Essay zum Gebiet der ehemaligen DDR: Den Osten gibt es nicht
Vor den Wahlen wollen wieder alle den Osten verstehen. Doch der hat sich längst ausdifferenziert bis zur Unkenntlichkeit.
Es stehen drei Landtagswahlen im Osten an, und damit schlägt wieder die Stunde der Ostversteher. Viele Redaktionen schicken derzeit ReporterInnen los, die sich auf die Suche nach der Ostseele begeben sollen. Und wenn der Herbst jene Wahlergebnisse – AfD! – liefern sollte, die die öffentliche Mehrheitsmeinung darin bestätigen, dass der Osten ein merkwürdiges Terrain ist, dann wird Anne Will natürlich zur Krisensitzung am Sonntag laden. Der Osten wird wieder auf die Couch gelegt werden.
Aber was ist eigentlich ostdeutsch? Eine rein geografische Definition – der Osten ist das Gebiet der ehemaligen DDR – ist inzwischen selbst den Apologeten des Ostdeutschen zu dürftig. Dafür ist die Mauer inzwischen zu lange Vergangenheit; nach einer Datenanalyse von Zeit Online sind bis zum Jahr 2017 rund 3,7 Millionen Ostdeutsche in den Westen gegangen und 2,5 Millionen Westdeutsche in die andere Richtung – für ein Gebiet, das 1989 16 Millionen Menschen zählte, sind das gewaltige Zahlen.
Je unklarer ist, was ostdeutsch eigentlich ist, desto schwieriger werden die Definitionsversuche. Als vor ein paar Monaten eine Ostquote für Führungspositionen diskutiert wurde, kursierten komplizierte Vorschläge. Einige übernahmen eine eigenwillige Definition aus einer wissenschaftlichen Studie zum MDR-Film „Wer beherrscht den Osten?“. Ostdeutsch sind demnach neben gebürtigen DDR-Bürgern auch „junge Menschen, die nach 1975 in der DDR bzw. in den neuen Bundesländern geboren wurden und durch ihr Umfeld ostdeutsch sozialisiert wurden“. Der aus Hessen stammende Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow, der seit fast 30 Jahren im Osten lebt, ist demnach kein Ossi. Und darf sich ein Kind von eingewanderten Wessis, 1991 in Dresden geboren, ostdeutsch nennen? Ist es ausreichend „ostdeutsch sozialisiert“ oder lebt es nur in einer Blase von Zugezogenen?
Der Versuch, eine Art ostdeutsche Sonderethnie mit komplizierten Zugehörigkeitsbedingungen zu schaffen, kann nur schiefgehen – und hat den Geschmack totalitärer Systeme, die Bevölkerungsgruppen bürokratisch nach Herkunft und Geburtsjahr kategorisieren.
45, aufgewachsen in Stade, ist freier Journalist und Politikwissenschaftler. 2007 erschien von ihm „Eliten in Ostdeutschland“ (Ch. Links Verlag).
Nudossi statt Nutella
Andere versuchen es mit der vermeintlich ostdeutschen Mentalität, aber es mangelt bis heute an einer überzeugenden Klärung, was das eigentlich sein soll. Die einen nennen Alltagskultur und Konsumverhalten (Nudossi statt Nutella), andere werden grundsätzlich („Die DDR war der erste antifaschistische Staat auf deutschem Boden“). Manche betonen das angeblich menschlichere Miteinander („Wir gehen offener und direkter miteinander um“), wieder andere erklären die Protestneigung im Osten mit den Entwertungen von Biografien nach dem Systemwechsel von 1989/90.
In den nuller Jahren kursierte die These, dass der Osten für Deutschland das ist, was der amerikanische Süden für die USA bedeutet: ein Landstrich mit kulturellem Eigensinn und eigener Geschichte; arm, aber stolz. Nur: Der Vergleich funktioniert nicht. Wer einen Südstaatler fragt, was der „Deep South“ ist, wird immer wieder ähnliche Antworten bekommen: das Lebensgefühl, die kulinarischen Vorlieben, der gemeinsame Dialekt, die Verwurzelung im Ländlichen, die Abgrenzung zum Norden – Eigenschaften und Vorlieben, die sich über Jahrhunderte schufen und über Klassen und die ethnische Herkunft hinweggehen. Im deutschen Osten gibt es keine derartiger Eigenschaften, die einen Konsens finden würden. Selbst der naheliegende Punkt – Abgrenzung zum Westen – wird vermutlich nicht (mehr) mehrheitsfähig sein.
