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Umgang mit Missbrauch in der KircheDas ist kein Versehen

Die evangelische Kirche beschäftigt sich mit Missbrauchsfällen. Mehr Distanz zu Jugendlichen wird oft gefordert, ist aber nicht immer sinnvoll.

Ein Pastor mahnte in der Synode, das Feierabendbier allein zu trinken statt mit jungen Leuten Foto: kacheljupp/ photocase

Missbrauch ist kein rein katholisches Problem. Es gibt ihn überall, wo Menschen aufeinandertreffen und gerade dort, wo Menschen schutzbedürftig sind. Die Synode der evangelischen Kirche in Deutschland hat diese Woche diskutiert, wie sich Missbrauch in Zukunft verhindern oder zumindest besser aufarbeiten lässt – denn mittlerweile sind auch in der evangelischen Kirche rund 500 Missbrauchsfälle bekannt.

Zum Ende der Synode am Mittwoch haben die evangelischen Kirchen deshalb einen 11-Punkte-Plan mit Schutzkonzepten für Betroffene veröffentlicht. Bischöfin Kirsten Fehrs stellte ihn vor. Die Punkte beziehen sich vor allem auf die Aufarbeitung: Studien, zentrale Ansprechstellen, Seelsorge. Zentral für die Fälle, die schon bekannt sind.

Aber was ist mit dem Missbrauch, der noch kommt? Fehrs nannte einige Probleme, die die Kirche aus ihrer Sicht angehen müsse, weil sie die Hemmschwelle potentieller TäterInnen senken würden. Eins davon: die „unreflektierte Vermischung von Privatem und Dienstlichem“.

Auch deshalb mahnte ein Kantor auf der Synode, sich selbst Grenzen in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zu setzen. In der Probe zwei Meter Abstand vom Chor, das Feierabendbier für sich anstatt mit den Jugendlichen trinken. Und das Mädchen, das in der Chorprobe weint? Trösten besser die anderen Kinder. Notwendigen Trost versuche er nichtkörperlich zu vermitteln. Solche Situationen gibt es aber nicht nur im Chor. Gelten diese Regeln dann nicht auch für die Fußballtrainerin, die Mitarbeiterin im Jugendzentrum, den Dirigenten der Big Band?

Täter handeln bewusst

Diese Einstellung ist radikal. Sie stellt die Beziehung von allen, die sich für Kinder und Jugendliche engagieren, zu ihren Gruppen in Frage. Nur verändern solche Vorschläge am Ehesten das Verhalten von ohnehin schon Wohlmeinenden und Sensibilisierten – wohingegen potentielle Täter sich einfach auch weiter nicht daran halten werden. Denn: TäterInnen „rutschen“ nicht einfach in den Missbrauch hinein. Sie begehen ihn bewusst.

Auch die von Fehrs angesprochene „unreflektierte Vermischung von Privatem und Dienstlichem“ klingt nach Fällen, die der Kantor beschreibt. Zu viel Nähe zu den Schutzbedürftigen ohne böse Absicht, weil man hier nach der Arbeit noch ein Bier mit ihnen getrunken und da jemandem bei seinen Sorgen zugehört hat. Solche Nähe entsteht bei Jugendgruppen automatisch, weil ehrenamtliche Leiter für die Jugendgruppen oft mehr sind als nur professionelle Aufpasser. Sie sind gleichzeitig Ansprechpartner und Vertrauenspersonen. Das sollte aber kein Problem sein, denn es geht nicht um zu viel Nähe. Es geht um Missbrauch. Und Missbrauch ist kein Versehen.

Mehr aufeinander aufpassen

Es gibt Leiter von Jugendgruppen, die sehr eng mit den Gruppen verbunden sind. Das ist nicht automatisch die Vorstufe zum Missbrauch. Sie übertreten möglicherweise Grenzen, aber es sind andere Grenzen als beim Missbrauch und sie übertreten sie aus anderen Beweggründen. TäterInnen nutzen Nähe oft als Taktik, um emotionale Macht über die Betroffenen zu erlangen. Trotzdem – der Kantor sagt: „Mir geht es um Wachsamkeit“, und er hat recht.

Die Diskussion darum, wie viel Nähe Jugendgruppen zu den BetreuerInnen haben sollten, schärft die Aufmerksamkeit für die Taktik der TäterInnen. Bringt die LeiterInnen dazu, nochmal nachzudenken: Habe ich durch die Verbindung zu den Jugendlichen vielleicht auch andere Grenzen bei ihnen übertreten? Dann kann die Diskussion wirklich etwas erreichen – wenn sie dazu führt, mehr aufeinander aufzupassen.

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5 Kommentare

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  • So sehr ich die Schlussfolgerungen der Autorin teile, möchte ich doch darauf hinweisen, dass ihre Kritik sich im wesentlichen an den Ausführungen weniger Personen im Rahmen der Synode entzündet, die sich m.E. in den dort gefassten Beschlüssen so nicht niederschlagen.

    Dennoch sehe ich auch in europäischen Gesellschaften eine zunehmende Tendenz, jede körperliche Berührung außerhalb des familiären Umfelds in den Missbrauchskontext zu rücken. Lesenswert hinsichtlich der Folgen ist ein Artikel, den der Guardian im März veröffentlichte:



    www.theguardian.co...th-strokes-cuddles

  • „Im Rausch von Law and Order“ ist ein taz-Artikel von gestern über die Verschärfung des Polizeigesetzes überschrieben. „Härter, schärfer, doller“ soll die Staatsmacht reagieren. Man will sich halt nichts vorwerfen (lassen). Aber es sind nicht die Systeme, die versagen. Es ist immer der Mensch. Der Mensch, der falsch entscheidet, weil er die Lage verkehrt einschätzt.

