender Aufführungsdauer werden die Nebenhandlungsfäden sukzessive miteinander verknüpft, wobei Szene für Szene klarer wird, wer wie an der Vergewaltigung beteiligt war und was daraus folgte. Eine Aufarbeitung der Geschehnisse kann das Militär nicht hinnehmen, der Imageschaden wäre gewaltig. Also erklärt es die Anwälte der Wahrheit zu Verbrechern. Mit Bestechung, Vertuschung, Verleugnung startet das große Schweigen.

Die Katze und der General

Nächste Aufführungen: Sa./So., 14./15. 9., 20 Uhr, Hamburg, Thalia-Theater. Weitere Termine bis Januar

Nino Haratischwili: „Die Katze und der General“. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a.M. 2018, 763 Seiten, 30 Euro

Aber auch Selbstbehauptungsversuche sind zu erleben. Denn neben den bösen Bösen, den Psychopathologisierten, gibt es die guten Bösen, die nur so „reingerutscht“ sind in die Massenvergewaltigung. Einer kann daraufhin nicht weiterleben, erschießt sich aus Scham. Der General aber ist einfach nur komplett desillusioniert, wird vom Selbsthass gepiesackt und nimmt einen Identitätswechsel vor. Seinem feinsinnigen Geist widerspricht er, narkotisiert die empfindsame Seele. Wie neugeboren erwacht er als skrupelloser Unternehmer.

Seine Begründung: In einer Welt, in der man straffrei vergewaltigt und mordet, weil sich die Möglichkeit dazu ergibt, sei jeder Versuch einer moralischen Haltung nichts weiter als lächerlich. Gebe es „kein Richtig mehr“, bleibe als einziges Streben nur das nach Macht.

Das Beeindruckende an Steckels Regie ist, dass sie nicht nur bei der Gesinnungswandelei, auch in den Liebes-, Freundschafts-, Hoffnungsszenen keine Angst vor Pathos hat. Weswegen die Produktion immer am Rande der Sentimentalität, durch die Zuspitzung der Situationen auch auf der Kippe zum Lehrstück balanciert, das aber eben schauspielerisch derart brillant, dass der Abend nie kitschig, stets anrührend emotional ist – voller menschlicher wie politischer Wahrheiten.

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