Historisch gesehen war die DDR nur ein Wimpernschlag. Der Osten ist regional, mental und wirtschaftlich zu heterogen, um nach 1990 eine eigene Identität geschaffen zu haben. Historisch haben ein Mecklenburger und eine Bautzenerin nichts miteinander zu tun, die Ost-West-Grenze wurde 1945 dafür viel zu willkürlich gezogen. Ältere Prägungen schlagen jetzt, wo die Episode DDR immer länger zurückliegt, durch – und verknüpfen sich mit neuen regionalen Identitäten. Das zeigte sich frappierend bei den Wahlen im Frühjahr. Von der Öffentlichkeit kaum beachtet, haben sich bei den Europa- und Kommunalwahlen gravierende Unterschiede innerhalb Ostdeutschlands gezeigt.
Im Landesteil Mecklenburg ist die AfD bei den Europawahlen nur drittstärkste, bei den Kommunalwahlen gar nur viertstärkste Partei geworden. In Vorpommern wiederum wurde sie bei den beiden Wahlen knapp hinter der CDU zweitstärkste Partei. Im Norden Sachsen-Anhalts und Brandenburgs schnitt sie schlechter ab als im jeweils südlichen Landesteil. Man kann grob eine Achse von Nordwesten nach Südosten ziehen, also von Mecklenburg hinunter in die Oberlausitz. Je südlicher man dieser Achse folgt, desto stärker wird die AfD gewählt. Nur zwei Zahlen: Im Kreis Nordwestmecklenburg holte die AfD bei den Europawahlen 15,8 Prozent – am anderen Ende, in Görlitz, mit 32,4 Prozent mehr als das Doppelte.
Es fällt auf, dass die AfD besonders stark dort ist, wo viele BewohnerInnen offenbar kollektive Verlusterfahrungen teilen. Sachsen ist so etwas wie das Österreich Deutschlands: Früher war man ein richtiges Königreich, jetzt ist man nur noch ein kleines Bundesland. Die Geschichte Sachsens nehmen eher traditionell eingestellte Bewohner als Abfolge von Niederlagen und Demütigungen wahr: Man hat ständig Kriege verloren und Gebiete abtreten müssen, zu DDR-Zeiten musste man sich von der „preußischen“ DDR-Zentralregierung in Berlin hineinreden lassen, und dann sind auch noch nach 1945 Audi und andere Industriebetriebe in den Westen gegangen. 1990 hat die Treuhandpolitik in Sachsen besonders tiefe Wunden geschlagen, eben weil die Region eine lange Industriegeschichte hat. Der Wir-sind-zu-kurz-gekommen-Grundton, der auf den Pegida-Demonstrationen zu hören war, speist sich auch aus diesen Prägungen.
Ein Sonderfall ist Görlitz: Görlitz und Umgebung sind der einzige Teil Schlesiens, der nach 1945 nicht polnisch wurde, daraufhin dem Kurzzeit-Land Sachsen und später dem ungeliebten DDR-Bezirk Dresden angegliedert wurde. In den Antiquitäten- und Nippesläden von Görlitz ist die Schlesien-Nostalgie anschaulich zu besichtigen. Vorpommern, wo nicht nur die AfD relativ stark ist, sondern wo es auch ein großes Problem mit hartem Rechtsextremismus gibt, wurde nach 1945 abgetrennt vom größeren Rest Pommerns östlich der Oder, der polnisch wurde.
Vieles geht eigentlich aufwärts
Pommern, Schlesien, Königreich? Für Linke mag es befremdlich sein, dass solche Begriffe heute noch eine Rolle spielen sollen. Aber historische Prägungen überdauern die Zeiten, in denen sie entstanden sind. Noch lange nachdem ihre Grundlagen weggefallen sind, existieren sie fort. Und wenn, wie zu DDR-Zeiten, der Rückgriff auf die Vergangenheit tabuisiert wurde oder ihr nichts überzeugend Neues entgegengesetzt wurde, lebt der Retro-Blick weiter.