    Klar, die Kirche kann die Regeln für den Umgang mit Kindern verschärfen. Nur: Das wird nichts helfen. Abschreckung funktioniert nur in der Fantasie von AfD-Funktionären – und solchen, die mit ihnen konkurrieren wollen um rechtsdrehende Wähler*innen.

    Mit Symbolpolitik ist dem Machtmissbrauch nicht beizukommen. Er ist eine bewusste Entscheidung, die Konsequenzen haben muss. Und zwar nicht für die (potentiellen) Opfer, sondern für die (realen) Täter. Wer Kinder, die Trost brauchen (den sie in ihren Familien nicht finden), vorsorglich nicht mehr in der Arm nimmt, bestraft die Falschen. Potentielle Täter schreckt so etwas überhaupt nicht ab.

    Der „Paradigmenwechsel“ hin zum präventiven Handeln, der sich seit Jahren schleichend vollzieht, ergibt nicht nur für die Polizei keinerlei Sinn. Er hilft auch den Kirchen nicht. Menschen scheitern nun mal individuell, nicht kollektiv. Nicht jeder kann der Verlockung widerstehen, die von einem Machtgefälle ausgeht. Vorherzusehen, wer es schafft und wer nicht, ist nahezu unmöglich. Vor allem, wenn der intensive persönliche Bezug fehlt. Dieses Defizit durch immer mehr und immer kompliziertere Regeln ausgleichen zu wollen, die jeder Individualität spotten, ist kontraproduktiv. Es schafft nur eine trügerische Sicherheit, die später zu Rechtfertigungsdruck führt.

    Nützt alles nichts: Die größtmögliche Sicherheit bietet konsequentes Handeln in solchen Fällen, in denen Menschen übertragenen Aufgaben nicht gewachsen waren. Aber schon klar: Wer will den ersten Stein werfen, wenn er selber in einem Glashaus sitzt?

  • Oh, nun haben wir die nächste Gefährder-Gruppe: die Kirchenmusiker. Also bei dem Dirigieren schön Abstand halten - zu den Sängern mit dem Duchschnittsalter von 65 Jahren und keinen Orgelunterricht mehr erteilen, wo man eventuell zu zweit auf der Orgelbank sitzt.

    Ach ja, und die Jugendarbeit. Wo findet die eigentlich statt? In der evangelischen Wellness-Kirche gibt es nur den sadomasochistischen Konfimandenunterricht, der dafür sorgt, dass die Jugendlichen zukünftig die Kirche meiden und nur als Kulisse für Familienfeiern gelegentlich nutzen.

    Die evangelischen Landeskirchen sind einzig und allein darauf bedacht alles in einer Harmoniegülle zu ertränken. Dann hat nämlich der Herr Pastor oder die Frau Pastorin ihre Ruhe und können sich ganz ihrem stressigen Job widmen - zwischen Altenkreis und der meditativen Tanzgruppe. Merke: "Wer es allen recht machen will, der macht es keinem recht." Leider hat das der Apostel Paulus in seiner Betriebsblindheit nicht gesehen, denn wenn er das in einem Brief geschrieben hätte, wäre es in der Kirche zumindest aktenkundig.

    Missbrauch? Na klar, es gibt den Missbrauch von Kindern auf intellektuellem Wege. Zum Beispiel durch das verpflichtende Absingen von "So gib denn Pfötchen", "Harre meine Seele", "Ich bete an die Macht der Liebe". Diese Kitschchoräle fallen unter das Jugendmedienschutzgesetz und waren zurecht verbannt aus den Gesangbüchern. Erst die Friede-Freude-Eierkuchenkommission für das neue "Evangelische Gesangbuch" hat das mit Rücksicht auf die längst verstorbenen Offizierswitwen preußischer Gloria wieder in das Gesanxbuch aufgenommen.

    Im Gegensatz zur katholischen Kirche, die auf einen Kindereinzug und -auszug zur Messe nicht verzichten kann, sind die Anlässe, wo Kinder und Jugendliche ihre peinlichsten Momente erleben, in der evangelischen Kirche streng begrenzt. Nämlich zum Krippenspiel und dem Vorstellungsgottesdienst der Konfirmanden.

    Der Missbrauch schwindet wie die Zahl der Gottesdienstbesucher - von allein.

  • Lächerliche Regeln. Die Autorin beschreibt zurecht, dass Täter diese nicht abhalten.



    Gerade im Jugenbereich gehört auch Nähe dazu: jemand der einen tröstend in den Arm nimmt oder einen Sieg abklatscht....

    • @Andi S:

      Ich erkenne einen Unterschied zwischen Abklatschen und in den Arm nehmen und genau zwischen beiden verläuft, meiner Meinung nach, eine deutliche Grenze zwischen Teilnehmenden und Leitungspersonen.

      Letzteres ist ausschließlich Sache der eigenen Kreise / Familie / peer-group, unter denen allerdings ebenfalls Missbrauch von Grenzen stattfinden kann.

      Auch darauf zu achten ist Pflicht aller Leitungs- und Schutzebenen.

      Dennoch kenne ich Extremsituationen, in denen Kinder wie Jugendliche "in den Arm fallen", weil sie Trost benötigen. Diese Perspektive bleibt zu wahren, dass eine Person von sich aus(!) für kurze(!) Zeit Hilfe beansprucht hat. Allerdings liegt in nicht wenigen Fällen eine Irritation der Leitungspersonen selbst vor und ironischerweise ließe sich eine solche Situation als Grenzüberschreitung des Kindes / Jugendlichen beschreiben.