piwik no script img

Urteil zu GruppenverfolgungJesiden jetzt schutzlos

Jesiden droht keine Verfolgung im Irak, urteilt das Oberverwaltungsgericht Lüneburg. Sie können dorthin abgeschoben, wo sie ermordet wurden.

Der Schrecken ist noch sichtbar: Sindschar drei Jahre nach der Rückeroberung vom IS. Foto: dpa

Bremen taz | Fünf Jahre können eine Ewigkeit sein aus Sicht der Verwaltungsrechtsprechung. Am 3. August 2014 fand im Sindschar-Gebiet ein Massaker statt, als Auftakt zum Völkermord: unter Führung von IS-Kämpfern, aber auch unter tätigem Zutun von deren Mitläufern, den frommen Nachbarn der jesidischen Opfer.

Männer, also alle ab 14 Jahren, mindestens 5.000, wurden ermordet, Frauen und Mädchen ab acht Jahren aufwärts wurden systematisch vergewaltigt, danach ermordet oder verschleppt, gefangen gehalten, zwangsverheiratet und versklavt; entführt auch eine ungewisse Zahl Kinder. Etwa 400.000 Menschen flüchteten. Etliche sind verschollen. Zum Jahrestag hat die Göttinger Gesellschaft für bedrohte Völker am Mittwoch eine Studie vorgelegt.

Aber eigentlich ist das alles Schnee von gestern. Das hat das Oberverwaltungsgericht Lüneburg (OVG) schon am Dienstag entschieden und anderslautende Urteile des Verwaltungsgerichts Hannover aufgehoben. Jesiden können nach dessen Auffassung in den Irak zurückkehren, eine Gruppenverfolgung drohe ihnen nicht. Was das heißt: Eine unmenschliche Behandlung – ach Gottchen! – das kann ja jedem passieren. Und unbequeme Nachbarn sind ganz sicher kein Abschiebehindernis.

Sicherheitslage prekär

Das verblüfft und enttäuscht: Einerseits hat gerade auch das Außenamt bekräftigt, dass die Sicherheitslage dort weiter „prekär“ ist. Andererseits waren Lüneburger Richter zuvor eher durch eine humanitärere Auslegung des Asyl- und Ausländerrechts auffällig geworden. So hatten sie verboten, Schutzsuchende nach Bulgarien abzuschieben, weil ihnen dort eine menschenunwürdige Behandlung drohe.

Bulgarien ist also nicht okay. Das Herkunftsland Irak hingegen schon. Weil – na einerseits, weil das aktuelle Urteil nicht der neunte, sondern der zehnte Senat des OVG gefällt hat. Und, weil – nein, leider liegt die schriftliche Urteilsbegründung noch nicht vor. Aber man kann sich anschauen, wie beispielsweise das Verwaltungsgericht Oldenburg begründet, dass es zur selben Einschätzung kommt:

„Das Risiko, als Zivilperson in dem betreffenden Gebiet im Laufe eines Jahres verletzt oder getötet zu werden“, hatten die Juristen dort vergangenen August befunden, „lässt sich nicht sachgerecht ermitteln, wenn dazu eine bereits nicht valide ermittelbare Zahl von Vorfällen in das Verhältnis zu einer zudem seit mehreren Jahren offensichtlich nicht mehr bestehenden Bevölkerungszahl gesetzt wird.“

„Nicht mehr bestehende Bevölkerungszahl“ – da haben die Oldenburger Verwaltungsjuristen wieder einen großartig unaufgeregten Ausdruck gefunden für: durch Genozid ausgelöscht. Die Lüneburger werden ihnen dankbar sein. Die Jesiden nicht. Benno Schirrmeister

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

3 Kommentare

 / 
  • Seltsamerweise lässt der Artikel weg, dass die Kurdische Autonome Region die Jesidi als Kurden betrachtet und sie schützt.

    Für die irakisch-kurdische Autonome Region gibt das Auswärtige Amt nicht mal mehr Reise- und Sicherheitshinweise. Dort ist die Lage also alles andere als prekär.

  • Jesiden & Gruppenverfolgung.

    Das war - als es noch um die Vertreibung/Flucht aus dem Tur Abdin -Türkei - ging - eine schwierige Sache.



    (Damals vom VG Oldenburg anerkannt & dann ~~ allgemeine Rechtsprechung.

    Die hier vorgetragene Kritik teile ich grundsätzlich.

    unterm-----



    Fairerweise sollte aber gesagt sein



    oberverwaltungsger...garien-161430.html - ist durch den 10. Senat ergangen.



    Die hier inkriminierte Entscheidung zu Jesiden & Gruppenverfolgung aber durch den 9.Senat.



    oberverwaltungsger...indjar-179275.html

    Jeweils Pressemitteilungen & wer die Binnendifferenz zwischen den Spruchkörpern gerade der Obergerichte kennt - live erlebt hat.



    Würde derartige "Vergleiche" - wie hier - schlicht nicht ziehen.

  • Klingt ein bisschen nach: da die meisten Jesiden im Irak ermordet oder vertrieben wurden findet auch aktuell kein Genozid mehr statt. Keiner wird mehr ermordet weil keiner mehr da ist. Also ist die Gefahr gebannt, das Land sicher und man kann die Entkommenen wieder zurückschicken. Juristischer Zynismus.