Sechs Wochen im Osten: Vor der Landtagswahl in Sachsen am 1. September 2019 war die taz in Dresden. Seit dem 22. Juli waren wir mit einer eigenen Redaktion vor Ort. Auch in Brandenburg und Thüringen sind bzw. waren wir vor den Landtagswahlen mit unserem #tazost-Schwerpunkt ganz nah dran – auf taz.de, bei Instagram, Facebook und Periscope. Über ihre neuesten Erlebnisse schreiben und sprechen unsere Journalist*innen im Ostblog und im Ostcast. Begleitend zur Berichterstattung gibt es taz Gespräche in Frankfurt (Oder), Dresden, Wurzen und Grimma. Alle Infos zur taz Ost finden Sie auf taz.de/ost.
Ganz anders ist, zum Beispiel, die Geschichte Mecklenburgs. Die Region war einmal das Armenhaus Deutschlands und bis 1918 der letzte verbliebene Feudalstaat. In Mecklenburg geht es seit 1918 eigentlich immer aufwärts; die DDR hatte später viel in die Industrialisierung investiert. Rostock, lange Zeit eher eine verschlafene Stadt, bekam den einzigen DDR-Überseehafen, der bis heute viel zum Lokalstolz beiträgt. Wenn ein Gemeinwesen von ganz unten kommt, ist es froh, dass es schrittweise besser geht, und sieht wenig Grund, nostalgisch die Vergangenheit zu verklären. Eine AfD, die an die vermeintlich gute alte Zeit appelliert, hat hier weniger zu melden.
Obwohl der Osten sich immer weiter ausdifferenziert, spielen Teile von Politik und Publizistik beharrlich die pauschale Ostkarte. Inzwischen hat sich ein richtiggehendes Ostbusiness etabliert, von dem zu viele Instutitionen und Menschen leben, um es einfach als aus der Zeit gefallen anzuerkennen und abzuschaffen. Stiftungen halten sich ihre eigenen Ostabteilungen, Parteien haben ihre Ostbeauftragten, Ostinstitutionen verteilen spezielle Stipendien, und die Bundesregierung hat einen eigenen Beauftragten für die neuen Länder. Falls Sie ihn nicht kennen: Der Mann heißt Christian Hirte. Das Ostbusiness ist ein geschlossener Kreislauf, der immer weite läuft, um seine Existenz zu rechtfertigen.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Was nötig ist: endlich anzuerkennen, dass das Konzept „Osten“ zu einer leeren Hülle geworden ist, die den Unterschiedlichkeiten nicht mehr gerecht wird. Längst ist es doch so, dass sich Schweriner oder Rostockerinnen eher als Norddeutsche definieren und StudentInnen der Viadrina-Universität in Frankfurt (Oder) als Teil einer deutsch-polnischen Grenzregion. Dass sich die wohl eher kollektivpsychologischen als materiellen Probleme einiger Sachsen nicht mit der Schablone Ost lösen lassen. Dass es BürgerInnen gibt, die mit dem Kategorisieren nach Himmelsrichtung nichts anfangen können.
Der pauschale Ost-West-Vergleich etwa bei den Wirtschaftsdaten hilft schon gar nicht weiter, weil er auf Unterschiede innerhalb des Westens und innerhalb des Ostens keine Rücksicht nimmt. Der „Deutschlandatlas“ der Bundesregierung, der im Juli erschienen ist, zeigt, dass sich zu dem Ost-West-Unterschied ein neuer Nord-Süd-Unterschied gesellt hat, wenn es etwa um die Zahl der Hartz-IV-BezieherInnen und die Arbeitslosenquote geht. Bei den Wahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen sollten die Medien darum genauer hinsehen und sich die Mühe geben, regionale Unterschiede bei den Wahlergebnissen zu erkennen. Dann wird die aus der Zeit gefallene Kategorie „Ost“ bald von selbst verschwinden.
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